Soziale Selbstorganisation und Demokratie Zur Neuerscheinung von Christian
Fuchs: Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus
von Ralf Burnicki
" "Demokratie" ist doch prima, oder? Hier können ja alle Leute ihre PolitikerInnen
wählen, und das alle vier Jahre. Da kann mensch doch mitbestimmen, was die hohe
Politik machen soll. - Oder etwa nicht?"
Christian Fuchs ist Informationstheoretiker, er lebt und arbeitet in Wien,
eigentlich aber ist er Wissenschaftler mit interdisziplinärer Ausrichtung. In
seiner neuesten Arbeit untersucht er den Kapitalismus sowie das Konzept der
gegenwärtigen repräsentativen (durch gewählte EntscheidungsträgerInnen geprägte)
Demokratie auf ihren tatsächlichen demokratischen Gehalt. Seine Arbeit "Soziale
Selbstorganisation..." - in wissenschaftlich-theoretischer Sprache verfaßt und
entsprechend zu lesen - ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und ich will
hier nur einige Aspekte kurz anreißen, die mir besonders wichtig erschienen.
So gelingt es Fuchs, das, was der Marxismus als "Klassengegensatz" begreift,
nicht nur in Bezug auf die Ökonomie (Beispiel: Postfordismus) zu modernisieren,
sondern über das Thema der Ökonomie hinaus in den Bereich der Politik, der "Demokratie"
vorzudringen, wo er das heutige System politischer Repräsentation anhand der
gesellschaftlichen Verteilung von "sozialen Informationen" untersucht. Spätestens
seit dieser Arbeit kann wohl davon gesprochen werden, daß es so etwas wie eine
moderne ‚Klassentheorie der Demokratie' gibt.
Fuchs geht vom Standpunkt einer ‚dialektischen Theorie der Selbstorganisation'
(S. 56) aus, die sich am Phänomen der "sozialen Information" festmacht. "Informationen"
werden heute, so Fuchs, in autoritärer oder hierarchiekompatibler Hinsicht
gebraucht, nämlich eher im Sinne von ‚Botschaft', ‚Nachricht' bzw. ‚Unterrichtung'/
‚Belehrung'. So werden uns in der heutigen kapitalistischen Informationsgesellschaft
‚Botschaften' über unsere "Wirklichkeit" eingegeben, allabendlich erhalten wir
unsere Nachrichtenzufuhr bei ARD & ZDF; in der Schule oder am Arbeitsplatz
werden wir unterrichtet bzw. belehrt, wie wir unsere Leistungen optimieren sollen;
Parteien oder Großgewerkschaften teilen uns mit, wie wir einen gesellschaftlichen
Vorgang zu verstehen haben. Wir verhalten uns gegenüber der "Information" passiv,
wir bekommen von den "Informierten", namentlich PolitikerInnen (also von "Oben")
mitgeteilt, ‚was läuft'. So konsumieren wir Informationen als Ware. Gänzlich
unberücksichtigt dabei bleibt, daß "Information" im Lateinischen auch die Bedeutung
von "Formen" bzw. "Gestalten" (z.B. der Politik, der Ökonomie) einschließt.
Dies beinhaltet den Aspekt, daß wir die "Information" in die eigenen Hände
nehmen, die Umstände selbst formen, die uns angehen.
Von diesen Überlegungen ausgehend, untersucht Fuchs die Bedingungen heutiger
"sozialer Information" am Beispiel der repräsentativen ‚Demokratie'. Wie bereits
erahnt werden kann, macht sich die Theorie an einer ungerechten (partizipatorische
Interessen der Bevölkerung ausschließende) Handhabung "sozialer Information"
fest. Unter sozialen Informationen wird im Folgenden verstanden: "Strukturen
wie soziale Normen, Gesetze, soziale Werte und Regeln, die durch das Zusammenwirken
mehrerer Individuen entstanden sind" (Fuchs, S. 74). Diese sozialen Informationen
können nun "soziale Inklusionen" (Entscheidungen über Regeln, die zustande kommen,
indem die Betroffenen beteiligt werden) oder "soziale Exklusionen" (Entscheidungen
über Regeln, die unter Ausschluß der Betroffenen zustande kommen) sein. Mit
dem begrifflichen Werkzeug der "sozialen Inklusivität" oder der "sozialen Exklusivität"
von "Informationen" kommt Fuchs zu dem Schluß, daß die repräsentative ‚Demokratie'
und ihre Gesetzgebung lediglich exklusive soziale Informationen produzieren,
weil die politischen Entscheidungen (z.B. Verabschiedung von Gesetzen) von denjenigen,
die von den Entscheidungen betroffen sind, weitestgehend entkoppelt sind. Und
dies in zweierlei Hinsicht: So führt einerseits die Wahl von ParlamentarierInnen
als politische EntscheidungsträgerInnen dazu, daß sich Entscheidungen von der
Alltagsbasis lösen, andererseits führen Mehrheitsprinzipien innerhalb der repräsentativen
Demokratie zum Ausschluß von Minderheiten. Beide Aspekte begründen hinreichend
eine Kritik an der Repräsentation als "exklusiver" ‚Demokratie' und den Klassengegensatz
zwischen politisch (ganz "demokratisch") ein- und ausgeschlossenen Teilen der
Bevölkerung.
