Selbstorganisierte oder kapitalistische Globalisierung?

Christian Fuchs (christian@igw.tuwien.ac.at)

 

Beitrag für das ATTAC / SOL - Symposium "Handel(n) und Genuss", 14.-16. Juni 2002, Markt Allhau

 

Massenproduktion, Massenkonsum und Sozialstaat

 

Zweck der heutigen kapitalistischen Gesellschaft ist die Akkumulation, also Anhäufung von Kapital. Unternehmen haben die Aufgabe, Profite zu erzielen und zu vermehren. Die Herstellung von Waren und die Ausbeutung der Arbeitskräfte sind Mittel der Gewinnerzielung, die aber nicht primär den Zweck hat, die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Waren werden nicht für das Wohl der Menschen, sondern für den Profit der Wirtschaft produziert.

 

Die Warenproduktion war nach dem 2. Weltkrieg durch ein System der Massenproduktion und des Massenkonsums gekennzeichnet. D.h., um Profit zu maximieren, wurde eine Unzahl an neuen Waren produziert. Massenhaft produzierte Waren müssen konsumiert, d.h. gekauft werden, damit Profit in Händen der Unternehmen entsteht. Damit dies nach 1945 möglich wurde, musste die soziale Situation der Lohnabhängigen verbessert werden. Resultat war der Aufbau des Sozialstaats. Der Staat griff lenkend in die Wirtschaft ein, er war Investitions- und Interventionsstaat im Dienst kapitalistischer Interessen. Er kümmerte sich um die Anhebung des Lebensstandards, um massives Profitwachstum zu garantieren und sicherte so die Kapitalakkumulation; daher war er Sicherheitsstaat. Dies auch in dem Sinn, dass die Menschen einem engmaschigen Verwaltungssystem unterworfen wurden, das gewisse Notwendigkeiten wie den Massenkonsum sicherstellen sollte. Pensions-, Kranken- und Unfallversicherung sowie das Kollektivvertrags- und Sozialpartnerschaftssystem waren zwar durchwegs Resultate der Kämpfe der Arbeiterbewegung. Um die Maximierung des Profits im Rahmen von Massenproduktion und -konsum zu ermöglichen, nahmen die Unternehmen und ihre organisierten Interessensverbände jedoch auch bewusst in Kauf, dass die Löhne erhöht und Zugeständnisse wie die Etablierung des Sozialstaats gemacht wurden. Denn nur gesunde Menschen mit ausreichendem Einkommen arbeiten und konsumieren, d.h. sie produzieren Profit. In der politischen Theorie wird dieses nach 1945 die westlichen Länder prägende Modell der kapitalistischen Entwicklung auch als Einheit von fordistischem Akkumulationsregime (Fußnote 1)  („Fordismus“) und keynesianischem Regulationsmodell (Fußnote 2) („Keynesianismus“) bezeichnet, womit einerseits die ökonomische (Massen-)Produktionsweise und andererseits die politischen, staatlich-institutionellen Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation gemeint sind.

 

Der Kapitalismus in der Krise

 

Die Entwicklung des Kapitalismus verläuft nicht dauerhaft stabil, sondern ist durch strukturelle Gesellschaftskrisen gekennzeichnet. Periodisch gibt es große und kleinere Krisen, in denen die Profite relativ fallen, die Arbeitslosigkeit überproportional ansteigt, Unternehmen bankrott gehen etc. Der Kapitalismus produziert derartige Krisen, um bestehen zu können. Seit Mitte der 70er-Jahre ist das kapitalistische Weltsystem in einer strukturellen Dauerkrise (zu den genauen ökonomischen, politischen und ideologischen Ursachen siehe z.B. Fuchs 2002). Ursache dieser Krise ist nicht, wie viele glauben machen wollen, dass wir „über unsere Verhältnisse“ gelebt haben und daher der Staatsbankrott bevorstehe. Dem Kapitalismus ist es vielmehr inhärent, Überproduktion, Akkumulationsschwierigkeiten und Missverhältnisse zwischen unterschiedlichen Produktionszweigen hervorzubringen. Die Krise des Staats ist Resultat der Entwicklung des Kapitalismus nach 1945. Ohne hohe Staatsausgaben wäre dieser viel früher in eine schwere Krise geraten. Die ökonomische Dimension einer Gesellschaftskrise umfasst das Fallen der Profite. Wird die kapitalistische Wachstumsdynamik abgeschwächt, so bedeutet dies auch geringere staatliche Steuereinnahmen. Daher ist die Krise des Staates eine, die auf die Strukturen des Kapitalismus zurückzuführen ist.

