Christian Fuchs (2005): Herbert Marcuse interkulturell gelesen.
Interkulturelle Bibliothek Band 15. Nordhausen. Bautz. ISBN 3-88309-175-8. 111
Seiten. 10 Euro.
Der Autor und das Buch
Christian Fuchs, geboren 1976, forscht in den Bereichen Gesellschaftstheorie, Wissensgesellschaft, Medientheorie.
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Kritischen Theorie Herbert Marcuses.
Marcuse war marxistischer Denker, Gesellschaftskritiker, Ideengeber der Studentenbewegung
und der Neuen Sozialen Bewegungen sowie Philosoph der Praxis. Marcuses Denken
erlaubt es, der heutigen Dominanz der affirmativen, eindimensionalen Interkulturalität
die dialektische Form der Einheit in der Vielfalt als negierende und humanistische
interkulturelle Kraft gegenüberzustellen.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf Marcuses Verständnis von Dialektik
und Kultur. Kapitel 1 beschäftigt sich mit der dialektischen Denkmethode
Marcuses, die auf Hegel und Marx basiert und auf der seine gesamte Gesellschafts-kritik
beruht. Kapitel 2 ist eine Darstellung der Kulturtheo-rie Marcuses, es wird
gezeigt, daß die spätkapitalistische Kultur eindimensional und affirmativ
ist und daß eine Alternative in der interkulturellen Form der Einheit
in der Vielfalt besteht.
Die neuen Protestbewegungen der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
stehen für die begründete, tätige Hoffnung auf eine freie, demokratische
Gesellschaft, ein radikales Befreiungs- und Praxispotenzial bleibt durch sie
aktuell. Es ist wichtig, in dieser Situation an Marcuses Einsichten anzuknüpfen,
um eine lebendige Einheit von Theorie und Praxis zu schaffen, die für Befreiung
eintritt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9
1. Dialektische Methode und Gesellschaftskritik 13
1. 1. Biographische Daten 13
1. 2. Die Methode des dialektischen Denkens bei Hegel 16
1. 3. Marcuses Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik 20
1. 4. Marcuses Auseinandersetzung mit der Marxschen Dialektik 26
1. 5. Marcuses Auseinandersetzung mit dem Positivismus und der Phänomenologie
Martin Heideggers 37
1. 6. Momente einer kritischen Theorie der Gesellschaft 43
2. Herbert Marcuses Kulturtheorie 51
2. 1. Der Kulturbegriff 51
2. 2. Triebstruktur und Kultur 58
2. 3. Die affirmative Kultur:
Der eindimensionale Mensch in der eindimensionalen Gesellschaft 74
2. 4. Kunst und Befreiung 82
2. 5. Formen der Interkulturalität 97
Der Autor und das Buch 111
Vorwort
Dieses Buch bietet eine Einführung in das Denken Herbert Marcuses unter
besonderer Berücksichtigung kultureller und interkultureller Aspekte. Marcuse
war marxistischer Denker, Gesellschaftskritiker, Ideengeber der Studentenbewegung
und der Neuen Sozialen Bewegungen sowie Philosoph der Praxis. Die zentralen
Themen des Denkens Marcuse, mit denen sich dieses Buch auseinandersetzt sind
Dialek-tik, Gesellschaftskritik und Kultur. Die vorliegende Arbeit ist in zwei
Teile gegliedert.
Kapitel 1 beschäftigt sich mit dialektischem Denken als Grundlage der Gesellschaftskritik.
Zunächst wird Marcuses Biographie umrissen (1.1.). Im Anschluß daran
wird seine Beschäftigung mit dialektischem Denken erläutert. Dialektik
beruht auf dem Ansatz von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1.2.), den Herbert
Marcuse aufgegriffen hat (1.3.) und dessen Weiterentwicklung durch Karl Marx
er zu einer Grund-lage seines Denkens gemacht hat (1.4.). Marcuses Gesellschaftskritik
ist u.a. eine Kritik des Positivismus, zur Phänomenologie und der Philosophie
Martin Heideggers verhielt sich Marcuses Denken ambivalent (1.5). Marcuse hat
die Prinzipien des dialektischen Denkens auf die Gesellschaft angewandt und
daraus die Methode der Kritischen Theorie der Gesellschaft entwickelt (1.6.).
Die Kulturtheorie ist einer der zentralen Aspekte des Den-kens von Herbert Marcuse
(Kapitel 2). Die Unterscheidung der Kategorien Kultur und Zivilisation ist die
Basis von Marcuses Kulturbegriff (2.1.). Die menschliche Triebstruktur ist für
ihn die Grundlage der Entstehung und Reproduktion von Kultur, daher nimmt eine
marxistische Interpretation der Psychoanalyse Sigmund Freuds eine entscheidende
Rolle in seiner Theorie ein (2.3). Den heute vorherrschenden, herrschaftsförmigen
Typus der Kultur bezeichnet Marcuse als affirmative Kultur, die durch eindimensionales
Denken und eine technologische Rationalität gekennzeichnet ist (2.4). Der
Bereich der Kunst ist für Marcuse ein wichtiger Aspekt der Kultur, einen
Teil seiner Gesellschafstheorie bildet daher eine ästhetische Theorie (2.5).
