Anarchie und Selbstorganisation. Über die Möglichkeiten der
Selbstorganisation einer herrschaftsfreien Gesellschaft.
In: Schwarzer Faden, Nr. 72,
2/2001, S. 46-50
Christian Fuchs
Der vorliegende Text stellt einen kurzen Auszug aus dem neuen
Buch des Autors dar: Christian
Fuchs (2001) Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen
Kapitalismus. Gesellschaftliche Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger
Transformationen. Norderstedt. Libri Books on Demand. 246 Seiten. 37 DM
Die Gesellschaft, in der wir leben, befindet sich heute in einem dauerhaften
Krisenzustand: ökonomische und ökologische Krisen, Verschärfung der globalen
Probleme, Massenarmut und -arbeitslosigkeit, Prekärisierung der Lebensverhältnisse
weiter Teile der Weltbevölkerung, Rassismus, Nationalismus, Kriege, nationalistische
Demagogie, Stagnierung der Löhne etc.
Gleichzeitig wird von den unkritischen und fortschrittsoptimistischen Apologeten
des Kapitalismus in Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Kultur von den Chancen
der "New Economy" gesprochen, von den Vorteilen flexibler Arbeitsverhältnisse
und der "Internetgesellschaft" gesprochen. Kritisches Denken ist heute nicht
unbedingt in Mode, obwohl oder gerade da die soziale Situation der Menschen
sich permanent verschärft. Ist all dies aber Anlaß genug, um in einen Kulturpessimismus
zu verfallen und vom baldigen Ende der Menschheit auszugehen? Keineswegs.
Die Welt kann bleiben wie sie ist, dann sind solche Befürchtungen nicht unrealistisch.
Das kapitalistische Weltsystem befindet sich in einer Entwicklung, die die
Herrschaft über Menschen und die Zerstörung der Natur konsequent vorantreibt.
Die Welt darf allerdings nicht bleiben, wie sie ist. Nur die Etablierung einer
qualitativ anderen Gesellschaft wäre die Basis für die Lösung der globalen
Probleme. Dazu bedarf es aber dem aktiven gesellschaftstransformierenden und
emanzipatorischen Handeln des Menschen. Welche Rolle kann dabei die Gesellschaftstheorie
und -kritik einnehmen? Ein kritisches praktisches Handeln muß wissen, worauf
es sich bezieht, was es verändern will und wogegen bzw. wohin eine Aufhebungsbewegung
stattfinden soll. Eine kritische Theorie der Gesellschaft kann dabei die Rolle
spielen, bestehende Verhältnisse und die Möglichkeit deren Veränderung zu
verdeutlichen. Was sie nicht kann und nicht soll, ist den Menschen vorzugeben,
wie ein alternativer Gesellschaftsentwurf auszusehen hat. Denn eine Transformations-
und Aufhebungsbewegung in Richtung einer anderen Gesellschaft kann nur eine
von unten sein. Was Kritische Theorie leisten kann, ist das Bewußtmachen der
Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift ist.
Sie umfaßt immer auch die Anregung zur Phantasie, denn als Einbildungskraft
bezeichnet diese "einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit
inmitten einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandenen kann
sie die Zukunft vorwegnehmen" (Marcuse 1937, S. 122).
Das aktive selbstorganisierte Handeln der Menschen ist also von grundsätzlicher
Bedeutung. Und hier kommt nun ein neues wissenschaftliches Paradigma ins Spiel:
Die Theorie der Selbstorganisation. Dieser interdisziplinäre Ansatz kann emanzipatorisch
gefaßt die Möglichkeiten gesellschaftskritischen Handelns näher analysieren
sowie Grenzen und Perspektiven verdeutlichen. Ziel der Arbeit "Soziale Selbstorganisation
im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus" ist, eine kritische Bestandsaufnahme
des postfordistischen Kapitalismus zu geben und Möglichkeiten von emanzipatorischer
sozialer Selbstorganisation heute und in anderen Gesellschaftsformationen
(als potentiellen Zukünften) zu verdeutlichen.