 

Als Reaktion auf die anhaltenden Krisenerscheinungen wurden in den westlichen Staaten Maßnahmen eingeleitet, die zu einer Restrukturierung des kapitalistischen Weltsystems geführt haben. Es wird in diesem Zusammenhang auch vom Übergang zu einem postfordistischen Akkumulationsregime („Postfordismus“) und einer neoliberalen Regulationsweise („Neoliberalismus“) gesprochen. Wir leben heute im postfordistischen, neoliberalen und informationsgesellschaftlichen Kapitalismus (Fuchs 2001, 2002). Die Krise des Nachkriegskapitalismus resultierte in neuen Qualitäten der kapitalistischen Entwicklung wie

·        einer flexiblen Produktionsweise

·        dem Neoliberalismus und

·        nationalen Wettbewerbsstaaten (d.h. die Staaten treten miteinander in Wettbewerb um optimale Standortbedingungen für die Unternehmen).

 

Stichwort „Globalisierung“

 

Diese gesellschaftlichen Veränderungen werden häufig im Zusammenhang mit dem Stichwort „Globalisierung“ diskutiert. Die Globalisierung von Gesellschaft und Ökonomie ist kein neues Phänomen, so sprachen bereits Karl Marx und Friedrich Engels vor 150 Jahren vom Weltmarkt als einer globalen Dimension des Kapitalismus und vom Drang des Kapitals, sich auszudehnen: „Die Bourgeoisie [Fußnote 3] hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat [...] den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien [...] werden verdrängt durch neue Industrien, [...] die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. [...] An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. [...] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. [...] Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen” (Marx/Engels 1848, S. 466; vgl. weiterführend Fuchs/Hofkirchner 2001).

 

Globalisierung bezeichnet grundsätzlich die Tatsache, dass die Gesellschaften historisch betrachtet immer stärker miteinander vernetzt und aus lokaler Isoliertheit entbettet wurden; sie ist daher eine grundsätzliche Tendenz und ein allgemeiner Prozess der Menschheitsgeschichte (vgl. Fuchs/Hofkirchner 2002a). Im Kapitalismus hat die Globalisierung widersprüchliche, antagonistische (Fußnote 4) Formen angenommen. Denn sie ist in antagonistische gesellschaftliche Strukturen eingebettet: in die Ausbeutung von Arbeitskraft, die Unterdrückung und Marginalisierung bestimmter Gruppen sowie in die ungleiche Verteilung von Einkommen, Reichtum, Produktionsmitteln, Ressourcen, politischen Partizipationsmöglichkeiten, Macht und von Beteiligungschancen an der gesellschaftlichen Norm- und Wertbildung. Dies führt weltweit zur Akkumulation von Reichtum auf der einen und von Armut und prekären Lebensbedingungen auf der anderen Seite. Die weltweite Ausdehnung des Kapitalismus hat zur Schaffung und Verstärkung globaler gesellschaftlicher Probleme, d.h. zur Zerstörung von Mensch und Natur durch den Menschen, geführt. Als Reaktion auf die anhaltende Krise des Kapitalismus hat ein neuer Schub ökonomischer Globalisierung eingesetzt, der Profitwachstum durch Schlechterstellung der abhängig Beschäftigten und marginalisierten Gruppen durchsetzen soll (zu einigen ökonomischen, politischen, kulturellen und technischen Aspekten der postfordistischen Globalisierung siehe Fuchs/Hofkirchner 2002b).

 

Dieser ökonomische Globalisierungsschub bedeutet nun nicht unbedingt eine massive Zunahme des Welthandels, sondern vielmehr

·        die Schaffung neuer Rahmenbedingungen für die Anhäufung von Kapital (in der Form des zunehmenden Abbaus staatlich-regulierender Schranken und Grenzen dieser Prozesse) sowie die

·        Internationalisierung des Kapitals. Sie drückt sich als Konzentrierung des Kapitals auf die drei großen Wirtschaftsregionen Europa, USA und Südostasien aus (Triadisierung) und betrifft Welthandel sowie Kapitalexport (in Form ausländischer Direktinvestitionen).

