Die Bedeutung der Fortschrittsbegriffe
von Marcuse und Bloch im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus
Christian Fuchs (christian@igw.tuwien.ac.at)
Abstract
Progress has traditionally
been associated with the increase of productivity and the development of human
history. Herbert Marcuse and Ernst Bloch have shown how such linear conceptions
of progress fail to explain that in capitalism the ideology of quantitative
progress has not brought qualitative human progress, but has resulted in global
problems and destructive forces. Marcuse and Bloch do not consider history as
automatically progressive, progress is a possibility, but one that has yet to
be established. This view has been strengthened by the recently emerging theories
of chaos and self-organisation. With the rise of modern technologies, the material
conditions for social progress in the sense of a realm of freedom have been
reached, but society is still scattered by the permanent capitalist catastrophe
and the containment of social change.
Theodor W. Adorno bemerkte 1968, daß die Gesellschaft
auf dem Stand der Produktivkräfte Industriegesellschaft, auf jenem der Produktionsverhältnisse
Kapitalismus sei (Adorno 1968: 361). Dieser Einschätzung folgte Herbert Marcuse,
der jedoch von der fortgeschrittenen Industriegesellschaft sprach, die in ihrem
Fortschreiten auch das Denken des Menschen ergriffen habe und sich u.a. auszeichne
durch die Unterbindung sozialen Wandels (Marcuse 1967: 14), Unterdrückung der
Individualität (21), politische und geistige Gleichschaltung (21), Unterdrückung
wahrer Bedürfnisse und wahren Bewusstseins (27), technologische Rationalität
bzw. instrumentelle Vernunft (159ff), Ausweitung der Herrschaft über Mensch
und Natur (37), Automation (56), Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat (68ff),
mystifizierende Rationalisierung des Irrationalen (203f), Dominanz einer eindimensionalen
Sprache (103ff) sowie falsche Bedürfnisse und falsches Bewusstsein (25).
Inzwischen sind weitere gesellschaftliche Differenzierungen
erfolgt, die es uns erlauben, auf der Basis der Produktivkräfte von der Informationsgesellschaft
zu sprechen, da Wissen zu einem immer bedeutenderen Produktionsfaktor wird und
die industrielle Wertproduktion immer stärker darauf beruht. Die Strukturprinzipien
und gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus bleiben erhalten, es zeigen
sich jedoch auch neue Eigenschaften in Ökonomie, Politik, Kultur und Technik
(vgl. Fuchs 2002a: S. 114-158) – wir haben es mit einer Dialektik von Kontinuität
und Diskontinuität zu tun.
Ziel dieses Aufsatzes ist es, mit Rückgriff auf Herbert
Marcuse und Ernst Bloch zu verdeutlichen, was Fortschritt heute und auf die
Realität des informationsgesellschaftlichen Kapitalismus bezogen bedeuten kann.
Dazu wird zunächst zwischen einer deterministischen Fortschrittsideologie und
einem qualitativen Fortschrittsbegriff unterschieden, im Anschluß daran werden
die Fragen behandelt, ob Geschichte unvermeidlich fortschrittlich verläuft und
welcher Zusammenhang zwischen Fortschritt und menschlicher Triebstruktur besteht
und zum Abschluß wird ein Ausblick gegeben .
Der Fortschrittsbegriff
Fortschritt wird in der Regel entweder ausschließlich
als Chance (Fortschrittsoptimismus) oder als Risiko (Fortschrittspessimismus)
verstanden, außer Acht bleibt dabei die Dialektik des Fortschritts, die sich
darin äußert, daß auf einem bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstand
häufig Chancen und Risiken sowie positive Möglichkeiten und negative Entwicklungen
nebeneinander bestehen. Vor allem der ungebremste Fortschrittsoptimismus ist
heute falsche Spiegelung der Welt und ideologischer Nebel. Er basiert auf einem
quantitativen Fortschrittsbegriff.
Bereits Gramsci (1971: 357) wies darauf hin, daß Fortschritt
heute eine Ideologie ist.
Diese behauptet, daß im Lauf der Menschheitsentwicklung
(trotz Rückschlägen und Perioden der Regression) die menschlichen Kenntnisse
und Fähigkeiten wachsen und immer universaler werden (Marcuse 1957a: 35), und
dies im Ansteigen gesellschaftlichen Reichtums resultieren würde.
Ein quantitativer Fortschrittsbegriff ist charakteristisch
für die Wachstumsideologie des Kapitalismus, die davon ausgeht, daß aus dem
quantitativen Wachstum der Produktivität automatisch gesellschaftlicher Fortschritt
entsteht. Die heute dominante Fortschrittsideologie ist somit eine des technischen
Fortschritts, technischer und gesellschaftlicher Fortschritt werden als Einheit
dargestellt.
Unzählige Beispiele für diese Ideologie lassen sich gerade auch in bezug auf
die Informatisierung der Gesellschaft in Wissenschaft, Politik, Management und
Medien finden. So meinte etwa Gerhard Schröder: „Wir wollen und werden den Fortschritt,
den die Industriegesellschaft durch Information und Kommunikation machen kann,
so gestalten, daß er den Menschen in Europa zugute kommt. Wir werden dafür sorgen,
daß dieser Fortschritt übrigens genauso
wie seinerzeit der Fortschritt von der Agrar- zur Industriegesellschaft
zu mehr Wohlstand und einer besseren Lebensqualität für die Menschen
in Europa führt“ (Regierungserklärung Gerhard Schröder am 6. April 2000). Ähnlich
die Progress & Freedom Foundation: „The foundation embraces the idea
of progress – i.e., the belief that Mankind has advanced in the past, is presently
advancing, and will continue to advance through the foreseeable future. And
it believes that the sort of progress brought about by the digital revolution
is inherently favourable to enhanced human individuality and freedom“ (Mission
statement of the PFF).
