Die Bedeutung der Fortschrittsbegriffe von Marcuse und Bloch im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus

Christian Fuchs (christian@igw.tuwien.ac.at)

In: Utopie Kreativ, H. 141/142 (Juli/August 2002), S. 724-736

 

Abstract

Progress has traditionally been associated with the increase of productivity and the development of human history. Herbert Marcuse and Ernst Bloch have shown how such linear conceptions of progress fail to explain that in capitalism the ideology of quantitative progress has not brought qualitative human progress, but has resulted in global problems and destructive forces. Marcuse and Bloch do not consider history as automatically progressive, progress is a possibility, but one that has yet to be established. This view has been strengthened by the recently emerging theories of chaos and self-organisation. With the rise of modern technologies, the material conditions for social progress in the sense of a realm of freedom have been reached, but society is still scattered by the permanent capitalist catastrophe and the containment of social change.

 

Theodor W. Adorno bemerkte 1968, daß die Gesellschaft auf dem Stand der Produktivkräfte Industriegesellschaft, auf jenem der Produktionsverhältnisse Kapitalismus sei (Adorno 1968: 361). Dieser Einschätzung folgte Herbert Marcuse, der jedoch von der fortgeschrittenen Industriegesellschaft sprach, die in ihrem Fortschreiten auch das Denken des Menschen ergriffen habe und sich u.a. auszeichne durch die Unterbindung sozialen Wandels (Marcuse 1967: 14), Unterdrückung der Individualität (21), politische und geistige Gleichschaltung (21), Unterdrückung wahrer Bedürfnisse und wahren Bewusstseins (27), technologische Rationalität bzw. instrumentelle Vernunft (159ff), Ausweitung der Herrschaft über Mensch und Natur (37), Automation (56), Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat (68ff), mystifizierende Rationalisierung des Irrationalen (203f), Dominanz einer eindimensionalen Sprache (103ff) sowie falsche Bedürfnisse und falsches Bewusstsein (25).

Inzwischen sind weitere gesellschaftliche Differenzierungen erfolgt, die es uns erlauben, auf der Basis der Produktivkräfte von der Informationsgesellschaft zu sprechen, da Wissen zu einem immer bedeutenderen Produktionsfaktor wird und die industrielle Wertproduktion immer stärker darauf beruht. Die Strukturprinzipien und gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus bleiben erhalten, es zeigen sich jedoch auch neue Eigenschaften in Ökonomie, Politik, Kultur und Technik (vgl. Fuchs 2002a: S. 114-158) – wir haben es mit einer Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität zu tun.

Ziel dieses Aufsatzes ist es, mit Rückgriff auf Herbert Marcuse und Ernst Bloch zu verdeutlichen, was Fortschritt heute und auf die Realität des informationsgesellschaftlichen Kapitalismus bezogen bedeuten kann. Dazu wird zunächst zwischen einer deterministischen Fortschrittsideologie und einem qualitativen Fortschrittsbegriff unterschieden, im Anschluß daran werden die Fragen behandelt, ob Geschichte unvermeidlich fortschrittlich verläuft und welcher Zusammenhang zwischen Fortschritt und menschlicher Triebstruktur besteht und zum Abschluß wird ein Ausblick gegeben .

 

Der Fortschrittsbegriff

 

Fortschritt wird in der Regel entweder ausschließlich als Chance (Fortschrittsoptimismus) oder als Risiko (Fortschrittspessimismus) verstanden, außer Acht bleibt dabei die Dialektik des Fortschritts, die sich darin äußert, daß auf einem bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstand häufig Chancen und Risiken sowie positive Möglichkeiten und negative Entwicklungen nebeneinander bestehen. Vor allem der ungebremste Fortschrittsoptimismus ist heute falsche Spiegelung der Welt und ideologischer Nebel. Er basiert auf einem quantitativen Fortschrittsbegriff.

Bereits Gramsci (1971: 357) wies darauf hin, daß Fortschritt heute eine Ideologie ist.

Diese behauptet, daß im Lauf der Menschheitsentwicklung (trotz Rückschlägen und Perioden der Regression) die menschlichen Kenntnisse und Fähigkeiten wachsen und immer universaler werden (Marcuse 1957a: 35), und dies im Ansteigen gesellschaftlichen Reichtums resultieren würde.