Neben dem Ausbau von Freihandelsabkommen bedeutet dies vor allem die Durchsetzung einer neoliberalen Politik: diese setzt auf Sozialabbau, den rigiden Abbau von Budgetdefiziten, Unternehmens- und Konzernsubventionierung, Senkung von Unternehmenssteuern, Liberalisierung der Handels- und Finanzmärkte, Privatisierung, Deregulierung, Abbau von Kapitalbeschränkungen, intellektuelle Eigentumsrechte.

 

Österreich und Chile, die beiden Ausgangspunkte des Neoliberalismus?

 

Die neoliberale Ideologie nahm ihren Ausgangspunkt in der Wirtschafsphilosophie des aus Österreich stammenden späteren Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (Fußnote 5) (1899-1992) und seiner Schüler wie Milton Friedman, der sogenannten Chicago School. Sie verbreitete sich nach Erprobung im faschistischen Pinochet-Chile zunächst im angloamerikanischen Raum („Thatcherismus“, „Reagonomics“) und globalisierte sich schließlich selbst, womit sie zu jener Politikform avancierte, die heute sämtliche westliche Staaten prägt (vgl. George 1999). In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass der Neoliberalismus zur Umverteilung von unten nach oben und zur Besserstellung des Kapitals auf Kosten der Arbeitenden und Marginalisierten führt. Er funktioniert nach dem  Prinzip, dass Reiche reicher werden und Arme ärmer und stellt Profitwachstum über Menschenleben (Profit over People). Als Folge zeigt sich heute eine zunehmende Verschlechterung der sozialen Situation und Verarmung (Prekarisierung) großer Teile der Weltbevölkerung und eine Verschärfung der globalen Probleme. „Was immer man von neoliberalen Ansätzen halten mag, sicher ist, dass sie staatliche Erziehungs- und Gesundheitssysteme aushöhlen, die Ungleichheit befördern und den Arbeitnehmeranteil am Gesamteinkommen schrumpfen lassen“ (Chomsky 2000, S. 40). Der Neoliberalismus bedeutet eine „konservative Revolution. Es ist eine Restauration, die im Mäntelchen der Neuerung auftritt. Die neoliberale Botschaft ist konservativ: Arbeitet viel, ohne Garantie und Sicherheit! Es handelt sich um einen Rückschritt hin zum Unternehmertum des 19. Jahrhunderts“ (Bourdieu 2000).

 

Die Krise der Kapitalakkumulation soll dadurch gelöst werden, dass der Staat die ökonomische Dynamik wieder ankurbelt, indem er Löhne, Unternehmenssteuern und -abgaben senkt, Gewerkschaften schwächt, Arbeits- und Sozialrechte verschlechtert, Kollektivverträge abschafft, Arbeitszeiten „flexibilisiert“ usw. Die Nationalstaaten treten in einen internationalen Wettbewerb um schlechte Arbeits- und Sozialgesetze und niedrige Löhne  - in jenen Ländern, in denen es den Arbeitenden am schlechtesten geht, ist es am wahrscheinlichsten, dass sich neue Unternehmen ansiedeln. Sie werden zu nationalen Wettbewerbsstaaten (vgl. Hirsch 1995). Dem Diktat der Standortkonkurrenz ist zu gehorchen. Die Resultate sind Armut, Elend, prekäre Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse. Der Neoliberalismus führt allerdings nicht zum Ende des Staates oder dessen Schwächung, vielmehr zeigt sich eine Militarisierung der Gesellschaft in Richtung von Überwachungsstaaten mit umfassenden Kontrollmöglichkeiten. Die Verwaltung der Armut und des Elends benötigt immer  weitergreifende und die Demokratie aushöhlende Zwangsmaßnahmen, die auf die Möglichkeiten der neuen Technologien zurückgreifen (Lauschangriff, Rasterfahndung etc.).