Eine spezifische Wendung der Fortschrittsideologie hat im Neoliberalismus stattgefunden.
Es wird nun vielfach argumentiert, daß sich sozialer Fortschritt durch die neuen
Technologien nur dann ergebe, wenn eine Deregulierung staatlicher Intervention
und der Arbeits- und Sozialgesetzgebung stattfände (siehe dazu z.B. PFF 1994).
Der Neoliberalismus bedeutet jedoch nicht gesellschaftlichen Fortschritt, sondern
die Ausweitung von Unfreiheit und Unglück.
Der Fortschrittsbegriff wird immer wieder benutzt, um Herrschaft und Ausbeutung
zu rechtfertigen. Einzelne Bevölkerungsgruppen oder Regionen (Indigenas, Frauen,
die Dritte Welt etc.) werden im Vergleich mit einem als fortschrittlich präsentierten
Maßstab (zumeist die weiße, patriarchal-kapitalistische Welt) als zurückgeblieben
definiert und daraus das "Recht" abgeleitet, die Lebensverhältnisse
dieser Menschen in bestimmter Weise durch direkte oder strukturelle Gewalt umzugestalten
und den Fortschritt auch „den Zurückgebliebenen“ zugänglich zu machen. Tatsächlich
wird so nicht Fortschritt, sondern Unglück und Leid transportiert. Mit der Kategorie
des Fortschritts ist aus diesem Grund vorsichtig umzugehen. Fraglich ist, ob
die heutige Welt, die durch scharfe globale Probleme gekennzeichnet ist, als
fortschrittlich bezeichnet werden kann. Wenn Fortschritt „eine ganze bessere
Erde“ (Bloch 1963: 146) bedeuten soll, an der alle Anteil haben, so ist dieser
heute tatsächlich nicht gegeben. Ein qualitativer Fortschrittsbegriff faßt Fortschritt
als Rückgang und Emanzipation von Sklaverei, Willkür, Unterdrückung, Leid, Mangel,
Unglück, Unfreiheit, Fremdbestimmung und Not. Qualitativer Fortschritt ist immer
auch „von den Möglichkeiten bestimmt, die menschliche Lage zu verbessern“ (Marcuse
1967: 36).
Weiterhin ist Fortschritt immer nur zu Denken als
Vergleichsmaßstab zwischen zwei Zuständen. Gesellschaftlicher und menschlicher
Fortschritt scheint uns dann gegeben, wenn ein Entwurf vorhanden ist oder ein
Zustand eintritt, in dem die Errungenschaften der Zivilisation verbessert werden
und der Befriedigung der Bedürfnisse der gesamten Menschheit größere Chancen
geboten werden. Dies umfaßt Wohlstand, ein Maximum an freier Zeit, Luxus, Muße,
Gesundheit, Frieden, soziale Sicherheit, Leben in Einklang mit dem sozialen
und ökologischen Umfeld, Befriedigung der objektiven und subjektiven Lebensbedürfnisse
bei einem Minimum an harter Arbeit, Freiheit von Ausbeutung, Gewalt, Kontrolle
und Herrschaft, Partizipationsmöglichkeiten, Individualität, Solidarität, Ausdrucksmöglichkeiten,
Phantasie, Entspannung, Vergnügen sowie Möglichkeiten der Selbstverwirklichung,
der geistigen Betätigung und des nichtoperationalen Denkens für alle Menschen.
Synonyme Begriffe für diesen qualitativen, menschlichen Fortschritt sind gesellschaftliches
Glück, Reich der Freiheit und Wahrheit. Dieser humanitäre Fortschritt ist heute
nicht gegeben, er ist ein Noch-Nicht, das es erst zu realisieren und zu erkämpfen
gilt.
Ein spezifischer Antagonismus des Kapitalismus besteht
nun darin, daß der quantitative Fortschritt der Produktivkräfte im Sinn der
Reduktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eine durchweg positive Errungenschaft
ist, die eine Vorbedingung für das Reich der Freiheit darstellt, daß dieser
Fortschritt im Kapitalismus aber nicht mit qualitativem menschlichen Fortschritt
korrespondieren kann. Durch die Informatisierung der Gesellschaft verschärft
sich dieser Antagonismus weiter, er ist nur durch grundlegenden sozialen Wandel
aufzuheben.
Wir verfügen heute über die technischen und organisatorischen
Möglichkeiten, um eine bessere Welt als konkrete Utopie auf die Tagesordnung
zu setzen, doch zugleich schlagen die Produktivkräfte gleichzeitig in Destruktionskräfte
um, die zu einer immer stärkeren Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur
führen. Die „radikal fortschrittlichen Möglichkeiten“ bestehen darin, daß die
Menschheit die historische Stufe erreicht hat, in der eine „Welt des Friedens
[...] – eine Welt ohne Ausbeutung, Elend und Angst“ (Marcuse 1965: 123) möglich
ist. Die Vollendung des technischen Fortschritts könnte heute „zum inneren Ziel
aller Technik führen, nämlich zur Beseitigung von Mangel und schwerer Arbeit“
(Marcuse 1964: 21, zum Technikbegriff Marcuses
vgl. detailliert Fuchs 2002b). Fortschritt sei heute nur als ein Umschlag von
Quantität in Qualität zu haben, der eine neue menschliche Wirklichkeit eröffnen
würde. Die neue Qualität des Fortschritts wäre die Umkehrung des Verhältnisses
von Arbeitszeit und Freizeit (Marcuse 1964: 18). Die konkrete Utopie des Reichs
der Freiheit hat für Marcuse und Bloch Muße als Ziel, Entfremdung sowie die
Unterschiede zwischen Hand- und Kopfarbeit, Land und Stadt und zwischen Arbeit
und Freizeit würden verschwinden (Bloch 1959: 1080). Fortschritt benötige immer
einen Sinn, und dieser sei das Reich der Freiheit (Bloch 1963: 144).