Im Anschluß untersucht Fuchs nun den gegenwärtigen Anarchismus daraufhin, inwiefern
hier "inklusive" oder "exklusive" Informationen produziert werden. Nicht unnütz
erscheint hier zunächst einmal der Hinweis, daß der Anarchismus (und dies ist
auch meine Einschätzung) eine "spezielle Form der Theorie der Direktdemokratie"
(S. 189) darstellt, mithin als eine selbständige Demokratietheorie anzusehen
ist, die sich allerdings massiv von repräsentativen Entscheidungsmodellen unterscheidet.
Insofern sich 1. der Anarchismus gegen EntscheidungsträgerInnen und politische/ökonomische
Eliten verwahrt und 2. innerhalb seines Entscheidungskonzepts eine Beteiligung
derjenigen, die von Entscheidungen betroffen sind, an den entsprechenden Beschlüssen
anstrebt, noch dazu 3. innerhalb der Entscheidungsproduktion auf Konsens wert
legt (Einschluß von Minderheiten in eine Entscheidung), kommt Fuchs zu dem Schluß,
daß anarchistisch-direktdemokratische Entscheidungsmodelle
"der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation ... näher kommen als etablierte
repräsentativ- und direktdemokratische (Volksentscheid, Volksbegehren, Volksinitiative,
usw.), da sie die Etablierung inklusiver sozialer Informationen zu einem wesentlichen
Teil ihres Ansatzes machen. Es geht dabei um die Vorstellung, daß Betroffene
die Entscheidungsprozesse, als deren Ergebnisse soziale Informationsstrukturen
entstehen, selbst bestimmen und gestalten können und daß sie unter verän-derten
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Fähigkeiten entwickeln können,
dies in der Praxis durchzuführen" (S. 211).
Leider gelingt es auch libertären AutorInnen nicht immer, ein begriffliches
Handwerkszeug für demokratietheoretische Debatten zur Verfügung zu stellen,
das einerseits eine kritische Analyse vereinfacht, andererseits multifunktional
und gut geölt ist. Fuchs scheint dies jedoch mithilfe der Begriffe "inklusive"
und "exklusive soziale Information" zu gelingen. Mit dieser Unterscheidung läßt
es sich gut in politikwissenschaftliche Debatten einsteigen. Nicht mehr und
nicht weniger erscheint als der Zweck der vorliegenden Arbeit, denn im Alltagsgespräch
könnte mensch auch auf andere Weise ausdrücken, daß Anarchismus Sinn macht.
Wer sich in diesem Sinne bei Fuchs erst einmal durch ein bestimmtes wissenschaftliches
Vokabular durchgearbeitet hat, den/die erwartet eine meines Erachtens fundierte
Gesellschaftsanalyse, die - nebenbei gesagt - gründlich mit der Idee von Jürgen
Habermas aufräumt, in der Politik einer repräsentativen ‚Demokratie' würden
Kommunikationsflüsse der gesellschaftlichen Basis umgesetzt.
Für mich ist dies Werk derzeit eines der wichtigsten Bücher auf meinem Tisch.
Christian Fuchs,
Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Gesellschaftliche
Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger Transformationen; (Wien) Libri
2001, ISBN 3-8311-1601-6, 246 S., 37 DM; Bestellung über den Buchhandel oder
unter http://www.libri.de
Ein Artikel von Christian Fuchs zum Thema "Anarchismus
und Selbstorganisation" erschien jetzt auch im Schwarzen Faden Nr. 72, 2/2001,
S. 46-50 (Trotzdem-Verlag, PF 1159, 71117 Grafenau)
Ralf Burnicki ist Lyriker
und Publizist. Er lebt in Bielefeld, ist Mitbegründer der Edition Blackbox
und hat mehrere Bücher veröffentlicht: Die Wirklichkeit zerreißen
wie einen misslungenen Schnappschuss
(2000, gem. M. Halfbrodt, Edition AV), Anarchie
als Direktdemokratie (1998, Edition Blackbox), StadtSchluchten
(1996, Edition Blackbox)
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