 

Die Politik der österreichischen Regierung ist ein typischer Ausdruck des neoliberalen politischen Zeitgeists, sämtliche bereits gesetzten und für die Zukunft geplanten Maßnahmen weisen in diese Richtung. Die Unzahl neuer Gebühren und Kürzungen trifft vor allem die sozial schwachen Gruppen. Sämtliche gesellschaftliche Bereiche werden der Logik des Profits rigoros unterworfen, so ist etwa durch die Reform des ASVG die Sozialversicherung zu einem Spielball der Wirtschaft geworden (und dies kann ihr Ende bedeuten) und durch das neue Universitätsorganisationsgesetz bekommen Wirtschaftsinteressen starken Einfluss auf Bildungspolitik und Universitätsorganisation (gemeinsam mit Studiengebühren bedeutet dies das Ende des freien Hochschulzugangs, bestimmter Studien und der Freiheit von Forschung und Lehre). Zum Neoliberalismus hinzu kommt eine autoritäre Linie, die sich etwa äußert im Versuch der Zerschlagung der Gewerkschaften (siehe die Demontage des ehemaligen Präsidenten der Sozialversicherung Sallmutter und die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft) oder diversen Wortmeldungen zu potentiellen Maßnahmen, die demokratische Freiheiten und Grundrechte einschränken könnten. Der Neoliberalismus führt allgemein zu einem neuen Schub der Durchkapitalisierung der Gesellschaft und zur Unterminierung demokratischer Rechte. Diese global dominante Politik äußert sich in lokalen und regionalen Zusammenhängen, in Österreich im Rahmen einer extrem restriktiven und autoritären Form.

 

Globalisierung der Politik und neue Protestbewegungen

 

Als Reaktion auf die neoliberale und kapitalistische Form der Globalisierung sind weltweit und miteinander vernetzte Protestbewegungen entstanden. Dabei handelt es sich m.E. nicht um eine „Anti-Globalisierungs-Bewegung“, sondern um eine antikapitalistische Bewegung, die durchwegs für eine nachhaltige, demokratische und humane Form der Globalisierung eintritt.

Diese Protestbewegungen selbst sind Ausdruck der Globalisierung der Politik: Die politische Dimension der kapitalistischen Globalisierung bedeutet einerseits die Zunahme des Einflusses großer Konzerne und ökonomischer Interessensorganisationen auf globale politische Entscheidungen und der Bedeutung global agierender neoliberaler und militärischer Interessensorganisationen (WTO, IWF, G8, NATO), die auf die Durchsetzung einer auf ökonomische Interessen konzentrierten Weltpolitik orientiert sind. Daraus resultiert auch eine Entfremdung der Entscheidungszusammenhänge, mit der die Menschen heute weltweit zu kämpfen haben: Menschen werden mit für sie bindenden Entscheidungen konfrontiert, die weitab ihrer Einflusssphäre getroffen werden und die ihnen vielfach als anonyme Mächte entgegentreten. Politische Globalisierung bezeichnet aber nicht nur über den Nationalstaat hinausgehende, überstaatliche politische, ökonomische und militärische Bündnisse herrschender politischer und ökonomischer Gruppen, sondern meint andererseits auch die durch die soziale, kommunikative und technische Vernetzung gegebene Möglichkeit der gemeinsamen politischen Organisierung von Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen.

 

Die neuen Protestbewegungen stehen für die begründete, tätige Hoffnung auf eine freie, demokratische Gesellschaft, ein radikales Befreiungs- und Praxispotential scheint wieder aktuell zu werden. Das, was der marxistische Philosoph Herbert Marcuse über die 68er-Bewegung meinte, lässt sich heute auch über die neuen Protestbewegungen feststellen (vgl. dazu und zur Aktualität des Denkens Marcuses Fuchs 2002b), nämlich dass diese „die Idee der Revolution dem Kontinuum der Unterdrückung entzogen [haben] und sie mit ihrer wahren Dimension verknüpft [haben] – der von Befreiung“ (Marcuse 1969, S. 243). Sie stehen für ein antizipierendes und das bestehende falsche, kapitalistische Universum transzendierendes Bewusstsein, das sich äußert in der Sehnsucht nach Freiheit und Glück; Kategorien, die heute noch nicht existieren, die im Kapitalismus nicht erreicht werden können und die es erst zu erkämpfen gilt.