Eine freie Gesellschaft, so Marcuse und Bloch, müßte
jedoch auch eine andere Technik entwickeln (Marcuse 1967: 238). Eine solche
Änderung würde einen „grundlegenden sozialen Wandel bedeuten“ (Marcuse 1965:
125). Die Technik müßte dazu zwar nicht vollständig erneuert werden, da sie
auch schon heute Bedürfnisbefriedigung und die Verringerung harter Arbeit ermöglicht,
doch wäre ihr Umbau notwendig, um ihre affirmativen, antagonistischen und destruktiven
Aspekte abzustoßen. An die Stelle der „Überlistertechnik” (Bloch 1959: 783f)
trete dann, so Bloch, die „Allianztechnik” und der Mensch könne in ein nichtausbeuterisches
Verhältnis zu sich selbst und zur Natur treten. Dies wäre eine Technik, die
es dem Menschen erlauben würde, sein Verhältnis zur Natur zu verändern. In einer
nicht auf Profit orientierten Wirtschaft könne sie menschliche Arbeit ersparen
und den Mensch entlasten (Bloch 1959: 1055).
Während heute also im bestimmten Sinn einige Anlagen
des gesellschaftlichen Fortschritts gegeben sind, ist der Kapitalismus zugleich
permanente Katastrophe. Damit ist aber nicht gesagt, daß das Reich der Freiheit
nur durch ein kapitalistisches Durchgangsstadium und den damit einhergehenden
Blut- und Schweißzoll von Millionen zu erreichen ist, denn technischer Fortschritt
wäre durchweg auch unter Abwesenheit der Konkurrenz-, Profit- und Warenorientierung
möglich. Die militärische Weiterentwicklung von Technologien hat deren Entwicklungsprozeß
oftmals beschleunigt. Ich gehe aber nicht davon aus, daß es ohne diese militärische
Komponente etwa nicht zur Entwicklung des Computers oder des Internets gekommen
wäre, denn die Technikgenese ist ein komplexer Prozeß, der sich nicht auf einem
einzig möglichen Weg durchsetzen kann, sondern durch das Zusammenspiel vielfältiger
Faktoren und Institutionen möglich wird. Eventuell hätten sich beide Technologien
langsamer und auf andere Weise entfaltet. Der militärisch-ökonomische Komplex
determiniert nicht die Technikentwicklung, obwohl er heute natürlich ein wesentlicher
Einflußfaktor ist.
Es scheint also „der immer intensivere [technische]
Fortschritt mit einer Intensivierung der Unfreiheit verknüpft zu sein“ (Marcuse
1957b: 11). Die Ausweitung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und
der Zerstörung der Natur nehmen in der Tat immer höhere Ausmaße an. Mit den
verbesserten Möglichkeiten menschlichen Daseins korrespondiert die Permanenz
von Katastrophe und Barbarei. Diese hat sich im 20. Jahrhundert u.a. geäußert
in Massenvernichtung, Weltkriegen, der Gefahr ultimativer Vernichtung, der zunehmenden
Verschärfung der globalen Probleme, ansteigender Prekarisierung immer größerer
Teile der Weltbevölkerung (vor allem in den letzten 20 Jahren), militärischer
Interessensdurchsetzung und -verteidigung, Naturzerstörung im immer größeren
Ausmaß, Totalitarismus des Staates im Osten und des Marktes im Westen sowie
dem weltweiten Siegeszug des letzten nach dem Umbruch. Die kapitalistische Gesellschaftsformation
bedeutet daher nicht menschlichen Fortschritt, sondern menschliche Katastrophe.
Diese Ambivalenz des Fortschritts wurde von Marcuse
und Bloch beschrieben, die sich beide gegen unkritische Fortschrittsideologien
und gegen die Annahme eines Determinismus des Fortschritts wendeten. Tatsächlich
habe im Kapitalismus die „Zerstörung des Lebens [...] mit dem Fortschritt der
Kultur zugenommen“ und sich „Grausamkeit und Haß und die wissenschaftliche Menschenausrottung“
im gleichen Maßstab ausgebreitet „wie die realen Möglichkeiten, Unterdrückung
aufzuheben“ (Marcuse 1957b: 79). Durch den (quantitativen) technischen Fortschritt
werde heute Unfreiheit intensiviert (Marcuse 1967: 52). Es sei „durchaus nicht
so, daß technischer Fortschritt humanitären Fortschritt automatisch mit sich
bringt. Es bleibt unausgemacht, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt
wird und in wessen Dienst die wachsenden Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen
treten. Technischer Fortschritt, der als solcher zwar die Vorbedingung der Freiheit
ist, bedeutet keineswegs auch schon die Realisierung größerer Freiheit“ (Marcuse
1957a: 36). Kapitalistische Anwendung der Technik ließe sich durch die Formel
„technischer Fortschritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum = größere
Knechtschaft“ (Marcuse 1972: 13) zusammenfassen.
Auch Ernst Bloch betont die Tatsache ungleichzeitigen
Fortschritts verschiedener gesellschaftlicher Ebenen – vor allem im Verhältnis
von Unterbau (dabei insbesondere der Technik) und Überbau: „Der Fortschritt
in beiden geschieht offenbar nicht notwendig in gleicher Art, in gleichem Tempo
und vor allem mit gleichem Rang“ (Bloch 1963: 122). Bereits Marx hatte in diesem
Zusammenhang von „ungleicher Entwicklung“ (Marx 1857: 640) gesprochen.
Walter Benjamin hatte recht damit, daß die Gegenwart
Katastrophe ist (GW I: 1243) und daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben,
die Regel ist (GW I: 697). Falsch ist es meines Erachtens jedoch, daraus die
Forderung abzuleiten, den Fortschrittsbegriff „in der Idee der Katastrophe zu
fundieren“ (GW V: 592) und auf eine „Überwindung des Begriffes des ‚Fortschritts’“
(GW V: 575) hinzuarbeiten.