Ein quantitativer Fortschrittsbegriff ist charakteristisch für die Wachstumsideologie des Kapitalismus, die davon ausgeht, daß aus dem quantitativen Wachstum der Produktivität automatisch gesellschaftlicher Fortschritt entsteht. Die heute dominante Fortschrittsideologie ist somit eine des technischen Fortschritts, technischer und gesellschaftlicher Fortschritt werden als Einheit dargestellt.
Unzählige Beispiele für diese Ideologie lassen sich gerade auch in bezug auf die Informatisierung der Gesellschaft in Wissenschaft, Politik, Management und Medien finden. So meinte etwa Gerhard Schröder: „Wir wollen und werden den Fortschritt, den die Industriegesellschaft durch Information und Kommunikation machen kann, so gestalten, daß er den Menschen in Europa zugute kommt. Wir werden dafür sorgen, daß dieser Fortschritt  übrigens genauso wie seinerzeit der Fortschritt von der Agrar- zur Industriegesellschaft  zu mehr Wohlstand und einer besseren Lebensqualität für die Menschen in Europa führt“ (Regierungserklärung Gerhard Schröder am 6. April 2000). Ähnlich die Progress & Freedom Foundation: „The foundation embraces the idea of progress – i.e., the belief that Mankind has advanced in the past, is presently advancing, and will continue to advance through the foreseeable future. And it believes that the sort of progress brought about by the digital revolution is inherently favourable to enhanced human individuality and freedom“ (Mission statement of the PFF).
Eine spezifische Wendung der Fortschrittsideologie hat im Neoliberalismus stattgefunden. Es wird nun vielfach argumentiert, daß sich sozialer Fortschritt durch die neuen Technologien nur dann ergebe, wenn eine Deregulierung staatlicher Intervention und der Arbeits- und Sozialgesetzgebung stattfände (siehe dazu z.B. PFF 1994). Der Neoliberalismus bedeutet jedoch nicht gesellschaftlichen Fortschritt, sondern die Ausweitung von Unfreiheit und Unglück.
Der Fortschrittsbegriff wird immer wieder benutzt, um Herrschaft und Ausbeutung zu rechtfertigen. Einzelne Bevölkerungsgruppen oder Regionen (Indigenas, Frauen, die Dritte Welt etc.) werden im Vergleich mit einem als fortschrittlich präsentierten Maßstab (zumeist die weiße, patriarchal-kapitalistische Welt) als zurückgeblieben definiert und daraus das "Recht" abgeleitet, die Lebensverhältnisse dieser Menschen in bestimmter Weise durch direkte oder strukturelle Gewalt umzugestalten und den Fortschritt auch „den Zurückgebliebenen“ zugänglich zu machen. Tatsächlich wird so nicht Fortschritt, sondern Unglück und Leid transportiert. Mit der Kategorie des Fortschritts ist aus diesem Grund vorsichtig umzugehen. Fraglich ist, ob die heutige Welt, die durch scharfe globale Probleme gekennzeichnet ist, als fortschrittlich bezeichnet werden kann. Wenn Fortschritt „eine ganze bessere Erde“ (Bloch 1963: 146) bedeuten soll, an der alle Anteil haben, so ist dieser heute tatsächlich nicht gegeben. Ein qualitativer Fortschrittsbegriff faßt Fortschritt als Rückgang und Emanzipation von Sklaverei, Willkür, Unterdrückung, Leid, Mangel, Unglück, Unfreiheit, Fremdbestimmung und Not. Qualitativer Fortschritt ist immer auch „von den Möglichkeiten bestimmt, die menschliche Lage zu verbessern“ (Marcuse 1967: 36).

Weiterhin ist Fortschritt immer nur zu Denken als Vergleichsmaßstab zwischen zwei Zuständen. Gesellschaftlicher und menschlicher Fortschritt scheint uns dann gegeben, wenn ein Entwurf vorhanden ist oder ein Zustand eintritt, in dem die Errungenschaften der Zivilisation verbessert werden und der Befriedigung der Bedürfnisse der gesamten Menschheit größere Chancen geboten werden. Dies umfaßt Wohlstand, ein Maximum an freier Zeit, Luxus, Muße, Gesundheit, Frieden, soziale Sicherheit, Leben in Einklang mit dem sozialen und ökologischen Umfeld, Befriedigung der objektiven und subjektiven Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, Freiheit von Ausbeutung, Gewalt, Kontrolle und Herrschaft, Partizipationsmöglichkeiten, Individualität, Solidarität, Ausdrucksmöglichkeiten, Phantasie, Entspannung, Vergnügen sowie Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der geistigen Betätigung und des nichtoperationalen Denkens für alle Menschen. Synonyme Begriffe für diesen qualitativen, menschlichen Fortschritt sind gesellschaftliches Glück, Reich der Freiheit und Wahrheit. Dieser humanitäre Fortschritt ist heute nicht gegeben, er ist ein Noch-Nicht, das es erst zu realisieren und zu erkämpfen gilt.

Ein spezifischer Antagonismus des Kapitalismus besteht nun darin, daß der quantitative Fortschritt der Produktivkräfte im Sinn der Reduktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eine durchweg positive Errungenschaft ist, die eine Vorbedingung für das Reich der Freiheit darstellt, daß dieser Fortschritt im Kapitalismus aber nicht mit qualitativem menschlichen Fortschritt korrespondieren kann. Durch die Informatisierung der Gesellschaft verschärft sich dieser Antagonismus weiter, er ist nur durch grundlegenden sozialen Wandel aufzuheben.

Wir verfügen heute über die technischen und organisatorischen Möglichkeiten, um eine bessere Welt als konkrete Utopie auf die Tagesordnung zu setzen, doch zugleich schlagen die Produktivkräfte gleichzeitig in Destruktionskräfte um, die zu einer immer stärkeren Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur führen. Die „radikal fortschrittlichen Möglichkeiten“ bestehen darin, daß die Menschheit die historische Stufe erreicht hat, in der eine „Welt des Friedens [...] – eine Welt ohne Ausbeutung, Elend und Angst“ (Marcuse 1965: 123) möglich ist. Die Vollendung des technischen Fortschritts könnte heute „zum inneren Ziel aller Technik führen, nämlich zur Beseitigung von Mangel und schwerer Arbeit“ (Marcuse 1964: 21, zum Technikbegriff  Marcuses vgl. detailliert Fuchs 2002b). Fortschritt sei heute nur als ein Umschlag von Quantität in Qualität zu haben, der eine neue menschliche Wirklichkeit eröffnen würde. Die neue Qualität des Fortschritts wäre die Umkehrung des Verhältnisses von Arbeitszeit und Freizeit (Marcuse 1964: 18). Die konkrete Utopie des Reichs der Freiheit hat für Marcuse und Bloch Muße als Ziel, Entfremdung sowie die Unterschiede zwischen Hand- und Kopfarbeit, Land und Stadt und zwischen Arbeit und Freizeit würden verschwinden (Bloch 1959: 1080). Fortschritt benötige immer einen Sinn, und dieser sei das Reich der Freiheit (Bloch 1963: 144).