Die neuen Bewegungen sind vielfach auch gekennzeichnet durch den Mangel an einer umfassenderen politischen Perspektive, einer Einheit in der Vielfalt jenseits eines heterogenen Nebeneinanders. Immer deutlicher zeigt sich heute, dass der Kapitalismus keine tragbare Alternative mehr darstellt, er gefährdet vielmehr das Überleben der Menschheit immer stärker. Ein stärker auf staatliche und internationale Regulation der Märkte und Rahmenbedingungen der Ökonomie orientierter Kapitalismus, sozusagen eine Art Neokeynesianismus, könnte möglicherweise größere Katastrophenschübe kurzfristig verhindern, aber keine dauerhafte stabile und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung sowie eine Lösung der globalen Probleme gewährleisten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jede Form von Kapitalismus auf strukturellen (antagonistischen) Widersprüchen basiert, die nicht einfach auflösbar sind und zu Gesellschaftskrisen führen und sich darin äußern, dass die Besserstellung der einen die Schlechterstellung der anderen bedeutet. So können etwa Reformen und Regulationen der Finanzmärkte die Herrschaft des Kapitals limitieren, diese jedoch nicht abschaffen. Die ungerechten globalen Tauschverhältnisse können zwar politisch etwas abgeschwächt werden, dies ändert jedoch nichts am grundsätzlichen Prinzip der Produktion gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und ungleicher Verteilungsverhältnisse durch jede Form des Tausches (auch im Rahmen von Tauschkreisen und geldlosem Tausch). Befriedigend und längerfristig sinnvoll wäre nur die Installation einer neuen globalen Weltgesellschaft, die allen Menschen Luxus, Freiheit, Glück, ein Maximum an freier Zeit, Muße, Gesundheit, Frieden, soziale Sicherheit, Leben in Einklang mit dem sozialen und ökologischen Umfeld, Befriedigung der objektiven und subjektiven Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, Freiheit von Ausbeutung, Gewalt, Kontrolle und Herrschaft, Partizipationsmöglichkeiten, Individualität, Solidarität, Ausdrucksmöglichkeiten, Phantasie, Entspannung, Vergnügen sowie Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der geistigen Betätigung und des phantasievoll-kreativen Denkens bietet. Im Rahmen jeder Form des kapitalistischen Weltsystems ist dies nicht zu erreichen.

 

Einheit in der Vielfalt: Die Organisations- und Protestformen der neuen Bewegungen

 

Die vielfach spontanen, dezentralen, basisdemokratischen, vernetzten und selbstorganisierten Organisations- und Protestformen der neuen Bewegungen nehmen möglicherweise vorweg, wie eine freie Gesellschaft aufgebaut sein könnte, nämlich als Zusammenhang umfassender demokratischer Partizipation in allen Lebensbereichen. Partizipation und Demokratie meinen dabei: die Menschen treffen alle Entscheidungen, die für sie von Bedeutung sind, selbst, direkt und unmittelbar gemeinsam. Eine freie Gesellschaft benötigt keinen Zwang und keinen Tausch, es ist möglich, dass jeder freiwillig nach seinen Fähigkeiten tätig ist und jene Güter gratis bekommt, die er seinem eigenen Ermessen nach benötigt. Marx bezeichnete dies als das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx 1875, S. 21). Der Einsatz moderner und schonendster Technologien könnte es in einer freien Gesellschaft ermöglichen, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein Minimum reduziert wird und ein Maximum an freier Zeit entsteht, also ein „Daseins in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse“ (Marcuse 1967, S. 242). Würde nicht mehr nach Profitentscheidungen, sondern auf Basis des tatsächlichen gesellschaftlichen Bedarfes produziert, so wäre das Leben der Menschen nicht mehr durch die Arbeit bestimmt und entfremdet. Es wäre bei einem Maximum an freier Zeit viel einfacher möglich, sich selbst zu sein und sich solidarisch gegenüber anderen zu verhalten. Eine freie Gesellschaft wäre die umfassende Selbstorganisation und Selbstbestimmung des menschlichen Daseins. Kapitalistische Formprinzipien wie Ausbeutung, Ware, Profit, Konkurrenz, Markt, Staat, Herrschaft, Ware und Tausch sind damit unvereinbar.

 

Sich gegen die kapitalistische Form der Globalisierung und für eine humane Form der Globalisierung auszusprechen verneint m.E. einen Isolationismus und lokale bzw. nationale Beschränktheiten. So besteht nämlich etwa die Attraktivität einer undifferenzierten Globalisierungskritik für Rechtsradikale gerade auch im Prinzip der Nation und des Lokalen an Stelle der Globalität. Es besteht ein funktionaler Zusammenhang zwischen Nation, Volk, Rassismus und Ausgrenzung. Jeder Nationalstaat und jede abgeschlossene Organisationsform produziert Stereotypen, Feindbilder und Ausgrenzungen. Diese Perspektiven gilt es m.E. gerade durch eine demokratische und humane Form der Globalisierung zu vermeiden.  Darunter verstehe ich die Alternative einer solidarischen, vernetzten, offenen, globalen Gesellschaft. Eine solche würde auf dem Prinzip der Einheit in der Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen basieren (vgl. dazu Fuchs/Hofkirchner 2002a).