Ähnlich wie Benjamin formulierte Adorno gegen den
Fortschrittsoptimismus: "Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur
Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe" (Adorno
1966: 314). Solche rein negativen Orientierungen tragen trotz ihres Wahrheitsgehalts
(zumindest für die Faktizität) die Gefahr in sich, daß bisherige und zukünftige
Geschichte fortschrittspessimistisch als permanente Abfolge von Katastrophen
und Leiden aufgefaßt wird. Damit ginge die Orientierung auf die Möglichkeit
der qualitativen Veränderung der Umstände hin zu einer (erstmals) fortschrittlichen
Gesellschaft und auf die heute bereits konkrete Utopie des Reichs der Freiheit
verloren. Dies wäre eine neue Form des Geschichtsdeterminismus, allerdings negativ
und katastrophisch gefaßt. Derartige verkürzte Geschichtsauffassungen im optimistischen
wie im pessimistischen Sinn gilt es meines Erachtens zu vermeiden.
Geschichte als Fortschritt?
Die Ideologie der Moderne ist seit der Aufklärung
durch einen linearen Fortschrittsglauben und der Vorstellung von Geschichte
als Fortschritt geprägt. So ist etwa das Denken Hegels und der philosophischen
Positivisten durch den Glauben an das historische Anwachsen von Freiheit und
Fortschritt gekennzeichnet. Für Hegel war diese Teleologie keine ausschließlich
lineare, sondern ein Prozeß mit Sprüngen, Diskontinuitäten und Brüchen. Geschichte
ist für Hegel Entfaltung der Vernunft. Der Weltgeist verwirkliche sich in und
durch die Geschichte. Es gebe jedoch eine List der Vernunft, die auch immer
wieder Rückschläge und Perioden des Rückgangs mit sich bringen könne. Weltgeschichte
bedeute Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, entscheidend sei also ein historischer
Fortschritt im Denken, der Fortschritt der Freiheit ermögliche. Gerade auch
die Rückschläge würden das Voranschreiten der Vernunft und des Bewußtseins der
Freiheit und Gleichheit des Menschen vorantreiben. Obwohl Hegel eine Dialektik
von Fortschritt und Rückschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung erkennt,
vertritt er in letzter Instanz doch eine teleologische und metaphysische Geschichtsauffassung,
es dominiert eine „harmonistische Geschichtsdeutung, für die der Übergang zu
einer neuen historischen Form zugleich ein Fortschritt zu einer höheren historischen
Form ist“, wodurch eine „Harmonie zwischen dem Fortschritt des Denkens und dem
Prozeß der Wirklichkeit“ (Marcuse 1962: 218) hergestellt wird.
Marx und Engels wurde häufig ein lineares Fortschrittsdenken
und Geschichtsmetaphysik vorgeworfen. In der Tat existieren vereinzelte Formulierungen,
die dies nahe legen. So etwa, wenn Marx davon spricht, daß „asiatische, antike,
feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen die progressiven Epochen der
ökonomischen Gesellschaftsformation“ und die bürgerlichen Produktionsverhältnisse
„die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“
seien (Marx 1859: 9), daß „die kapitalistische Produktion [...] mit der Notwendigkeit
eines Naturprozesses ihre eigene Negation“ (Marx 1867: 791) erzeuge oder wenn
Engels meint, daß wir mit „derselben Sicherheit, mit der wir aus gegebenen mathematischen
Grundsätzen einen neuen Satz entwickeln (...), aus den bestehenden ökonomischen
Verhältnissen und den Prinzipien der Nationalökonomie auf eine bevorstehende
Revolution schließen (können)“ (MEW 2: 555) und daß Revolution und Sozialismus
„mit unabwendbarer Notwendigkeit aus den ganzen gegenwärtigen Gesellschaftszuständen“
hervorgingen (MEW 7: 242).
Dennoch ist m.E. der Vorwurf der Geschichtsmetaphysik
nicht gerechtfertigt, da Marx und Engels sehr häufig die Notwendigkeit revolutionären
Handelns betonen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Wenn die Geschichte
jedoch abhängig ist vom sozialen Handeln der Subjekte, kann sie kein linearer,
sondern nur ein diskontinuierlicher, gebrochener und nicht automatisch fortschrittlicher
Prozeß sein. So spricht Marx davon, daß die „revolutionäre Klasse selbst“ die
größte Produktivkraft (MEW 4: 181) und das gesellschaftliche Leben wesentlich
praktisch sei (Marx 1845: 371f) und die Umstände durch umwälzende Praxis verändert
werden könnten. Ausschlaggebend sei die „geschichtliche Selbsttätigkeit“ (MEW
4: 490) des Menschen.
Obwohl Marx den Fortschrittsbegriff im Kapital rein
quantitativ als „Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit“
(Marx 1867: 535) faßte, waren er und Engels sich darüber bewußt, daß die Entwicklung
der Produktivkräfte im kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus alles andere
als qualitativen menschlichen Fortschritt mit sich bringt. Gerade dies mache
grundlegenden sozialen Wandel notwendig. So erwähnt etwa Marx, daß Kapitalismus
„Fortschritt hier, Rückschritt dort“ (Marx 1867: 270) bedeute, Engels spricht
vom Kapitalismus als jener bis heute andauernden „Epoche, in der jeder Fortschritt
zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der
einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern“ (Engels
1884: 68). In einem Brief an Marx verlangt Engels gegen das „aufgeklärte Vorurteil,
es müsse doch seit dem dunklen Mittelalter ein stetiger Fortschritt zum Besseren
stattgefunden haben“, man solle, „nicht nur den antagonistischen Charakter des
Fortschritts“ sehen, „sondern auch die einzelnen Rückschläge“ (MEW 35: 128).