Eine freie Gesellschaft, so Marcuse und Bloch, müßte jedoch auch eine andere Technik entwickeln (Marcuse 1967: 238). Eine solche Änderung würde einen „grundlegenden sozialen Wandel bedeuten“ (Marcuse 1965: 125). Die Technik müßte dazu zwar nicht vollständig erneuert werden, da sie auch schon heute Bedürfnisbefriedigung und die Verringerung harter Arbeit ermöglicht, doch wäre ihr Umbau notwendig, um ihre affirmativen, antagonistischen und destruktiven Aspekte abzustoßen. An die Stelle der „Überlistertechnik” (Bloch 1959: 783f) trete dann, so Bloch, die „Allianztechnik” und der Mensch könne in ein nichtausbeuterisches Verhältnis zu sich selbst und zur Natur treten. Dies wäre eine Technik, die es dem Menschen erlauben würde, sein Verhältnis zur Natur zu verändern. In einer nicht auf Profit orientierten Wirtschaft könne sie menschliche Arbeit ersparen und den Mensch entlasten (Bloch 1959: 1055).

Während heute also im bestimmten Sinn einige Anlagen des gesellschaftlichen Fortschritts gegeben sind, ist der Kapitalismus zugleich permanente Katastrophe. Damit ist aber nicht gesagt, daß das Reich der Freiheit nur durch ein kapitalistisches Durchgangsstadium und den damit einhergehenden Blut- und Schweißzoll von Millionen zu erreichen ist, denn technischer Fortschritt wäre durchweg auch unter Abwesenheit der Konkurrenz-, Profit- und Warenorientierung möglich. Die militärische Weiterentwicklung von Technologien hat deren Entwicklungsprozeß oftmals beschleunigt. Ich gehe aber nicht davon aus, daß es ohne diese militärische Komponente etwa nicht zur Entwicklung des Computers oder des Internets gekommen wäre, denn die Technikgenese ist ein komplexer Prozeß, der sich nicht auf einem einzig möglichen Weg durchsetzen kann, sondern durch das Zusammenspiel vielfältiger Faktoren und Institutionen möglich wird. Eventuell hätten sich beide Technologien langsamer und auf andere Weise entfaltet. Der militärisch-ökonomische Komplex determiniert nicht die Technikentwicklung, obwohl er heute natürlich ein wesentlicher Einflußfaktor ist.

Es scheint also „der immer intensivere [technische] Fortschritt mit einer Intensivierung der Unfreiheit verknüpft zu sein“ (Marcuse 1957b: 11). Die Ausweitung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und der Zerstörung der Natur nehmen in der Tat immer höhere Ausmaße an. Mit den verbesserten Möglichkeiten menschlichen Daseins korrespondiert die Permanenz von Katastrophe und Barbarei. Diese hat sich im 20. Jahrhundert u.a. geäußert in Massenvernichtung, Weltkriegen, der Gefahr ultimativer Vernichtung, der zunehmenden Verschärfung der globalen Probleme, ansteigender Prekarisierung immer größerer Teile der Weltbevölkerung (vor allem in den letzten 20 Jahren), militärischer Interessensdurchsetzung und -verteidigung, Naturzerstörung im immer größeren Ausmaß, Totalitarismus des Staates im Osten und des Marktes im Westen sowie dem weltweiten Siegeszug des letzten nach dem Umbruch. Die kapitalistische Gesellschaftsformation bedeutet daher nicht menschlichen Fortschritt, sondern menschliche Katastrophe.

Diese Ambivalenz des Fortschritts wurde von Marcuse und Bloch beschrieben, die sich beide gegen unkritische Fortschrittsideologien und gegen die Annahme eines Determinismus des Fortschritts wendeten. Tatsächlich habe im Kapitalismus die „Zerstörung des Lebens [...] mit dem Fortschritt der Kultur zugenommen“ und sich „Grausamkeit und Haß und die wissenschaftliche Menschenausrottung“ im gleichen Maßstab ausgebreitet „wie die realen Möglichkeiten, Unterdrückung aufzuheben“ (Marcuse 1957b: 79). Durch den (quantitativen) technischen Fortschritt werde heute Unfreiheit intensiviert (Marcuse 1967: 52). Es sei „durchaus nicht so, daß technischer Fortschritt humanitären Fortschritt automatisch mit sich bringt. Es bleibt unausgemacht, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt wird und in wessen Dienst die wachsenden Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen treten. Technischer Fortschritt, der als solcher zwar die Vorbedingung der Freiheit ist, bedeutet keineswegs auch schon die Realisierung größerer Freiheit“ (Marcuse 1957a: 36). Kapitalistische Anwendung der Technik ließe sich durch die Formel „technischer Fortschritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum = größere Knechtschaft“ (Marcuse 1972: 13) zusammenfassen.

Auch Ernst Bloch betont die Tatsache ungleichzeitigen Fortschritts verschiedener gesellschaftlicher Ebenen – vor allem im Verhältnis von Unterbau (dabei insbesondere der Technik) und Überbau: „Der Fortschritt in beiden geschieht offenbar nicht notwendig in gleicher Art, in gleichem Tempo und vor allem mit gleichem Rang“ (Bloch 1963: 122). Bereits Marx hatte in diesem Zusammenhang von „ungleicher Entwicklung“ (Marx 1857: 640) gesprochen.