Anarchie - Demokratie - Selbstorganisation
Im Anarchismus wird eine Vorstellung von Demokratie als Repräsentativdemokratie
abgelehnt, da dies die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit bedeute,
also die Herrschaft von gewählten RepräsentantInnen, die im Parlament Entscheidungen
treffen, über das Volk. Nichtsdestotrotz gibt es Ansätze, die Anarchie als
Demokratie begreifen. Demokratie nicht im Sinne einer Repräsentationsherrschaft,
sondern im Sinn einer unmittelbaren, direkten Selbstbestimmung von Entscheidungen
durch die Betroffenen. Die bürgerliche Demokratie koppelt dazu im Gegensatz
stehend Entscheidung von den Betroffenen ab.
"Demokratie" kommt von den Wörter "demos" (Volk) und "kratein" (herrschen,
Macht ausüben) und bedeutet damit eigentlich "Volksherrschaft". Herrschaft
wird aber über jemanden ausgeübt. Damit wären eine Vereinbarung von Demokratie
und Selbstorganisation also geradezu ausgeschlossen. Wird allerdings Demokratie
als die Möglichkeit und Macht des Volkes, sämtliche Entscheidungen selbst
zu treffen, gesehen oder als "Volks-Selbstbestimmung" (Burnicki 1998, S. 9),
so kann Anarchie sehr wohl als direkte Form der Demokratie bezeichnet werden.
"Direkte Demokratie meint also die unmittelbare 'Volk'-Selbstbestimmung.
[...] [Das Volk] sind alle Leute, die von einer Politik betroffen sind, egal,
welche Sprache, Religion, Hautfarbe oder Ohrengröße sie haben. [...] Anarchie
heißt Herrschaftslosigkeit. Die Umsetzung von Herrschaftslosigkeit bedeutet
Direktdemokratie. Das, was Anarchie beinhaltet, ihr Gegenstand also, ist Direktdemokratie.
Direktdemokratie bedeutet, daß sich die Menschen - ohne Eliten zu bilden -
selbst organisieren" (Burnicki 1998, S. 9f).
Damit ist der Zusammenhang Anarchismus - Demokratie - Selbstorganisation hergestellt,
es bedarf aber noch einer genaueren Untersuchung, inwiefern dieses Verständnis
von Selbstorganisation mit einem Konzept sozialer Selbstorganisation vereinbar
ist.
Im Gegensatz zu einem unreflektierten und undialektischen Verständnis von
Demokratie, das die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem gewisser Begriffe
vernachlässigt, erscheint die anarchistische Philosophie bei näherer Analyse
als eine eigenständige Konzeption von Demokratie. Unterschiedliche anarchistische
Ansätze wie Mutualismus, Individualanarchismus, kommunistischer Anarchismus,
libertärer Kommunalismus und Anarchosyndikalismus vereint ein Verständnis,
das sich gegen jede Form der Herrschaft wendet. Insbesondere wird in Frage
gestellt, daß es einer staatlichen Autorität bedarf, um Entscheidungen verantwortungsvoll
zu treffen. Der Staat wird als eine Instanz gesehen, die die kapitalistische
Gesellschaft durch Gewalt, Repression und Zwang aufrechterhält. Dazu ist die
staatliche Autorität und die Zurechtweisung der BürgerInnen durch Gesetze
notwendig. Das Menschenbild des Anarchismus ist eines, das davon ausgeht,
daß die Menschen bei Aufhebung der bestehenden kapitalistischen Widersprüche
die Kompetenz erlangen können, Entscheidungen verantwortlich zu treffen und
ein hohes Maß an Solidarität, Altruismus, Kooperation und Gemeinsinn zu zeigen.
Dazu sind partizipatorische Strukturen notwendig, die den Menschen ein hohes
Maß an Autonomie ermöglichen und ihnen die Möglichkeit geben, an allen Entscheidungen,
die sie betreffen, teilzunehmen. Die entsprechenden in Betracht gezogenen
Organisationsformen sind zumeist Rätemodelle auf der Basis von Versammlungen
von Betroffenen.