Für Marcuse und Bloch vollzieht sich die Geschichte
nicht als geradliniger Fortschritt. Qualitativer Fortschritt erscheint ihnen
möglich, aber nicht gewiß – ausschlaggebend sei das praxisorientierte soziale
Handeln. Für beide hatte diese Erkenntnis u.a. auch mit der Gefahr des Faschismus
zu tun. Bloch sieht Zeit nicht als linear, sondern als prozeßhaft und die Gegenwart
als permanentes Ineinander von Vergangenheit, Jetzt und Zukunft. Es sei auch
zu unterscheiden zwischen Geschichts- und Naturzeit sowie der (Un-)Vermitteltheit
von beidem (Bloch 1963). Zum Aufstieg des Nationalsozialismus hätten ganz wesentlich
die ökonomisch und ideologisch ungleichzeitigen (Ungleichzeitigkeit meint ältere
Seinsweisen im Jetzt) Schichten (Bauern, Angestellte) beigetragen (Bloch 1935:
104ff). Für Bloch wie für Marcuse blieb die faschistische Gefahr, die immer
Rückschritt bedeutet, auch nach 1945 eine Bleibende, so meint etwa Bloch, daß
das Ungleichzeitige als Keim und Grund der nationalsozialistischen wie jeder
künftig heterogenen Überraschung bleibe (Bloch 1935: 111). Marcuse wies in den
70ern immer wieder darauf hin, daß in der eindimensionale Gesellschaft die Gefahr
des Faschismus nicht gebannt sei.
Echte Zukunft, so Bloch, umfasse im Gegensatz zu unechter
das in der Tendenz Angelegte, das noch nicht Erschienene. In ihr stecke „das
Element der Überraschung, das heißt, in Bezug auf menschliche Zukunft gesprochen,
das Element der Gefahr oder aber der Rettung“ (Bloch 1975: 90). Auch in seinem
späteren Aufsatz „Differenzierungen im Begriff Fortschritt“ (Bloch 1963: 118-147)
geht Bloch davon aus, daß menschlicher Fortschritt zwar geschichtlich möglich
ist, sich aber nicht automatisch ergibt. Das Fortschreiten könne auch Rückschläge
wie den Nationalsozialismus bringen, sei also nicht automatisch ein Fortschritt.
Es gebe „keinen sicheren Zeit-Reihenindex des Fortschritts“ (Bloch 1963: 119).
„Der Fortschritt selber läuft also in keiner homogenen Zeitreihe, er läuft überdies
in verschiedenen unter-, übereinander liegenden Zeitebenen“ (Bloch 1963: 137).
Geschichte sei kein „festes Epos des Fortschritts“, sondern auch mit möglichen
Gefahren versehen, sie sei „hart gefährdete Fahrt, ein Leiden, Wandern, Irren,
Suchen nach der verborgenen Heimat; voll tragischer Durchströmung, kochend,
geborsten von Sprüngen, Ausbrüchen, einsamen Versprechungen“, immer aber sei
die Hoffnung auf Besseres gegeben, denn Geschichte sei auch „geladen mit dem
Gewissen des Lichts“ (Bloch 1921: 14f). Materie hat für Bloch eine offene Dimension,
sie ist prozeßhaft, Ausdruck des In-Möglichkeit-Seienden (dynamei on) und Basis
des Möglichen. Es sei zeitfetischistisch, davon auszugehen, daß der Kapitalismus
automatisch in den Sozialismus hineinwachse. Der Fortschrittsbegriff brauche
keine Einlinigkeit, sondern ein „breites, elastisches, völlig dynamisches Multiversum“
(Bloch 1963: 146).
Für Bloch ist Geschichte ein Werden, in der menschlicher
Fortschritt bisher ein Noch-Nicht geblieben ist. Die Auffassung der relativen
Offenheit der Geschichte und der Orientierung am Möglichen und am Werden äußerst
sich auch in der Feststellung, daß S(ubjekt) noch nicht P(rädikat) sei – „es
ist in seinem Was noch nicht erschienen, herausgekommen, gar voll identifiziert“
(Bloch 1963: 164). Das Noch-Nicht sei orientiert am objektiv real-Möglichen
als Aspekt des Offenhaltens der Geschichte (Bloch 1963: 217). Noch-Nicht bedeute
Utopie als „Realzustand der Unfertigkeit“ und sei „utopisch-dialektisch weitertreibende
Negation“ (Bloch 1959: 360). Fortschritt bedeute heute ein „noch nicht erreicht-vorhandenes“
(Bloch 1963: 143), das es zu erkämpfen gilt. Ein Humanum sei noch nicht gefunden
(vgl. Bloch 1963: 129). Dieses Noch-nicht des qualitativen menschlichen Fortschritts
hieße auch, daß der Mensch „noch gar nicht gegenwärtig“ (Bloch 1963: 217) und
„etwas ist, was erst noch gefunden werden muß“ (Bloch 1930: 32). Aus diesen
Erkenntnissen leitet Bloch die Bedeutung des praktischen Handelns für den gesellschaftlichen
Fortschritt ab: Der Weltlauf, so Bloch, sei ein offenes System, was vor allem
auch seine Veränderbarkeit bedeute (vgl. Bloch 1963: 170). Das Denken der Alternativen
sei in die Zukunft gerichtet, beruhe auf utopischem Denken, das übergleichzeitige
Menschen benötige, in denen Widerstand gegen ein herrschend Schlechtes lebt
(vgl. Bloch 1963: 91). Es gelte daher auch heute, den „Traum von einer Sache“
(Marx) als Anleitung aktiver Praxis aufrechtzuerhalten. Die Bedeutung des menschlichen
Handelns bei historischem Wandel impliziere, daß „die Umstände menschlich gebildet
werden“ sollen (Bloch 1963: 199). Es gäbe gesellschaftlich immer bestimmte Latenzen,
objektiv-reale Möglichkeiten (vgl. Bloch 1963: 229f, 1959: 357f). Könnten die
„finsteren Möglichkeiten“ der geschichtlichen Latenzen ausgeschaltet werden,
so entstünde ein Novum (vgl. Bloch 1963: 228), eine konkret werdende Utopie,
ein gutes Neues als Resultat der „tätigen Hoffnung“ (Bloch 1963: 230). Die Zeit
sei der Helfer der objektiv-realen Möglichkeit und der „Fortschrittsraum zu
möglichem Gutem“ (Bloch 1975: 107).