Walter Benjamin hatte recht damit, daß die Gegenwart Katastrophe ist (GW I: 1243) und daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist (GW I: 697). Falsch ist es meines Erachtens jedoch, daraus die Forderung abzuleiten, den Fortschrittsbegriff „in der Idee der Katastrophe zu fundieren“ (GW V: 592) und auf eine „Überwindung des Begriffes des ‚Fortschritts’“ (GW V: 575) hinzuarbeiten.

Ähnlich wie Benjamin formulierte Adorno gegen den Fortschrittsoptimismus: "Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe" (Adorno 1966: 314). Solche rein negativen Orientierungen tragen trotz ihres Wahrheitsgehalts (zumindest für die Faktizität) die Gefahr in sich, daß bisherige und zukünftige Geschichte fortschrittspessimistisch als permanente Abfolge von Katastrophen und Leiden aufgefaßt wird. Damit ginge die Orientierung auf die Möglichkeit der qualitativen Veränderung der Umstände hin zu einer (erstmals) fortschrittlichen Gesellschaft und auf die heute bereits konkrete Utopie des Reichs der Freiheit verloren. Dies wäre eine neue Form des Geschichtsdeterminismus, allerdings negativ und katastrophisch gefaßt. Derartige verkürzte Geschichtsauffassungen im optimistischen wie im pessimistischen Sinn gilt es meines Erachtens zu vermeiden.

 

Geschichte als Fortschritt?

 

Die Ideologie der Moderne ist seit der Aufklärung durch einen linearen Fortschrittsglauben und der Vorstellung von Geschichte als Fortschritt geprägt. So ist etwa das Denken Hegels und der philosophischen Positivisten durch den Glauben an das historische Anwachsen von Freiheit und Fortschritt gekennzeichnet. Für Hegel war diese Teleologie keine ausschließlich lineare, sondern ein Prozeß mit Sprüngen, Diskontinuitäten und Brüchen. Geschichte ist für Hegel Entfaltung der Vernunft. Der Weltgeist verwirkliche sich in und durch die Geschichte. Es gebe jedoch eine List der Vernunft, die auch immer wieder Rückschläge und Perioden des Rückgangs mit sich bringen könne. Weltgeschichte bedeute Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, entscheidend sei also ein historischer Fortschritt im Denken, der Fortschritt der Freiheit ermögliche. Gerade auch die Rückschläge würden das Voranschreiten der Vernunft und des Bewußtseins der Freiheit und Gleichheit des Menschen vorantreiben. Obwohl Hegel eine Dialektik von Fortschritt und Rückschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung erkennt, vertritt er in letzter Instanz doch eine teleologische und metaphysische Geschichtsauffassung, es dominiert eine „harmonistische Geschichtsdeutung, für die der Übergang zu einer neuen historischen Form zugleich ein Fortschritt zu einer höheren historischen Form ist“, wodurch eine „Harmonie zwischen dem Fortschritt des Denkens und dem Prozeß der Wirklichkeit“ (Marcuse 1962: 218) hergestellt wird.

Marx und Engels wurde häufig ein lineares Fortschrittsdenken und Geschichtsmetaphysik vorgeworfen. In der Tat existieren vereinzelte Formulierungen, die dies nahe legen. So etwa, wenn Marx davon spricht, daß „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen die progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation“ und die bürgerlichen Produktionsverhältnisse „die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ seien (Marx 1859: 9), daß „die kapitalistische Produktion [...] mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation“ (Marx 1867: 791) erzeuge oder wenn Engels meint, daß wir mit „derselben Sicherheit, mit der wir aus gegebenen mathematischen Grundsätzen einen neuen Satz entwickeln (...), aus den bestehenden ökonomischen Verhältnissen und den Prinzipien der Nationalökonomie auf eine bevorstehende Revolution schließen (können)“ (MEW 2: 555) und daß Revolution und Sozialismus „mit unabwendbarer Notwendigkeit aus den ganzen gegenwärtigen Gesellschaftszuständen“ hervorgingen (MEW 7: 242).

Dennoch ist m.E. der Vorwurf der Geschichtsmetaphysik nicht gerechtfertigt, da Marx und Engels sehr häufig die Notwendigkeit revolutionären Handelns betonen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Wenn die Geschichte jedoch abhängig ist vom sozialen Handeln der Subjekte, kann sie kein linearer, sondern nur ein diskontinuierlicher, gebrochener und nicht automatisch fortschrittlicher Prozeß sein. So spricht Marx davon, daß die „revolutionäre Klasse selbst“ die größte Produktivkraft (MEW 4: 181) und das gesellschaftliche Leben wesentlich praktisch sei (Marx 1845: 371f) und die Umstände durch umwälzende Praxis verändert werden könnten. Ausschlaggebend sei die „geschichtliche Selbsttätigkeit“ (MEW 4: 490) des Menschen.

Obwohl Marx den Fortschrittsbegriff im Kapital rein quantitativ als „Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit“ (Marx 1867: 535) faßte, waren er und Engels sich darüber bewußt, daß die Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus alles andere als qualitativen menschlichen Fortschritt mit sich bringt. Gerade dies mache grundlegenden sozialen Wandel notwendig. So erwähnt etwa Marx, daß Kapitalismus „Fortschritt hier, Rückschritt dort“ (Marx 1867: 270) bedeute, Engels spricht vom Kapitalismus als jener bis heute andauernden „Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern“ (Engels 1884: 68). In einem Brief an Marx verlangt Engels gegen das „aufgeklärte Vorurteil, es müsse doch seit dem dunklen Mittelalter ein stetiger Fortschritt zum Besseren stattgefunden haben“, man solle, „nicht nur den antagonistischen Charakter des Fortschritts“ sehen, „sondern auch die einzelnen Rückschläge“ (MEW 35: 128).