Formen der In-teraktion und Kommunikation von Kulturen sind von zent-raler Bedeutung
für eine Kulturtheorie, Marcuses Denken bietet wichtige Implikationen für
interkulturelles Denken (2.6.): Der Dominanz der affirmativen, eindimensionalen
Interkulturalität wird die dialektische Form der Einheit in der Vielfalt
als negierende und humanistische interkulturelle Kraft gegenübergestellt.
Der informationelle Kapitalismus ist u.a. gekennzeichnet durch eine flexible,
dezentrale Produktionsweise mit flachen Hierarchien, die die globale Organisation
der Produktion erlaubt, durch vernetzte Organisationsstrukturen, die Entstehung
von transnationalen Konzernen und integrativen Managementphilosophien, die Globalisierung
von Kommu-nikation und sozialen Beziehungen, die zunehmende Au-tomation der
Arbeit, die neoliberale Politik der Deregulierung, des Sozialabbaus und der
Privatisierung, die zune-mende Dominanz der Wirtschaft über Staat, Kultur
und Lebenswelt, die wissenschaftlich-technische Revolution, die Informatisierung
von Wirtschaft und Gesellschaft, die zunehmende Bedeutung von Dienstleistungen
und Wissensar-beit sowie den Übergang zum nationalen Wettbewerbsstaat.
Resultat dieser gesellschaftlichen Restrukturierung ist eine Verschärfung
der globalen Probleme – Armut, Arbeitslosig-keit, prekäre Arbeits-
und Lebensverhältnisse, Naturzerstörung, Krieg, Terror, Gewalt, Rassismus,
Kriminalität, Nationalismus, usw. sind unter diesen Bedingungen keine vorübergehenden
Dysfunktionalitäten, sondern die irrationalen Dauererscheinungen einer
anhaltenden Krise des kapitalis-tischen Weltsystems. Der Teufelskreis von Gewalt
und Zerstörung hat sich nach den Terroranschlägen vom 11. Se-tember
2001 beschleunigt. Die Möglichkeiten für eine befriedetes Dasein aller
Menschen in Wohlstand und Glück sind paradoxerweise heute aber so groß
wie nie zuvor, denn die materiellen und technischen Bedingungen für eine
derartige Gesellschaft sind im informationellen Kapitalismus gegeben und sind
durch die Computerisierung weit vorangetrieben worden. Mangel und Zerstörung
werden künstlich durch Herrschaftsinteressen aufrechterhalten, den Menschen
wird durch Politik, Konsum und Massenmedien vermittelt, daß das kapitalistische
Sein das einzig mögliche und wünschenswerte gesellschaftliche Sein
darstellt. In dieser Situation ist eine Beschäftigung mit den Ideen Herbert
Marcuses fruchtvoll, denn er hat Tendenzen in Politik, Kultur, Technik und Wirtschaft
analysiert und kritisiert, die sich heute immer mehr durchsetzen.
Protestbewegungen wie die Bewegung für eine demokratische und partizipative
Form der Globalisierung oder die Open Source-Bewegung stellen die dominanten
Werte des Kapitalismus, die auf umfassende Zerstörung hinauslaufen, in
Frage, sie sind Fürsprecher für eine Welt der Kooperation, der Partizipation
und der Selbstorganisation. Marcuses Ideen zu gesellschaftlicher Entwicklung,
politischem Protest und gesellschaftlichen Alternativen verdienen unter diesen
Umständen erneute Beachtung und können ein Anstoß und ein Beitrag
zur Innovation fortschrittlichen politischen Denkens und einer darauf basierenden
Praxis sein.
Chancen und Risiken sind im Spätkapitalismus aneinander scharf widerstreitende
Tendenzen. Kooperation, Informatisierung, Vernetzung und Globalisierung als
zentrale Momente der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung beinhalten zugleich
progressive und gefährliche Möglichkeit. Eine Beschäftigung mit
dem Denken Marcuses kann den Sinn für kritisches Denken erneuern, das heute
notwendig ist, um Risiken zu unterbinden und Chancen zu fördern.
Eine wichtige Einsicht Herbert Marcuses war, daß im Spätkapitalismus
die technischen Voraussetzungen für eine Welt ohne Hunger und harter Arbeit,
in der alle Menschen in Wohlstand, Glück und Frieden leben, gegeben sind,
daß die technischen Errungenschaften jedoch in eine Macht der Destruktion,
Herrschaft, Kontrolle und Manipulation umschlagen, die positive Veränderungen
verhindert. Es entstehen zugleich Befreiungs- und Unterdrückungspotenziale.
Diese These steht in einem Zusammenhang mit Marcuses kontinuierlicher Beschäftigung
mit den Themen Technik und Politik. Eine Einführung in Marcuses Techniksoziologie
und seine politische Theorie bildet einen Teil des Sammelbandes »Emanzipation!
Technik und Politik bei Herbert Marcuse« (Christian Fuchs, 2005), der
als eine Ergänzung und Erweiterung der vorliegenden Einführung in
das Marcusesche Denken gesehen werden kann.
Ich danke Eva Horak für Lektorat, Diskussion und Kritik.
Wien, April 2005.
Christian Fuchs