Auch für Herbert Marcuse ist die Geschichte nicht
automatisch fortschrittlich, sondern abhängig vom sozialen Handeln der Subjekte.
Die Zukunft sei nur „mögliche Befreiung. Sie ist keineswegs die einzige Alternative;
das Heraufziehen einer langen Periode ‚zivilisierter’ Barbarei, mit oder ohne
atomare Zerstörung, ist gleichermaßen in der Gegenwart enthalten“ (Marcuse 1969:
314). Auch die fortschreitende Technisierung der Gesellschaft sei weder automatisch
fortschrittlich, noch automatisch regressiv oder barbarisch, „sie kann fortschrittlich
oder regressiv, humanisierend oder dehumanisierend“ sein (Marcuse 1966: 172).
Entscheidend sei die menschliche Praxis: „Die wahrhaft befreienden Wirkungen
der Technik sind im technischen Fortschritt als solchem nicht enthalten; sie
setzen gesellschaftliche Veränderungen voraus, die sich auch auf die grundlegenden
ökonomischen Institutionen und Verhältnisse erstrecken“ (Marcuse 1964: 238).
„Innerhalb des institutionellen Gefüges, das die Menschen sich selbst in ihrer
Wechselwirkung mit den herrschenden natürlichen und historischen Bedingungen
gegeben haben, schreitet die Entwicklung durch das Tun der Menschen fort – sie
sind die wirkende Kraft der Geschichte, und die Alternativen und Entscheidungen
liegen bei ihnen“ (Marcuse 1964: 26).
Utopisches Denken, das Denken der Alternativen und
die Praxisorientierung hatten also für Bloch und Marcuse immer wichtige Bedeutung.
Marcuse zufolge hat Bloch gezeigt, „wie realistisch utopische Konzepte sein
können, wie eng verbunden mit dem Handeln, mit der Praxis“ (Marcuse 1968: 227).
Bloch kritisierte an Marcuse, daß dessen Totalitätsdenken und Revolutionskonzeption
des unmittelbaren, totalen Bruchs nicht konkrete Utopie, sondern revolutionäre
Romantik, irreal utopisch und idealistisch seien (vgl. Bloch 1977: 124f). Heute
ist aber auf der Basis der bereits weit herangereiften Entwicklung der Produktivkräfte
ein unmittelbarer Übergang ins Reich der Freiheit durchaus vorstellbar. Marcuse
hatte also in gewisser Hinsicht doch Recht damit, daß der unmittelbare Wandel
bereits eine konkrete Utopie darstellt, also keinen unvermittelten Fortschrittstraum,
der zu früh kommt und daher abstrakt bleiben müßte. Marcuse selbst betonte noch,
daß „eine Gesellschaft, in der die Menschen es nicht länger nötig haben, unter
Bedingungen der Entfremdung ihr Leben als ein Mittel zur Erringung des Lebensunterhalts
zu leben“ (Marcuse 1989: 47), eine konkrete Utopie im Blochschen Sinn sei.
Wie richtig und aktuell diese Überlegungen Blochs
und Marcuses waren, zeigen heute auch die Selbstorganisations- und Chaostheorien.
Diese gehen davon aus, daß die Entwicklung von komplexen Systemen nur sehr eingeschränkt
vorhergesagt und gesteuert werden kann und es darin immer wieder zu Phasen der
Instabilität kommt, in denen die weitere Entwicklung relativ offen ist und kleine
Ursachen große Wirkungen haben können. In bezug auf soziale Systeme läßt sich
diese Überlegung damit erklären, daß das Handeln der Menschen und gesellschaftliche
Institutionen hochgradig miteinander vernetzt sind. In der modernen Gesellschaftsformation
hat sich dieser Netzwerkcharakter beständig ausgeweitet. Dies bedeutet nun aber
auch, daß dem menschlichen Handeln als entscheidendem Faktor des gesellschaftlichen
Wandels besondere Bedeutung zukommt. Gesellschaftliche Entwicklung ist eingebettet
in eine Dialektik von gesellschaftlichen Strukturen und sozialem Handeln. Geschichte
und soziale Veränderung entstehen durch menschliches Handeln, welches jedoch
abhängig vom Einfluß der bestehenden Strukturen ist. Marx brachte diese Dialektik
von Strukturen und Handeln in seinem 18. Brumaire auf den Punkt: „Die Menschen
machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen
und überlieferten Umständen“ (MEW 8: 115). Die inneren Widersprüche der Gesellschaft
und die Entwicklung der Produktivkräfte vollziehen sich objektiv, gesellschaftlicher
Fortschritt bedarf aber des emanzipatorischen Bewußtseins und Handelns. Es erfolgt
nicht automatisch eine Entwicklung in Richtung eines Reichs der Freiheit. Ob
sich ein solches Bewußtsein überhaupt bilden kann und wie darauf aufbauende
Kämpfe ausgehen, ist heute nicht gewiß.
Für die Erklärung der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus
haben diese Überlegungen nun mehrere Konsequenzen (vgl. detailliert Fuchs 2002a):
Der Kapitalismus ist ein komplexes System, dessen antagonistische Struktur immer
wieder zu gesellschaftlichen Krisen führt. Daß diese Krisen eintreten, ist determiniert
und somit ein Aspekt der Notwendigkeit. Nicht vorherbestimmt sind jedoch der
genaue Zeitpunkt und der Ausgang dieser Krisen, dies sind Aspekte des Zufalls.