Für Marcuse und Bloch vollzieht sich die Geschichte nicht als geradliniger Fortschritt. Qualitativer Fortschritt erscheint ihnen möglich, aber nicht gewiß – ausschlaggebend sei das praxisorientierte soziale Handeln. Für beide hatte diese Erkenntnis u.a. auch mit der Gefahr des Faschismus zu tun. Bloch sieht Zeit nicht als linear, sondern als prozeßhaft und die Gegenwart als permanentes Ineinander von Vergangenheit, Jetzt und Zukunft. Es sei auch zu unterscheiden zwischen Geschichts- und Naturzeit sowie der (Un-)Vermitteltheit von beidem (Bloch 1963). Zum Aufstieg des Nationalsozialismus hätten ganz wesentlich die ökonomisch und ideologisch ungleichzeitigen (Ungleichzeitigkeit meint ältere Seinsweisen im Jetzt) Schichten (Bauern, Angestellte) beigetragen (Bloch 1935: 104ff). Für Bloch wie für Marcuse blieb die faschistische Gefahr, die immer Rückschritt bedeutet, auch nach 1945 eine Bleibende, so meint etwa Bloch, daß das Ungleichzeitige als Keim und Grund der nationalsozialistischen wie jeder künftig heterogenen Überraschung bleibe (Bloch 1935: 111). Marcuse wies in den 70ern immer wieder darauf hin, daß in der eindimensionale Gesellschaft die Gefahr des Faschismus nicht gebannt sei.

Echte Zukunft, so Bloch, umfasse im Gegensatz zu unechter das in der Tendenz Angelegte, das noch nicht Erschienene. In ihr stecke „das Element der Überraschung, das heißt, in Bezug auf menschliche Zukunft gesprochen, das Element der Gefahr oder aber der Rettung“ (Bloch 1975: 90). Auch in seinem späteren Aufsatz „Differenzierungen im Begriff Fortschritt“ (Bloch 1963: 118-147) geht Bloch davon aus, daß menschlicher Fortschritt zwar geschichtlich möglich ist, sich aber nicht automatisch ergibt. Das Fortschreiten könne auch Rückschläge wie den Nationalsozialismus bringen, sei also nicht automatisch ein Fortschritt. Es gebe „keinen sicheren Zeit-Reihenindex des Fortschritts“ (Bloch 1963: 119). „Der Fortschritt selber läuft also in keiner homogenen Zeitreihe, er läuft überdies in verschiedenen unter-, übereinander liegenden Zeitebenen“ (Bloch 1963: 137). Geschichte sei kein „festes Epos des Fortschritts“, sondern auch mit möglichen Gefahren versehen, sie sei „hart gefährdete Fahrt, ein Leiden, Wandern, Irren, Suchen nach der verborgenen Heimat; voll tragischer Durchströmung, kochend, geborsten von Sprüngen, Ausbrüchen, einsamen Versprechungen“, immer aber sei die Hoffnung auf Besseres gegeben, denn Geschichte sei auch „geladen mit dem Gewissen des Lichts“ (Bloch 1921: 14f). Materie hat für Bloch eine offene Dimension, sie ist prozeßhaft, Ausdruck des In-Möglichkeit-Seienden (dynamei on) und Basis des Möglichen. Es sei zeitfetischistisch, davon auszugehen, daß der Kapitalismus automatisch in den Sozialismus hineinwachse. Der Fortschrittsbegriff brauche keine Einlinigkeit, sondern ein „breites, elastisches, völlig dynamisches Multiversum“ (Bloch 1963: 146).

Für Bloch ist Geschichte ein Werden, in der menschlicher Fortschritt bisher ein Noch-Nicht geblieben ist. Die Auffassung der relativen Offenheit der Geschichte und der Orientierung am Möglichen und am Werden äußerst sich auch in der Feststellung, daß S(ubjekt) noch nicht P(rädikat) sei – „es ist in seinem Was noch nicht erschienen, herausgekommen, gar voll identifiziert“ (Bloch 1963: 164). Das Noch-Nicht sei orientiert am objektiv real-Möglichen als Aspekt des Offenhaltens der Geschichte (Bloch 1963: 217). Noch-Nicht bedeute Utopie als „Realzustand der Unfertigkeit“ und sei „utopisch-dialektisch weitertreibende Negation“ (Bloch 1959: 360). Fortschritt bedeute heute ein „noch nicht erreicht-vorhandenes“ (Bloch 1963: 143), das es zu erkämpfen gilt. Ein Humanum sei noch nicht gefunden (vgl. Bloch 1963: 129). Dieses Noch-nicht des qualitativen menschlichen Fortschritts hieße auch, daß der Mensch „noch gar nicht gegenwärtig“ (Bloch 1963: 217) und „etwas ist, was erst noch gefunden werden muß“ (Bloch 1930: 32). Aus diesen Erkenntnissen leitet Bloch die Bedeutung des praktischen Handelns für den gesellschaftlichen Fortschritt ab: Der Weltlauf, so Bloch, sei ein offenes System, was vor allem auch seine Veränderbarkeit bedeute (vgl. Bloch 1963: 170). Das Denken der Alternativen sei in die Zukunft gerichtet, beruhe auf utopischem Denken, das übergleichzeitige Menschen benötige, in denen Widerstand gegen ein herrschend Schlechtes lebt (vgl. Bloch 1963: 91). Es gelte daher auch heute, den „Traum von einer Sache“ (Marx) als Anleitung aktiver Praxis aufrechtzuerhalten. Die Bedeutung des menschlichen Handelns bei historischem Wandel impliziere, daß „die Umstände menschlich gebildet werden“ sollen (Bloch 1963: 199). Es gäbe gesellschaftlich immer bestimmte Latenzen, objektiv-reale Möglichkeiten (vgl. Bloch 1963: 229f, 1959: 357f). Könnten die „finsteren Möglichkeiten“ der geschichtlichen Latenzen ausgeschaltet werden, so entstünde ein Novum (vgl. Bloch 1963: 228), eine konkret werdende Utopie, ein gutes Neues als Resultat der „tätigen Hoffnung“ (Bloch 1963: 230). Die Zeit sei der Helfer der objektiv-realen Möglichkeit und der „Fortschrittsraum zu möglichem Gutem“ (Bloch 1975: 107).