Unter sozialen Informationen können wir allgemein Strukturen verstehen, die
aus dem Zusammenwirken mehrerer Individuen emergieren. Emergenz heißt dabei,
daß eine Einzelperson die entsprechende Struktur nicht etablieren könnte und
daher mit anderen zusammenwirken muß. Als eine Art sozialer Information können
Gesetze gesehen werden. Der Anarchismus wendet sich gegen Gesetze, da er sie
als staatliche Mittel zur Entmächtigung, Beherrschung und Disziplinierung
der Individuen begreift. Peter Kropotkin (1985) beschrieb in diesem Zusammenhang
Gesetze als modernen Fetisch. Die meisten Menschen können sich demnach ein
Zusammenleben ohne Gesetze nicht vorstellen, die Ermöglichung des gesellschaftlichen
Umgangs wird Gesetzen zugeschrieben. Der tatsächliche Zweck der Gesetze ist
jedoch der Schutz von Privateigentum und Kapitalismus.
Wenn AnarchistInnen sich gegen Gesetze aussprechen, was sind dann die sozialen
Informationen der Gesellschaft, die sie sich vorstellen? Es wird davon ausgegangen,
daß im Anarchismus Entscheidungen getroffen werden können, mit denen die Menschen
leben können, da sie selbst an der Ausarbeitung als Betroffene teilgenommen
haben. Nichtsdestotrotz gibt es in jeder Form der Gesellschaft soziale Normen
und Werte. Der Anarchismus geht davon aus, daß diese Normen und Werte darin
bestehen, daß die Menschen in einer herrschaftsfreien Gesellschaft verantwortungsvoll,
solidarisch und altruistisch handeln und daß sie die Eigennutzenmaximierung
zu Gunsten der Berücksichtigung allgemeiner Interessen aufgeben. Durch eine
Sozialisierung in einem gesellschaftlichen System, das auf Werten wie Kooperation,
Solidarität und Altruismus an Stelle von Konkurrenz, Eigennutzenmaximierung
und Egoismus basiert, kann dies sehr wohl möglich sein. So etwas ist aber
für viele Menschen unter den bestehen Verhältnissen nur schwer vorstellbar,
da im Kapitalismus alle gesellschaftlichen Bereiche dem Konkurrenzprinzip
unterworfen sind. Soziale Informationen im Anarchismus sind also Entscheidungen
und Werte wie Solidarität, Kooperation, Altruismus, Verantwortung und Selbstbestimmung.
Wie sieht es nun mit dem Selbstorganisationsgrad anarchistischer Entscheidungsstrukturen
aus? Unter sozialer Selbstorganisation wird verstanden, daß Individuen, die
von Strukturen betroffen sind, Eintreten, Form, Verlauf und Ergebnis des Prozesses
der Strukturetablierung selbst bestimmen und gestalten können, indem sie durch
Wechselwirkungen auf der Mikroebene Strukturen auf der Makroebene hervorbringen.
Wir können von einem mangelnden Selbstorganisationscharakter repräsentativdemokratischer
Modelle ausgehen; des weiteren ist direktdemokratischen Strukturen - wie sie
auch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht sind - , bei denen
die Entscheidungsausarbeitung von den Betroffenen entkoppelt wird, die Gefahr
eines Übergangs zu plebiszitären Modellen immanent, bei denen jegliche Selbstorganisation
erlischt und durch Führungspersonen verunmöglicht wird. So war beispielsweise
das Gesellschaftsmodell des Nationalsozialismus an Vorstellungen eines plebiszitären
Führersystems angelehnt.
Der Anarchismus koppelt die Entscheidungsfindung unmittelbar und relativ vollständig
an die Betroffenen. JedeR soll dieselbe Möglichkeit haben, Entscheidungen,
die ihn/sie betreffen, mitzugestalten. Staatskritik wird dabei immer auch
als Parlamentarismuskritik verstanden, da in einem derartigen politischen
System den Menschen die Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, abgesprochen
werde, um die Beherrschung einer Mehrheit durch eine Minderheit (vgl. z.B.
