Zur Aktualität ausgewählter
Aspekte des Werks Herbert Marcuses
Christian Fuchs
christian@igw.tuwien.ac.at
English version/Englische Version: On the Topicality of Selected Aspects of Herbert Marcuse's Works
Abstract
Ziel dieser Arbeit ist die Diskussion ausgewählter Aspekte des Werks Herbert
Marcuse in Bezug auf den postfordistischen, neoliberalen, informationsgesellschaftlichen
Kapitalismus. Während die materiellen Bedingungen einen unmittelbaren Übergang
ins Reich der Freiheit immer näher zu legen scheinen, setzt sich die eindimensionale
Gesellschaft immer stärker ins Bewusstsein der Menschen fort. In dieser Situation
globaler Krise und Ohnmacht sind Marcuses dialektische Begriff von Technik,
Demokratie und Kultur entscheidend. Ebenso Marcuses Dialektik der Befreiung.
Während Befreiung subjektiv infolge von Verbürgerlichungsprozessen immer unwahrscheinlicher
zu werden scheint, wäre sie objektiv naheliegend. Gerade heute sind Marcuses
Utopismus und seine Philosophie der Praxis von wesentlicher Bedeutung. Die Suche
nach potentiellen revolutionären Subjekten und die Stärkung deren Selbstorganisation
sind Aufgabe einer dialektischen Einheit von Theorie und Praxis. Noch immer
gilt eine von Marcuses wesentlichen Thesen, nämlich dass wir "zwischen zwei
einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. dass die fortgeschrittene
Industriegesellschaft imstande ist, qualitative Änderung für die absehbare Zukunft
zu unterbinden; 2. dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung
durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, dass eine
klare Antwort gegeben werden kann".
Einleitung: Theorie und Praxis
1. Technik und Utopie
2. Revolutionäres Subjekt
3. Demokratie und Faschismus
4. Kultur
5. Beschluss
Einleitung: Theorie und Praxis
Die komplexe Einheit von Theorie und Praxis wird von Linken heute häufig auf eines der beiden Elemente reduziert. Entweder wird davon ausgegangen, dass Theorie nicht notwendig ist, da emanzipatorische Politik ausschließlich praktisch möglich ist, oder die Möglichkeit, Theorie in Praxis zu übersetzen, wird als aussichtslos erachtet. Beides erscheint uns jedoch verkürzt. Die Voraussetzung jeder politischen Praxis ist eine Theorie, die diese entwirft und ihre Möglichkeiten verdeutlicht. Theorie bleibt andererseits wirkungslos, wenn sie nicht auf konkrete gesellschaftliche Kämpfe bezogen wird und darin eingeht..
Herbert Marcuse hatte das
Verhältnis von Theorie und Praxis als dialektisch erkannt. Ein kritisches praktisches
Handeln muss wissen, worauf es sich bezieht, was es verändern will und wogegen
bzw. wohin eine Aufhebungsbewegung stattfinden soll. Und eine Theorie, die nicht
die geschichtlichen Gegebenheiten darlegt, sich also nicht permanent weiterentwickelt,
ist für eine Praxis untauglich. „Eine Theorie, welche die Praxis des Kapitalismus
nicht eingeholt hat, kann schwerlich eine Praxis anleiten, die darauf abzielt,
den Kapitalismus aufzuheben“ (Marcuse 1972, S. 40). Eine kritische Theorie der
Gesellschaft kann die Rolle spielen, bestehende Verhältnisse und die Möglichkeit
deren Veränderung zu verdeutlichen. Was sie leisten kann, ist das Bewusstmachen
der Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift
ist. Sie umfasst immer auch die Anregung zur Phantasie, denn als Einbildungskraft
bezeichnet diese „einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit
inmitten einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandenen kann
sie die Zukunft vorwegnehmen“ (Marcuse 1937a, S. 122). Kritische Theorie kann
verdeutlichen, zu welchen Möglichkeiten die historische Situation herangereift
ist, und sie kann einen Begriff davon liefern, wie sich die praktisch in Frage
gestellten Strukturen und Verhältnisse und damit auch die Bedingungen für gesellschaftlichen
Wandel und damit für politische Praxis verändern. Kritische Theorie „hat eine
antizipierende, kritische Qualität. Auf Grund der Analyse der gegebenen Gesellschaft
projiziert, entwirft die Theorie mögliche Praxis. [...] Sie bestimmt das Allgemeine
im Besonderen; sie bringt die unmittelbaren, konkreten Erscheinungsformen der
gegebenen Gesellschaft auf ihren Begriff, und sie begreift Tendenzen, die in
der Praxis abgebogen und blockiert werden können“ (Marcuse 1975, Theorie und
Praxis, S. 143).
Theorie ist notwendig, um
„die Welt zu begreifen“, in der wir leben – „sie im Hinblick auf das zu verstehen,
was sie dem Menschen angetan hat und was sie dem Menschen antun kann“ (Marcuse
1967, S. 198). Kritische Theorie unterscheidet sich auch sprachlich von der
Wirklichkeit, denn diese ist wesentlich geprägt durch eine herrschende, eindimensionale
Sprache, die komplexe Zusammenhänge nicht adäquat darstellen kann (vgl. ebd.,
S. 207f). Indem die Rationalität des Irrationalen und die Irrationalität des
Rationalen in der bestehenden Gesellschaft aufgedeckt wird, wird kritische Theorie
praktisch: „Das kritische Denken ist bestrebt, den irrationalen Charakter der
bestehenden Rationalität (der immer offenkundiger wird) und die Tendenzen zu
bestimmen, die diese Rationalität dazu veranlassen, ihre eigene Transformation
hervorzubringen“ (ebd., S. 238).