 

Einerseits ist es möglich, dass sich freie Menschen in dezentralen Einheiten mit freier Zugehörigkeit, partizipatorischen Entscheidungszusammenhängen und freien Vereinbarungen jenseits der territorialstaatlichen Abgeschlossenheit und nationalen Identitätsbildung vernetzt assoziieren. Andererseits ist es weder realistisch, noch wünschenswert, dass freie Assoziationen rein lokal und voneinander isoliert leben: Es gibt in jeder Gesellschaftsform Entscheidungsfragen, die über das Lokale hinausgehen, in einer globalen Gesellschaft existieren also immer auch globale Fragen, für die sich grundsätzlich auch  partizipatorische Entscheidungs- und Kommunikationszusammenhänge finden lassen. Freiheit inkludiert auch Solidarität und Wohlstand für alle, was auch bedeutet, dass der lokale Horizont mit Hilfe des Prinzips einer globalen, freiwilligen gegenseitigen Hilfe ohne Pflicht und Tausch überschritten werden sollte. Eine humane Form der Globalisierung sollte daher auch eine solidarische Weltökonomie umfassen, die eine umfassende materielle und soziale Versorgung der Weltbevölkerung ermöglicht. Dies würde auch heißen, dass Menschen, die es aufbringen können, andere gratis mit dem versorgen, was deren Bedürfnissen entspricht und sie nicht selbst durch ihre Tätigkeiten schaffen können. Und dies auf lokaler, regionaler und globaler Ebene. Durch eine allgemeine Solidarität erleichtern sich die Menschen ihr eigenes Dasein auf höherer Stufenleiter.

 

Das Prinzip, nach dem die neuen Protestbewegungen m.E. vielfach funktionieren, ist jenes der gesellschaftlichen, vernetzten Selbstorganisation (vgl. Fuchs 2001). Es geht dabei um den Protest gegen Fremdbestimmung, das Eintreten für humanistische und demokratische Ideale und den Kampf für die Besserstellung der durch die bestehende Gesellschaftsordnung Benachteiligten. Für viele ist dies wohl auch Ausdruck der Sehnsucht nach einer Ordnung, in der nicht Autoritäten über Menschen, sondern die Menschen umfassend über sich selbst bestimmen sowie der Bereitschaft, selbst für humane Ziele, für sich selbst und andere einzutreten. Selbstorganisation ist auch Selbstbetätigung und Selbst-Werdung. Eine umfassende Selbstorganisation vieler in Einheit für eine bessere Welt wäre die Basis einer Demokratisierungs- und Humanisierungsbewegung. Die neuen Protestbewegungen sind mögliche Anfänge eines neuen Prinzips umfassender gesellschaftlicher Selbstorganisation, die es zu verstärken und auszuweiten gilt. Der Globalisierung der Gesellschaft von oben in der Form fremdbestimmter und totalitärer Zusammenhänge kann das Prinzip einer Globalisierung von unten (vgl. Mies 2001) in der Form selbstorganisierter Zusammenhänge entgegengesetzt werden.

 

Selbstorganisation als umfassendes gesellschaftliches Prinzip ist zwar ein Noch-Nicht, nichtsdestotrotz aber ein In-Möglichkeit-Seiendes, das es zu realisieren gilt, um die globalen Probleme zu lösen und das Menschsein in allen Zügen und Genüssen weltweit allen zu ermöglichen. Der Kampf für die Entschuldung der Dritten Welt, die Limitierung der Kapitalherrschaft, Arbeitszeitverkürzungen, ein Grundeinkommen etc. sind m.E. sinnvolle und wichtige Etappen auf dem Weg zum möglichen Ziel. In der sich globalisierenden Welt sind Lokales und Globales eng miteinander verkoppelt, das Globale beeinflusst immer stärker lokale Zusammenhänge, lokale Ereignisse werden z.T. (vor allem über die Massenmedien und neuen Technologien) zu global erfahrbaren Phänomenen.