Bakunin 1995, S. 118; Bakunin 1999, S. 130f) aufrechtzuerhalten. Moderne Staatswesen
können daher kaum als Demokratien im Sinn der unmittelbaren Volksselbstbestimmung
in allen gesellschaftlichen Belangen aufgefaßt werden, sondern vielmehr als
oligarchische Systeme. AnarchistInnen wie Murray Bookchin sehen den Anarchismus
als die Form tatsächlicher Demokratie, da es hier keine Entmächtigung des
Volkes durch die Wahl von RepräsentantInnen und die Entkopplung der Entscheidungsfindung
von den Menschen, die mit den einmal getroffenen Entscheidungen leben müssen,
gäbe (vgl. z.B. Bookchin 1992, 1996).
Anarchistische Entscheidungsmodelle entsprechen daher der Vorstellung von
sozialer Selbstorganisation besser als die modernen Staatswesen, die auf repräsentativ-
und in eingeschränktem Ausmaß auf direktdemokratischen Mechanismen beruhen.
Es gilt in der anarchistischen Theorie geradezu als wesentliches Ideal, daß
Betroffene kooperieren, um durch Wechselwirkungen Entscheidungen, die einen
basisdemokratischen Rückhalt haben, hervorzubringen. Und dies ist auch der
Inbegriff sozialer Selbstorganisation.
Exklusvie soziale Informationen werden in einem sozialen System etabliert,
in dem es soziale Hierarchien gibt. Dabei üben Teilsysteme, die in der Hierarchie
weiter oben stehen, Herrschaft über weiter unten stehende Teilsysteme aus.
Außerdem zeichnet sich diese Hierarchie durch eine asymmetrische Machtverteilung
aus. In einem solchen hierarchischen sozialen System entstehen häufig Entscheidungen
dadurch, daß sie von mächtigeren Teilsystemen getroffen werden, indem sie
die Vorteile, die sie dadurch besitzen (z.B. bessere Verfügbarkeit von notwendigen
Ressourcen, Informationen, usw.), nutzen. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen
bezeichnen wir als exklusive soziale Informationen; die sozialen Informationen
in Gesetzesform, die unsere moderne Gesellschaft wesentlich prägen, sind exklusiv,
da sie von einer Minderheit, die sich alle paar Jahre durch Wahlen legitimieren
läßt und sich dadurch auch verändern kann, unter dem Ausschluß der Mehrheit
getroffen werden. Gesetze stellen also grundsätzlich immer eine Form der exklusiven
sozialen Information dar und sind daher den sozialen Selbstorganisationspotenzen
der Menschheit entgegengesetzt.
Der Anarchismus wendet sich gegen Herrschaft, Hierarchien und asymmetrische
Machtverteilungen. Es ist daher naheliegend, daß es ihm um die Eliminierung
der Dominanz exklusiver sozialer Informationen geht. Bei näherer Betrachtung
wird deutlich, daß die Vorstellungen über anarchistische Entscheidungsprozesse
tatsächlich durch inklusive soziale Informationen geprägt sind. Als inklusive
soziale Informationen sehen wir soziale Informationsstrukturen, die sich dadurch
auszeichnen, daß alle Elemente eines sozialen Systems, die von der Anwendung
der entstehenden sozialen Information betroffen sind, diese durch Wechselwirkungen
gemeinsam hervorbringen und daß jedes Individuum dieselben Möglichkeiten und
Mittel hat, um die entstehende Informationsstruktur in seinem eigenen Sinn
zu beeinflussen. Dem Anarchismus geht es um die unmittelbare Entscheidungsfindung
durch Betroffene unter Abwesenheit von Autorität, Herrschaft und Hierarchie.