Jedes Entwicklungsmodell des Kapitalismus hat eine relativ autonome, antagonistische
Struktur, die mit allgemeinen kapitalistischen Antagonismen vermittelt ist.
Krisen sind daher nicht auf einen allgemein unterstellten Antagonismus (oder
auf Wirkungen innerhalb eines einzelnen gesellschaftlichen Subsystems) zurückzuführen.
Der Ausgang der heutigen Krise kann prinzipiell viele
Formen annehmen: Vorstellbar sind sowohl ein allgemeiner Emanzipationsprozeß
hin zum Reich der Freiheit, ein völliger Zusammenbruch des Weltsystems und damit
der Menschheitsgeschichte oder die weitere repressive (und sich möglicherweise
faschisierende) Krisenverwaltung im Rahmen des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus.
Das Ende der Gewißheiten sollte uns aber durchweg optimistisch stimmen, denn
dies heißt auch, daß heute die Möglichkeit allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts
gegeben ist. Auch die notwendigen materiellen Bedingungen sind dazu gegeben.
„There will be a new structure, a new order, but it may be either better or
worse than the existing one. It depends on what we all do in the period of acute
struggle and how clearly we understand the forces at work“ (Wallerstein 1999).
„The future [...] is open to possibility, and therefore to a better world“ (Wallerstein
1997).
Triebstruktur und gesellschaftlicher
Fortschritt
Marcuse (vgl. 1957a) argumentiert in Anschluß an Sigmund
Freud, Kultur und Gesellschaft könnten nur durch den Übergang des Menschen vom
Lust- zum Realitätsprinzip auf dem Wer der Umwandlung von Triebenergien in kulturelle
Tätigkeiten mittels Triebverzicht, Lustenthaltung und aufgeschobener Befriedigung
entstehen. Nur so seien Produktivität und gesellschaftlicher Fortschritt möglich.
In der modernen Gesellschaft sei dieser Prozeß der Sublimierung ein repressiver,
der Mensch habe gelernt, Entsagung als Basis der Produktivität zu setzen und
eigenen Genuß und Teilhabe der entfremdenden Arbeit und der Herrschaft des Kapitals
unterzuordnen. Das Realitätsprinzip äußere sich repressiv als Leistungsprinzip
(vgl. Marcuse 1957b: 38). Dies führe auch zu einer repressiven Dominanz des
Todestriebes (Thanatos) über den Lebenstrieb (Eros), die gesellschaftlichen
Verhältnisse würden sich bis in die Triebstrukturen fortsetzen. Die repressive
Dominanz des Todestriebes werde wiederum nach außen geleitet als Aggression
und Herrschaft und Zerstörung von Natur und Mensch. Der Fortschritt selbst werde
so repressiv.
Durch die heutige Möglichkeit eines Reichs der Freiheit
werde das repressive Realitätsprinzip überflüssig: „Ein Zustand wird absehbar,
in dem es keine Produktivität, die zugleich Resultat und Bedingung der Entsagung
wäre, und keine entfremdete Arbeit gibt – ein Zustand, in dem die wachsende
Mechanisierung der Arbeit es ermöglicht, daß ein immer größerer Teil derjenigen
Triebenergie, die für die entfremdete Arbeit abgezogen werde mußte, wieder ihrer
ursprünglichen Gestalt zurückgegeben, mit anderen Worten, in Energie der Lebenstriebe
zurückverwandelt werden kann“ (Marcuse 1957a: 48). So wäre in einem Reich der
Freiheit die entfremdete Arbeitszeit verschwunden und die Lebenszeit freie Zeit,
ein qualitativ anderes Realitätsprinzip könnte an die Stelle des repressiven
treten.
Schluß
Wir leben heute im postfordistischen, neoliberalen
und informationsgesellschaftlichen Kapitalismus (vgl. Fuchs 2001, 2002a). Die
Krise des Fordismus resultierte in neuen Qualitäten der kapitalistischen Entwicklung
wie diversifizierter Qualitätsproduktion und flexibler Spezialisierung, neuen
Ideologien des Managements sowie einem neuen Schub der antagonistischen Form
der ökonomischen Globalisierung. Es erfolgten die Tertiarisierung und Informatisierung
der Ökonomie, die Triadisierung und Deregulierung von Welthandel und Kapitalexport
und die Herausbildung des Neoliberalismus und der nationalen Wettbewerbsstaaten.
Dadurch haben sich die globalen gesellschaftlichen Probleme weiter verschärft,
die neuen Technologien sind in diese Wirkungen antagonistisch eingebettet. Es
zeigen sich heute auch einige Folgen des Einsatzes moderner Technologien, die
für Marcuse und Bloch nicht vorhersehbar waren.
Informations- und Kommunikationstechnologien wirken
delokalisierend und entbettend, sie bringen die Möglichkeit der raum-zeitlichen
Auslagerung sozialer Beziehungen mit sich. Dies nützt vor allem der Globalisierung
des Kapitals. Globalisierung bezeichnet einen allgemeinen Prozeß der Menschheitsgeschichte,
der sich als Dialektik von Globalem und Lokalem in Ökonomie, Politik, Kultur,
Technik und Ökologie ausdrückt (Fuchs/Hofkirchner 2001, 2002a). Im Kapitalismus
hat diese Dialektik antagonistische Formen angenommen und ist daher in die Generierung
gesellschaftlicher Probleme eingebunden (Fuchs/Hofkirchner 2002a). Der neue
Schub der antagonistischen oder kapitalistischen Form der Globalisierung besteht
heute vor allem in der Schaffung neuer Rahmenbedingungen für die Verwertungsprozesse
des Kapitals in Form des zunehmenden Abbaus institutioneller Schranken und Grenzen
dieser Prozesse sowie in der weiteren Internationalisierung und Monopolisierung
des Kapitalverhältnisses, die sich als Triadisierung (Konzentrierung auf die
drei großen Wirtschaftsregionen Europa, USA und Südostasien) des Welthandels
und des Kapitalexports in Form ausländischer Direktinvestitionen zeigen (vgl.