 

Eine vernetzte, solidarische Weltgesellschaft ist möglich

 

Möglich und sinnvoll ist es nicht nur, global zu denken und lokal zu handeln, sondern auch global vernetzt und für eine globale Gesellschaft umfassender Selbstorganisation tätig zu sein. Eine vernetzte, solidarische Weltgesellschaft ist möglich. Ihre potentiellen Konturen werden durch die Prinzipien der Selbstorganisation und Vernetzung, die die neuen Protestbewegungen an die Tagesordnung bringen, in Ansätzen sichtbar. Gesellschaftlicher Fortschritt bedeutet heute ein „noch nicht Erreicht-Vorhandenes“ (Bloch 1963, S. 143), das es zu erkämpfen gilt. Dieses Noch-nicht des qualitativen menschlichen Fortschritts heißt auch, dass der Mensch „noch gar nicht gegenwärtig“ (Bloch 1963, S. 217) und „etwas ist, was erst noch gefunden werden muss“ (Bloch 1930, S. 32). Mensch-Sein bedeutet vor allem auch sich selbst sein können, was heute nur wenigen möglich ist. Humanisierung scheint heute bereits vereinzelt auf, ihre Realisierung bedarf der umfassenden Selbstorganisation der humanen Interessen und des umfassenden Interesses nach humaner Selbstorganisation.

 

Man sollte sich den „Traum von einer Sache“ (Marx 1843, S. 346), die Utopie  einer gerechten Gesellschaft aufrecht erhalten. Diese ist angesichts des erreichten Standes der materiellen und technischen Bedingungen heute bereits konkret und realistisch. Darauf kann sich Hoffnung gründen; eine Hoffnung, die tätige und selbstorganisierte Hoffnung auf eine globale, solidarische Gesellschaft sein soll und darf. Der Lauf der Geschichte ist prinzipiell offen, aber abhängig vom aktiven Handeln der Menschen. Möglich und realistisch ist eine selbstorganisierte an Stelle einer kapitalistischen Globalisierung und darauf gründet sich auch das immer noch aktuelle Diktum des marxistischen Philosophen Ernst Bloch: „Wenn die Umstände die Menschen bilden, dann müssen die Umstände menschlich gebildet werden“.

 

Fußnoten:

 

1 benannt nach dem US-amerikanischen Autohersteller Henry Ford (1863-1947)

 

2  benannt nach dem britischen Ökonomen und Politiker John Maynard Keynes (1883-1946), dem theoretischen Begründer der fordistischen Wirtschaftspolitik.

 

3 Bürgertum, d.h. die soziale Schicht der freien Unternehmer(innen) und Selbstständigen.

 

4 Die philosophische Lehre der Dialektik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) versteht unter einem Widerspruch einen Gegensatz zwischen zwei Begriffen, die sich gleichzeitig auch bedingen (wie z.B. Leben und Tod). Die Welt und ihre Veränderung werden in der Dialektik verstanden als die Existenz und Entwicklung von Widersprüchen. Ein Antagonismus ist eine spezielle Art von Widerspruch, nämlich ein kollidierender Gegensatz, der nicht ohne weiteres lösbar ist. Karl Marx (1818-1883) hat die Hegelsche Dialektik zum Dialektischen Materialismus ausgebaut: Er begreift den Kapitalismus als gekennzeichnet durch grundsätzliche Antagonismen zwischen z.B. Arm und Reich, Besitzenden und Besitzlosen, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Kapital und Arbeit usw. Die Lösung (Hegel und Marx sprechen von „Aufhebung“) eines Antagonismus ist nur durch die grundlegende Veränderung der Strukturen möglich, in die er eingebettet ist und die er konstituiert. Widersprüche gibt es immer, Antagonismen sind vergänglich. Antagonismen entstehen „aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen“ (Marx 1858/59, S. 9), also heute aus deren Leben im Kapitalismus.

 