Die Abwesenheit solcher Strukturen, Verhältnisse und Prozesse kann als Annäherung
an eine Symmetrisierung der Machtverhältnisse gesehen werden. Symmetrische
Macht bedeutet, daß jedeR Betroffene dieselben Möglichkeiten und Ressourcen
besitzt, entsprechende Entscheidungen im eigenen Sinn zu beeinflussen. Partizipatorische
Basisdemokratie, alle Betroffenen entscheiden alles, das sie betrifft - so
könnte ein Ideal des Anarchismus formuliert werden. Und dieses Ideal kommt
der Vorstellung der Etablierung inklusiver sozialer Information durch Prozesse
der sozialen Selbstorganisation sehr nahe.
Es kann gesagt werden, daß der Anarchismus i.A. von kleinen organisatorischen
Einheiten ausgeht, in denen basisdemokratische Entscheidungen getroffen werden.
Dabei ist es eine Streitfrage, ob ein Konsens erzielt werden sollte oder ob
Mehrheitsabstimmungen über Entwürfe, an deren Ausarbeitung alle Betroffenen
beteiligt waren, stattfinden sollten. Mehrheitsbeschlüsse erhöhen den Exklusionsgrad
demokratischer Prozesse, da der Mehrheitswille verbindlich gilt und der Wille
der Minderheit unberücksichtigt bleibt. Der Selbstorganisationsgrad sinkt
dadurch also und soziale Informationen, die in dem Sinn inklusiv sind, daß
jedeR dieselbe Möglichkeit der Gestaltung und Mitbestimmung hat, bekommen
einen zusätzlichen, nämlich exklusiven Charakter. In einer anarchistischen
Entscheidungsstruktur mit Mehrheitsprinzip haben Entscheidungen einen inklusiv-exklusiven
Charakter: Die Exklusion besteht im Mehrheitsprinzip, die Inklusion in dem
hohen Maß der Beteiligung aller Betroffenen. Konsensentscheidungen wären also
die Idealform, um inklusive soziale Informationen zu etablieren.
Allerdings müssen auch jene Einwände gegen das Konsensprinzip beachtet werden,
die Murray Bookchin und andere einbringen (vgl. z.B. Bookchin 1994): Es kann
nicht von homogenen Interessen und Meinungen ausgegangen werden, daher werden
mehrheitsfähige Meinungen Minderheitenpositionen möglicherweise unterdrücken
oder jene, die sich der Mehrheit nicht anschließen wollen, aus dem Entscheidungsprozeß
hinausdrängen. Dann entsteht ein formaler Konsens, eine formelle inklusive
soziale Information, die jedoch in dem Sinn wiederum exklusiv ist, daß der
Konsens nur ein Konsens der Mehrheit ist, die sich gegen Minderheiten wendet.
Es kann wohl keine allgemeine Empfehlung für die Anwendung von Konsens- oder
Mehrheitsprinzip von AnarchistInnen gegeben werden, da dies eine praktische
Frage ist, die einzig von Gruppen, die einen basisdemokratischen Anspruch
haben, in konkreten Situationen gelöst werden kann. Sehr wohl aber meinen
die meisten AnarchistInnen, daß ein Konsens darüber erreicht werden sollte,
ob in einer konkreten Entscheidungssituation das Konsens- oder das Mehrheitsprinzip
anzuwenden ist. Ansonsten entsteht nämlich sehr leicht Handlungsunfähigkeit.
Charakteristisch für Rätemodelle, auf die sich der Anarchismus häufig bezieht,
sind föderalistische Vorstellungen, nach denen Entscheidungen, die nicht nur
eine Organisationseinheit betreffen, sondern mehrere, in der Form von Föderationsräten
behandelt werden sollten. Im allgemeinen wird in der Demokratietheorie davon
ausgegangen, daß direkt- und basisdemokratische Entscheidungsmechanismen in
großen Organisationsstrukturen schwierig sind und für kleinere organisatorische
Einheiten geeignet sind. Im Fall von Versammlungsmodellen scheitert ein Rat,
in dem alle Betroffenen direkt miteinander diskutieren, spätestens dann, wenn
es zu viele Menschen sind, die eine Entscheidung miteinander gestalten wollen.