Fuchs/Hofkirchner 2002b). Informations- und Kommunikations-Technologien sind
Medium und Resultat der ökonomischen Globalisierung, bieten Unternehmen heute
neue Möglichkeiten der Produktionsorganisation und tragen zur Prekarisierung
immer größerer Teile der Weltbevölkerung bei (Massenarbeitlosigkeit, neoliberaler
Sozialabbau, prekäre Beschäftigung, Standortpolitik etc.). Andererseits können
auch progressive Protestbewegungen sich diese Medien zur Unterstützung ihrer
Selbstorganisationsmöglichkeiten zunutze machen.
Neue Qualitäten der Technisierung sind u.a. auch die
Gefahren, die von den modernen Biotechnologien ausgehen, die massive Verstärkung
von Kontrollpotentialen, neue elektronische, global vernetzte Fahndungs- und
Überwachungssysteme, die Potenzierung der Vernichtungskraft von Kriegsmitteln
im Rahmen des Cyber- und Information Warfare, die u.a. technisch vermittelte
Fiktionalisierung des Kapitals, die „New Economy“ und ihr auf Finanzblasen basierendes,
heute bereits krisengeschütteltes Wachstum, der Netzwerkcharakter kapitalistischer
Unternehmen, Dezentralisierung und Abbau gewisser Hierarchiestufen in Betrieben,
Verringerung der Fertigungstiefe, Automation, Simultaneous Engineering, Just-in-Time-Produktion,
Outsourcing und eine neue Fusionswelle im Medien- und Unterhaltungsbereich.
Diese Veränderungen bedeuten vorwiegend Verschlechterungen für abhängig Beschäftigte,
Arbeitslose, Arme, Frauen, Marginalisierte sowie eine Ausweitung der globalen
gesellschaftlichen Probleme und Konflikte.
Kapitalismus bedeutet also auch in seiner heutigen
Existenz als Informationsgesellschaft die permanente Katastrophe. Dennoch transportiert
die Informatisierung der Gesellschaft trotz ihres heutigen Umschlagens in eine
Destruktivkraft progressive Möglichkeiten, die es durch gesellschaftlichen Wandel
erst adäquat zu realisieren gilt. Diese bestehen darin, daß die durch die Informatisierung
vermittelte massive Reduktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeit materielle
Vorbedingung für ein Reich der Freiheit darstellt. Die von Bloch und Marcuse
erläuterte Dialektik des Fortschritts bleibt äußerst aktuell. Das Reich der
Freiheit ist heute einerseits so nah, andererseits so fern. Wir leben im Zeitalter
der Extreme. Die gesellschaftlichen Antagonismen sind so weit getrieben worden,
daß auf der einen Seite die materiellen Vorbedingungen für eine fortschrittliche,
freie Gesellschaft gegeben sind, daß aber andererseits die Katastrophe sich
beständig reproduziert. Es besteht heute die „offene Alternative zwischen absolutem
Nichts und absolutem Allem“ (Bloch 1959: 363f) – das Nichts als Vernichtung,
das Alles als Reich der Freiheit und der Beendigung des Kapitalismus, der „Katastrophe
des menschlichen Wesens“ (Marcuse 1932: 536).
Es ist trotz aller Ungewißheit durchweg möglich, die
Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, daß ein wünschenswerter Ausweg aus der Instabilität
gefunden wird. Dazu ist aber das Bewußtsein des möglichen Fortschritts notwendig
(vgl. Bloch 1963: 144). Kritisches Bewußtsein und Denken wird aber heute durch
neue gesellschaftliche Kontrollen stark eingedämmt und in seiner Entfaltung
behindert. Daher das Paradoxon, daß Befreiung materiell so nah wäre, die Menschen
in ihrem Bewußtsein davon aber immer weiter entfernt werden. Ob es gelingen
wird, gesellschaftlichen Fortschritt zu realisieren, ist daher insbesondere
von der Frage abhängig, ob diese Eindämmung durchbrochen werden kann. Die Änderung
der etablierten Richtung des Fortschritts würde grundlegenden sozialen Wandel
bedeuten, „aber sozialer Wandel setzt voraus, daß ein vitales Bedürfnis nach
ihm besteht sowie die Erfahrung unerträglicher Verhältnisse und ihrer Alternativen
– und eben dieses Bedürfnis und diese Erfahrung werden in der etablierten Kultur
daran gehindert, sich zu entwickeln“ (Marcuse 1965: 125).
Wir erleben heute zwei Tendenzen nebeneinander: Die
Unterbindung sozialen Wandels und das Auftauchen neuer Kräfte und Tendenzen,
die diese Eindämmung durchbrechen könnten (letzteres meint vor allem auch die
„Antiglobalisierungsbewegung“, die eigentlich eine Bewegung gegen die antagonistische,
kapitalistische Globalisierung und für eine globale Welt ohne Ausbeutung und
Herrschaft ist). Beide Tendenzen bestehen nebeneinander, es ist nicht determiniert,
welche sich durchsetzen wird und welchen Ausgang die anhaltende Krise nehmen
wird. Was bleibt, ist eine begründete Hoffnung auf Fortschritt. Die Wahrscheinlichkeit
ihrer Realisierung läßt sich einzig durch den aktiven Menschen erhöhen. Die
Hoffnung muß also tätige Hoffnung sein.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1966) Negative
Dialektik. Frankfurt/Main. Suhrkamp
Adorno, Theodor W. (1968) Spätkapitalismus
oder Industriegesellschaft? In: Soziologische Schriften 1, S. 354-370
Wallerstein, Immanuel (1995) Die Sozialwissenschaft
„kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts. Weinheim.
Beltz Athenäum Verlag