Auch für Herbert Marcuse ist die Geschichte nicht automatisch fortschrittlich, sondern abhängig vom sozialen Handeln der Subjekte. Die Zukunft sei nur „mögliche Befreiung. Sie ist keineswegs die einzige Alternative; das Heraufziehen einer langen Periode ‚zivilisierter’ Barbarei, mit oder ohne atomare Zerstörung, ist gleichermaßen in der Gegenwart enthalten“ (Marcuse 1969: 314). Auch die fortschreitende Technisierung der Gesellschaft sei weder automatisch fortschrittlich, noch automatisch regressiv oder barbarisch, „sie kann fortschrittlich oder regressiv, humanisierend oder dehumanisierend“ sein (Marcuse 1966: 172). Entscheidend sei die menschliche Praxis: „Die wahrhaft befreienden Wirkungen der Technik sind im technischen Fortschritt als solchem nicht enthalten; sie setzen gesellschaftliche Veränderungen voraus, die sich auch auf die grundlegenden ökonomischen Institutionen und Verhältnisse erstrecken“ (Marcuse 1964: 238). „Innerhalb des institutionellen Gefüges, das die Menschen sich selbst in ihrer Wechselwirkung mit den herrschenden natürlichen und historischen Bedingungen gegeben haben, schreitet die Entwicklung durch das Tun der Menschen fort – sie sind die wirkende Kraft der Geschichte, und die Alternativen und Entscheidungen liegen bei ihnen“ (Marcuse 1964: 26).

Utopisches Denken, das Denken der Alternativen und die Praxisorientierung hatten also für Bloch und Marcuse immer wichtige Bedeutung. Marcuse zufolge hat Bloch gezeigt, „wie realistisch utopische Konzepte sein können, wie eng verbunden mit dem Handeln, mit der Praxis“ (Marcuse 1968: 227). Bloch kritisierte an Marcuse, daß dessen Totalitätsdenken und Revolutionskonzeption des unmittelbaren, totalen Bruchs nicht konkrete Utopie, sondern revolutionäre Romantik, irreal utopisch und idealistisch seien (vgl. Bloch 1977: 124f). Heute ist aber auf der Basis der bereits weit herangereiften Entwicklung der Produktivkräfte ein unmittelbarer Übergang ins Reich der Freiheit durchaus vorstellbar. Marcuse hatte also in gewisser Hinsicht doch Recht damit, daß der unmittelbare Wandel bereits eine konkrete Utopie darstellt, also keinen unvermittelten Fortschrittstraum, der zu früh kommt und daher abstrakt bleiben müßte. Marcuse selbst betonte noch, daß „eine Gesellschaft, in der die Menschen es nicht länger nötig haben, unter Bedingungen der Entfremdung ihr Leben als ein Mittel zur Erringung des Lebensunterhalts zu leben“ (Marcuse 1989: 47), eine konkrete Utopie im Blochschen Sinn sei.

Wie richtig und aktuell diese Überlegungen Blochs und Marcuses waren, zeigen heute auch die Selbstorganisations- und Chaostheorien. Diese gehen davon aus, daß die Entwicklung von komplexen Systemen nur sehr eingeschränkt vorhergesagt und gesteuert werden kann und es darin immer wieder zu Phasen der Instabilität kommt, in denen die weitere Entwicklung relativ offen ist und kleine Ursachen große Wirkungen haben können. In bezug auf soziale Systeme läßt sich diese Überlegung damit erklären, daß das Handeln der Menschen und gesellschaftliche Institutionen hochgradig miteinander vernetzt sind. In der modernen Gesellschaftsformation hat sich dieser Netzwerkcharakter beständig ausgeweitet. Dies bedeutet nun aber auch, daß dem menschlichen Handeln als entscheidendem Faktor des gesellschaftlichen Wandels besondere Bedeutung zukommt. Gesellschaftliche Entwicklung ist eingebettet in eine Dialektik von gesellschaftlichen Strukturen und sozialem Handeln. Geschichte und soziale Veränderung entstehen durch menschliches Handeln, welches jedoch abhängig vom Einfluß der bestehenden Strukturen ist. Marx brachte diese Dialektik von Strukturen und Handeln in seinem 18. Brumaire auf den Punkt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (MEW 8: 115). Die inneren Widersprüche der Gesellschaft und die Entwicklung der Produktivkräfte vollziehen sich objektiv, gesellschaftlicher Fortschritt bedarf aber des emanzipatorischen Bewußtseins und Handelns. Es erfolgt nicht automatisch eine Entwicklung in Richtung eines Reichs der Freiheit. Ob sich ein solches Bewußtsein überhaupt bilden kann und wie darauf aufbauende Kämpfe ausgehen, ist heute nicht gewiß.