Zehntausende können nicht auf demokratische Weise in einer Versammlung direkt
miteinander kommunizieren. Daher sind Föderationsmodelle für den Anarchismus
naheliegend.
Nach anarchistischen Vorstellungen sind in Föderationsräten Delegierte der
unterhalb der Föderation liegenden organisatorischen Einheiten vertreten.
Die unterschiedliche Gestaltungsweise dieser Räte hat Einfluß auf den Inklusions-
und Exklusionsgrad der entstehenden sozialen Informationen. Eine wesentliche
Frage besteht darin, ob Delegierte entscheidungsbefugt sind oder ob sie als
reine kommunikative Schnittstellen betrachtet werden. Viele Rätemodelle gehen
davon aus, daß Delegierte von ihrer Basis gewählt werden sollen und jederzeit
von ihr abberufen werden können. Damit ist die Vorstellung verbunden, daß
diese Delegierten im eigenen Ermessen in Föderationsräten entscheiden. Es
entsteht damit aber die Gefahr der Loslösung von Entscheidungen von ihrer
Basis. Insbesondere ist dies problematisch, wenn es mehrere Föderationsstufen
gibt und dieselben Delegierten die Möglichkeit haben, in mehreren Stufen vertreten
zu sein und unabhängig von ihrer Basis Entscheidungen zu treffen. Es kann
dann sehr leicht, so eine häufig lautende anarchistische Kritik, zur Ausbildung
von Hierarchien und asymmetrischer Machtverteilung kommen. Ist dies der Fall,
so werden der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad der in den Föderationsräten
entstehenden sozialen Informationen deutlich abgeschwächt. Entscheidungen,
die in Föderationsräten entstehen, betreffen viele Menschen. Im beschriebenen
Fall, hat aber nicht mehr jedeR dieselbe Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen.
Delegierte haben dann mehr Macht als ihre Basis.
Wiederum anders zu betrachten ist ein horizontales Modell, das davon ausgeht,
daß Delegierte keinen Spielraum zur selbständigen Entscheidung bekommen sollten,
sondern Kommunikationsschnittstellen zwischen organisatorischen Einheiten
oder Interessensgruppen darstellen. Soll eine Entscheidung getroffen werden,
so treffen Delegierte aller Einheiten und Interessensgruppen, die davon betroffen
sind, zusammen und diskutieren das Problem. Sie können allerdings keine Entscheidungen
treffen, müssen also wiederum Rücksprache mit ihren Basen halten, deren Meinung
sich durch den übergreifenden Diskussionsprozeß möglicherweise geändert hat.
Die Delegierten vertreten die Interessen ihrer Basis in Diskussionen mit anderen
Gruppen und sind Kommunikationsschnittstellen zwischen ihrer Basis und den
Menschen, die sich in anderen Gruppen und Einheiten organisieren.
Der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad des horizontalen ist im Vergleich
zum hierarchischen Rätemodell höher, da die Delegierten darin nicht eine Kompetenz
erlangen, die es erlaubt, Entscheidungen von ihrer Basis loszulösen. Denkbar
ist es z.B., daß in derartigen Föderationsräten sehr wohl ein Konsens hergestellt
werden kann, indem die Delegierten im Auftrag ihrer jeweiligen Basis miteinander
diskutieren und die Interessen und Meinungen ihrer jeweiligen Basis darlegen.
Auch Mehrheitsentscheide in der Form von Wahlen, bei denen die Stimmen einzelner
organisatorischer Einheiten gewichtet werden, um Machtasymmetrien auf Grund
verschiedener Größen der Einheiten zu minimieren, sind vorstellbar. Eine weitere
Möglichkeit sind Mehrheitsentscheidungen, bei denen die Delegierten des Föderationsrates
im Auftrag ihrer jeweiligen Basis abstimmen. Dabei muß zuerst eine eindeutige
Festlegung der Basis erfolgen, was bei einer Abstimmung, an der alle Betroffenen
direkt beteiligt sind, nicht der Fall ist. Es muß jedoch gesagt werden, daß
auch derartige Mehrheitsentscheide auf föderaler Basis den Inklusions- und
Selbstorganisationscharakter der entstehenden sozialen Informationen schwächen.