5 Hayek’s Weltsicht sei exemplarisch verdeutlicht: Auf die Frage „Lehnen Sie auch eine internationale Umverteilung zugunsten der Entwicklungsländer ab?“, antwortete er in sozialdarwinistischer und rassistischer Manier: „Ja, sicher. Sehen Sie, in den nächsten 20 Jahren soll sich die Weltbevölkerung erneut verdoppeln. Für eine Welt, die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung aber unlösbar. Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen die Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, nämlich dass sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch ernähren können“ (Wirtschaftswoche, 6.3.1981). Für Hayek bedeutet Freiheit die Freiheit des Einzelnen, seine eigenen Ziele am Markt zu verfolgen. Dass Unfreiheit über gesellschaftliche Strukturen transportiert wird, spielt für ihn keine Rolle. So meint er etwa, dass auch ein Arbeitsloser frei sei, denn er habe die Freiheit zu verhungern: „Auch wenn ihn selbst und vielleicht seine Familie die Gefahr des Hungers bedroht und ihn zwingt, eine ihm widerwärtige Beschäftigung für einen sehr geringen Lohn anzunehmen und er der Gnade des einzigen Menschen ausgeliefert ist, der bereit ist, ihn zu beschäftigen, so ist er doch weder von diesem noch von irgend jemand anderem in unserem Sinne gezwungen. Solange die Handlung, die seine Schwierigkeiten verursacht hat, nicht bezweckte, ihn zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen zu zwingen, solange die Absicht der Handlung, die ihn schädigt, nicht die ist, ihn in den Dienst der Ziele eines anderen zu stellen, ist ihre Wirkung auf seine Freiheit keine andere als die einer Naturkatastrophe - eines Feuers oder einer Überschwemmung, die sein Heim zerstört, oder eines Unfalles, der seine Gesundheit schädigt.“ (Hayek 1969).

 

Literatur:

 

Bloch, Ernst (1930) Spuren. Frankfurt/Main. Suhrkamp

 

Bloch, Ernst (1963) Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt/Main. Suhrkamp

 

Bourdieu, Pierre (2000) Der Neoliberalismus ist konservativ. Will Gegenfeuer legen: Pierre Bourdieu sieht im Neoliberalismus eine Gefahr für Europa. Interview. In: Tagesanzeiger, 20/5/2000

 

Chomsky, Noam (2000) Profit over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung. Hamburg/Wien. Europaverlag

 

Fuchs, Christian (2001) Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Norderstedt. Libri BOD

 

Fuchs, Christian (2002) Krise und Kritik in der Informationsgesellschaft. Norderstedt. Libri BOD

 

Fuchs, Christian (2002b) Zur Aktualität ausgewählter Aspekte des Werks Herbert Marcuses. In: Fuchs (2002a), S. 20-67

 

Fuchs, Christian/Hofkirchner, Wolfgang (2001) Theorien der Globalisierung. In: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 48. http://cartoon.iguw.tuwien.ac.at/christian/globalisierungz.html

 

Fuchs, Christian/Hofkirchner, Wolfgang (2002a) Globalisierung – ein allgemeiner Prozess der Menschheitsgeschichte. In: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 49

http://cartoon.iguw.tuwien.ac.at/christian/globalisierungz2.html

 

Fuchs, Christian/Hofkirchner, Wolfgang (2002b) Postfordistische Globalisierung. In: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 50 (im Erscheinen)

http://cartoon.iguw.tuwien.ac.at/christian/globalisierungz3.html

 

George, Susan (1999) Eine kurze Geschichte des Neoliberalismus. Zwanzig Jahre einer elitären Volkswirtschaftslehre und Chancen für einen Strukturwandel. In: Netzwerk gegen Konzernherrschaft und neoliberale Politik (1999) Infobrief, Nr. 1.

http://www.geocities.com/CapitolHill/Embassy/8417/sg1.htm

 

Hayek, Friedrich August (1969) Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. In: ders. (1969) Freiburger Studien. Tübingen. Mohr. S. 108-125

 

Hirsch, Joachim (1995) Der nationale Wettbewerbsstaat. Berlin. Edition ID Archiv

 

Marcuse, Herbert (1967) Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München. dtv. Neuauflage 1994

 

Marcuse, Herbert (1969) Versuch über die Befreiung. In: Herbert Marcuse Schriften 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 237-317

 

Marx, Karl (1843) Brief an Ruge. In: Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern. MEW. Berlin. Dietz. Band 1. S. 337-346

 

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848) Manifest der Kommunistischen Partei. MEW. Berlin. Dietz. Band 4. S. 459-493

 

Marx, Karl (1858/59) Zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin. Dietz. MEW, Band 13. S. 3-160

 

Marx, Karl (1875) Kritik des Gothaer Programms. In: MEW, Band 19. Berlin. Dietz. S. 13-32.

 

Mies, Maria (2001) Globalisierung von unten. Der Kampf gegen die Herrschaft der Konzerne. Hamburg. Rotbuch

 

 

Dr. Christian Fuchs ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der Technischen Universität Wien. Er ist Autor von „Krise und Kritik in der Informationsgesellschaft“ (2002) und „Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus“ (2001)