Für die Erklärung der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus haben diese Überlegungen nun mehrere Konsequenzen (vgl. detailliert Fuchs 2002a): Der Kapitalismus ist ein komplexes System, dessen antagonistische Struktur immer wieder zu gesellschaftlichen Krisen führt. Daß diese Krisen eintreten, ist determiniert und somit ein Aspekt der Notwendigkeit. Nicht vorherbestimmt sind jedoch der genaue Zeitpunkt und der Ausgang dieser Krisen, dies sind Aspekte des Zufalls. Jedes Entwicklungsmodell des Kapitalismus hat eine relativ autonome, antagonistische Struktur, die mit allgemeinen kapitalistischen Antagonismen vermittelt ist. Krisen sind daher nicht auf einen allgemein unterstellten Antagonismus (oder auf Wirkungen innerhalb eines einzelnen gesellschaftlichen Subsystems) zurückzuführen.

Der Ausgang der heutigen Krise kann prinzipiell viele Formen annehmen: Vorstellbar sind sowohl ein allgemeiner Emanzipationsprozeß hin zum Reich der Freiheit, ein völliger Zusammenbruch des Weltsystems und damit der Menschheitsgeschichte oder die weitere repressive (und sich möglicherweise faschisierende) Krisenverwaltung im Rahmen des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus. Das Ende der Gewißheiten sollte uns aber durchweg optimistisch stimmen, denn dies heißt auch, daß heute die Möglichkeit allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts gegeben ist. Auch die notwendigen materiellen Bedingungen sind dazu gegeben. „There will be a new structure, a new order, but it may be either better or worse than the existing one. It depends on what we all do in the period of acute struggle and how clearly we understand the forces at work“ (Wallerstein 1999). „The future [...] is open to possibility, and therefore to a better world“ (Wallerstein 1997).

 

Triebstruktur und gesellschaftlicher Fortschritt

 

Marcuse (vgl. 1957a) argumentiert in Anschluß an Sigmund Freud, Kultur und Gesellschaft könnten nur durch den Übergang des Menschen vom Lust- zum Realitätsprinzip auf dem Wer der Umwandlung von Triebenergien in kulturelle Tätigkeiten mittels Triebverzicht, Lustenthaltung und aufgeschobener Befriedigung entstehen. Nur so seien Produktivität und gesellschaftlicher Fortschritt möglich. In der modernen Gesellschaft sei dieser Prozeß der Sublimierung ein repressiver, der Mensch habe gelernt, Entsagung als Basis der Produktivität zu setzen und eigenen Genuß und Teilhabe der entfremdenden Arbeit und der Herrschaft des Kapitals unterzuordnen. Das Realitätsprinzip äußere sich repressiv als Leistungsprinzip (vgl. Marcuse 1957b: 38). Dies führe auch zu einer repressiven Dominanz des Todestriebes (Thanatos) über den Lebenstrieb (Eros), die gesellschaftlichen Verhältnisse würden sich bis in die Triebstrukturen fortsetzen. Die repressive Dominanz des Todestriebes werde wiederum nach außen geleitet als Aggression und Herrschaft und Zerstörung von Natur und Mensch. Der Fortschritt selbst werde so repressiv.

Durch die heutige Möglichkeit eines Reichs der Freiheit werde das repressive Realitätsprinzip überflüssig: „Ein Zustand wird absehbar, in dem es keine Produktivität, die zugleich Resultat und Bedingung der Entsagung wäre, und keine entfremdete Arbeit gibt – ein Zustand, in dem die wachsende Mechanisierung der Arbeit es ermöglicht, daß ein immer größerer Teil derjenigen Triebenergie, die für die entfremdete Arbeit abgezogen werde mußte, wieder ihrer ursprünglichen Gestalt zurückgegeben, mit anderen Worten, in Energie der Lebenstriebe zurückverwandelt werden kann“ (Marcuse 1957a: 48). So wäre in einem Reich der Freiheit die entfremdete Arbeitszeit verschwunden und die Lebenszeit freie Zeit, ein qualitativ anderes Realitätsprinzip könnte an die Stelle des repressiven treten.

 

Schluß

 

Wir leben heute im postfordistischen, neoliberalen und informationsgesellschaftlichen Kapitalismus (vgl. Fuchs 2001, 2002a). Die Krise des Fordismus resultierte in neuen Qualitäten der kapitalistischen Entwicklung wie diversifizierter Qualitätsproduktion und flexibler Spezialisierung, neuen Ideologien des Managements sowie einem neuen Schub der antagonistischen Form der ökonomischen Globalisierung. Es erfolgten die Tertiarisierung und Informatisierung der Ökonomie, die Triadisierung und Deregulierung von Welthandel und Kapitalexport und die Herausbildung des Neoliberalismus und der nationalen Wettbewerbsstaaten. Dadurch haben sich die globalen gesellschaftlichen Probleme weiter verschärft, die neuen Technologien sind in diese Wirkungen antagonistisch eingebettet. Es zeigen sich heute auch einige Folgen des Einsatzes moderner Technologien, die für Marcuse und Bloch nicht vorhersehbar waren.