Allgemein kann festgehalten werden, daß anarchistische Entscheidungsmodelle,
die sich durch Dezentralität, Basisdemokratie, kleinere organisatorische Einheiten,
Rätemodelle, den Föderationsgedanken und die Selbstbestimmung Betroffener
charakterisieren lassen, der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation näher
kommen als etablierte repräsentativ- und direktdemokratische (Volksentscheid,
Volksbegehren, Volksinitiative usw.) Modelle und Elemente, da sie die Etablierung
inklusiver sozialer Informationen zu einem wesentlichen Bestandteil ihres
Ansatzes machen. Es geht dabei um die Vorstellung, daß Betroffene die Entscheidungsprozesse,
als deren Ergebnisse soziale Informationsstrukturen entstehen, selbst bestimmen
und gestalten können und daß sie unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
auch die Fähigkeiten entwickeln können, dies in der Praxis durchzuführen.
Es wird von anarchistischer Seite argumentiert, daß der bestehende Gesetzes-
und Staatsfetisch sowie die kapitalistischen Verhältnisse dazu beitragen,
daß unter den herrschenden Bedingungen eine radikale Basisdemokratie, wie
sie der Anarchismus befürwortet, für die Menschen nur schwer vorstellbar ist.
Der Selbstorganisationscharakter von Repräsentativmodellen ist gering, da
Entscheidungen, von den Menschen, die von den resultierenden (exklusiven)
sozialen Informationen betroffen sind, entkoppelt werden. Moderne direktdemokratische
Vorstellungen, die sich auf große Staatswesen beziehen, tragen die Gefahr
in sich, daß damit autoritäre und plebiszitäre Elemente transportiert werden.
Die Geschichte hat gezeigt, daß Systeme mit Führungsfiguren und plebiszitären
Entscheidungsstrukturen zum Erlöschen jedes Selbstorganisationscharakters
führen. Der Selbstorganisationsgrad von direktdemokratischen Mechanismen kann
i.A. höher eingestuft als jener von repräsentativdemokratischen. Dieser Selbstorganisationsgrad
ist aber noch immer ein sehr eingeschränkter, der vielfältigen Limitierungen
und Exklusionen unterliegt. Anarchistische Entscheidungsmodelle können als
eine Alternative zum bestehenden Mangel an inklusiver sozialer Information
betrachtet werden, sie betonen die soziale Selbstorganisation und können als
eine Form partizipatorischer Basisdemokratie betrachtet werden.
Literatur:
Bakunin, Michael (1995) Gott und der Staat. Grafenau/Wien. Trotzdem/Monte
Verita
Bakunin, Michael (1999) Staatlichkeit und Anarchie. Berlin. Karin Kramer Verlag
Bookchin, Murray (1992) Die Neugestaltung der Gesellschaft. Grafenau. Trotzdem
Bookchin, Murray (1996) Die Agonie der Stadt: Aufstieg und Niedergang des
freien Bürgers. Grafenau. Trotzdem.
Bookchin, Murray (1994)
What is Communalism? In: Left Green Perspectives 31. http://www.leftgreen.org/issues/lgp31.html
Burnicki, Ralf (1998) Anarchie als Direktdemokratie: Selbstverwaltung,
Antistaatlichkeit - Eine Einführung in den Gegenstand der Anarchie. Moers.
Syndikat
Kropotkin, Peter: Gesetz und Autorität (Anarchistische Texte 2). Berlin. Libertad.
5. Auflage 1985
Marcuse, Herbert (1937) Philosophie und kritische Theorie. In: Herbert Marcuse
(1965) Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 102-127