Informations- und Kommunikationstechnologien wirken delokalisierend und entbettend, sie bringen die Möglichkeit der raum-zeitlichen Auslagerung sozialer Beziehungen mit sich. Dies nützt vor allem der Globalisierung des Kapitals. Globalisierung bezeichnet einen allgemeinen Prozeß der Menschheitsgeschichte, der sich als Dialektik von Globalem und Lokalem in Ökonomie, Politik, Kultur, Technik und Ökologie ausdrückt (Fuchs/Hofkirchner 2001, 2002a). Im Kapitalismus hat diese Dialektik antagonistische Formen angenommen und ist daher in die Generierung gesellschaftlicher Probleme eingebunden (Fuchs/Hofkirchner 2002a). Der neue Schub der antagonistischen oder kapitalistischen Form der Globalisierung besteht heute vor allem in der Schaffung neuer Rahmenbedingungen für die Verwertungsprozesse des Kapitals in Form des zunehmenden Abbaus institutioneller Schranken und Grenzen dieser Prozesse sowie in der weiteren Internationalisierung und Monopolisierung des Kapitalverhältnisses, die sich als Triadisierung (Konzentrierung auf die drei großen Wirtschaftsregionen Europa, USA und Südostasien) des Welthandels und des Kapitalexports in Form ausländischer Direktinvestitionen zeigen (vgl. Fuchs/Hofkirchner 2002b). Informations- und Kommunikations-Technologien sind Medium und Resultat der ökonomischen Globalisierung, bieten Unternehmen heute neue Möglichkeiten der Produktionsorganisation und tragen zur Prekarisierung immer größerer Teile der Weltbevölkerung bei (Massenarbeitlosigkeit, neoliberaler Sozialabbau, prekäre Beschäftigung, Standortpolitik etc.). Andererseits können auch progressive Protestbewegungen sich diese Medien zur Unterstützung ihrer Selbstorganisationsmöglichkeiten zunutze machen.

Neue Qualitäten der Technisierung sind u.a. auch die Gefahren, die von den modernen Biotechnologien ausgehen, die massive Verstärkung von Kontrollpotentialen, neue elektronische, global vernetzte Fahndungs- und Überwachungssysteme, die Potenzierung der Vernichtungskraft von Kriegsmitteln im Rahmen des Cyber- und Information Warfare, die u.a. technisch vermittelte Fiktionalisierung des Kapitals, die „New Economy“ und ihr auf Finanzblasen basierendes, heute bereits krisengeschütteltes Wachstum, der Netzwerkcharakter kapitalistischer Unternehmen, Dezentralisierung und Abbau gewisser Hierarchiestufen in Betrieben, Verringerung der Fertigungstiefe, Automation, Simultaneous Engineering, Just-in-Time-Produktion, Outsourcing und eine neue Fusionswelle im Medien- und Unterhaltungsbereich. Diese Veränderungen bedeuten vorwiegend Verschlechterungen für abhängig Beschäftigte, Arbeitslose, Arme, Frauen, Marginalisierte sowie eine Ausweitung der globalen gesellschaftlichen Probleme und Konflikte.

Kapitalismus bedeutet also auch in seiner heutigen Existenz als Informationsgesellschaft die permanente Katastrophe. Dennoch transportiert die Informatisierung der Gesellschaft trotz ihres heutigen Umschlagens in eine Destruktivkraft progressive Möglichkeiten, die es durch gesellschaftlichen Wandel erst adäquat zu realisieren gilt. Diese bestehen darin, daß die durch die Informatisierung vermittelte massive Reduktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeit materielle Vorbedingung für ein Reich der Freiheit darstellt. Die von Bloch und Marcuse erläuterte Dialektik des Fortschritts bleibt äußerst aktuell. Das Reich der Freiheit ist heute einerseits so nah, andererseits so fern. Wir leben im Zeitalter der Extreme. Die gesellschaftlichen Antagonismen sind so weit getrieben worden, daß auf der einen Seite die materiellen Vorbedingungen für eine fortschrittliche, freie Gesellschaft gegeben sind, daß aber andererseits die Katastrophe sich beständig reproduziert. Es besteht heute die „offene Alternative zwischen absolutem Nichts und absolutem Allem“ (Bloch 1959: 363f) – das Nichts als Vernichtung, das Alles als Reich der Freiheit und der Beendigung des Kapitalismus, der „Katastrophe des menschlichen Wesens“ (Marcuse 1932: 536).

Es ist trotz aller Ungewißheit durchweg möglich, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, daß ein wünschenswerter Ausweg aus der Instabilität gefunden wird. Dazu ist aber das Bewußtsein des möglichen Fortschritts notwendig (vgl. Bloch 1963: 144). Kritisches Bewußtsein und Denken wird aber heute durch neue gesellschaftliche Kontrollen stark eingedämmt und in seiner Entfaltung behindert. Daher das Paradoxon, daß Befreiung materiell so nah wäre, die Menschen in ihrem Bewußtsein davon aber immer weiter entfernt werden. Ob es gelingen wird, gesellschaftlichen Fortschritt zu realisieren, ist daher insbesondere von der Frage abhängig, ob diese Eindämmung durchbrochen werden kann. Die Änderung der etablierten Richtung des Fortschritts würde grundlegenden sozialen Wandel bedeuten, „aber sozialer Wandel setzt voraus, daß ein vitales Bedürfnis nach ihm besteht sowie die Erfahrung unerträglicher Verhältnisse und ihrer Alternativen – und eben dieses Bedürfnis und diese Erfahrung werden in der etablierten Kultur daran gehindert, sich zu entwickeln“ (Marcuse 1965: 125).

Wir erleben heute zwei Tendenzen nebeneinander: Die Unterbindung sozialen Wandels und das Auftauchen neuer Kräfte und Tendenzen, die diese Eindämmung durchbrechen könnten (letzteres meint vor allem auch die „Antiglobalisierungsbewegung“, die eigentlich eine Bewegung gegen die antagonistische, kapitalistische Globalisierung und für eine globale Welt ohne Ausbeutung und Herrschaft ist). Beide Tendenzen bestehen nebeneinander, es ist nicht determiniert, welche sich durchsetzen wird und welchen Ausgang die anhaltende Krise nehmen wird. Was bleibt, ist eine begründete Hoffnung auf Fortschritt. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung läßt sich einzig durch den aktiven Menschen erhöhen. Die Hoffnung muß also tätige Hoffnung sein.

 

Literatur:

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