Gerade auch in der heutigen
Phase des Kapitalismus, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse immer prekärer
werden, die materiellen Voraussetzungen der Befreiung aber naheliegend wären,
gleichzeitig den Menschen radikaler sozialer Wandel aber immer gleichgültiger
und die bestehende Totalität immer selbstverständlicher zu werden scheint, ist
eine Vermittlung von Theorie und Praxis von großer Bedeutung. Die Kritische
Theorie Herbert Marcuses hat durch die Krise der Gesellschaft, die auch Krise
der Linken und des Marxismus ist, nicht an Aktualität verloren. Ganz im Gegenteil,
durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems hat sich nicht gezeigt, dass der Kapitalismus
die bessere Alternative ist, sondern dass sowohl Staatssozialismus, als auch
die Formen des westlichen Kapitalismus eine sozial und ökologisch nachhaltige
Entwicklung nicht garantieren können. Von letztem zeugt die Ausdehnung der globalen
Probleme und die anhaltende Krise des Weltsystems. Die Überlegungen von Marcuse
(und auch jene von Marx) sind in dieser Situation der gesamtgesellschaftlichen
Krise wesentlich, wenn eine Transformation hin zu einer Gesellschaft stattfinden
soll, die den Menschen ein humanes Auskommen bietet.
Marcuses
Werk ist dabei in vielerlei Hinsicht relevant. Ich möchte an dieser Stelle vier
Aspekte herausgreifen, die mir persönlich besonders wichtig sind und deren Aktualität
diskutieren. Es gäbe weitere, die hier allerdings nicht berücksichtigt werden
können. Aufgreifen möchte ich Aspekte über 1. Technik und Utopie, 2. revolutionäres
Subjekt, 3. Demokratie und Faschismus, 4. Kultur.
1.
Technik und Utopie
Technik
bedeutet für Marcuse zunächst ganz allgemein „von Menschenhand geschaffene Entitäten,
durch die Veränderung ‚natürlicher’ Bedingungen“ hervorgebracht werden (Marcuse
1961, S. 49). Im Kapitalismus werde die Technik zum Selbstzweck, nicht mehr
das Leben als Zweck stehe im Vordergrund, sondern das Leben als Mittel: „[...]
geht die fortgeschrittene Industriegesellschaft weiterhin von der Notwendigkeit
aus, das Leben der Arbeit unterzuordnen und nicht als Zweck in sich zu betrachten.
So verstanden ist ihre Produktivität Selbstzweck und Selbstzerstörung zugleich,
weil sie ein destruktives Potential hervorbringt, das sich nicht nur in den
mit Vernichtungswaffen vollgestellten Arsenalen, sondern auch in der nach innen
gerichteten Unterdrückung zeigt“ (Marcuse 1961, S. 44).
Unter
Technik verstehe ich allgemein die zweckmäßig orientierte Einheit der Mittel,
Verfahren, Fertigkeiten und Prozesse, die notwendig sind, um definierte Ziele
zu erreichen.
Meine
persönliche Sichtweise, die auch für die modernen und neuen Technologien uneingeschränkt
gilt, ist folgende: Technik ist in die Antagonismen des Kapitalismus eingebunden
und produziert diese mit. Sie ist im Kapitalismus immer antagonistische Technik.
Es besteht eine Umkehr der Zweck-Mittel-Relation: Es werden nicht mehr Zwecke
identifiziert, zu deren Erreichen Technik ein Hilfsmittel ist, sondern Technik
wird zum Selbstzweck. D.h., ihr Hauptsinn besteht nun in der effektiven Organisation
der Kapitalakkumulation in Form des technischen Produktionsmittels. Sie dient
nicht mehr vorwiegend den Menschen zur Erleichterung ihres Daseins im Rahmen
der Vermittlung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, sondern der Ausbeutung
der Arbeitenden durch das Kapital und der Produktion des Mehrwerts. Technik
ist im Kapitalismus Mittel zur Produktion von relativem Mehrwert. Ein Antagonismus
besteht nun darin, dass die Technik zwar grundsätzlich dem Menschen sein Dasein
erleichtert, dass sie aber im Kapitalismus zum Mittel von Herrschaft und Ausbeutung
wird, das zur Zerstörung von Mensch und Natur beiträgt. Die Rate des Mehrwerts
wird im Rahmen des Technikeinsatzes dadurch vergrößert, das die Technik die
notwendige Arbeiterzahl verkleinert. Technik anonymisiert und entpersonalisiert
Herrschaft, sie tritt zwischen Arbeiter und Kapitalist. Die Lohnarbeitenden
sind im Kapitalismus Anhängsel des fixen Kapitals. Einerseits technisch, da
die Arbeitsmittel nicht von einzelnen Individuen beherrscht werden können, sondern
nur im Rahmen der Arbeitsteilung (Trennung von Produzent und Produktionsmittel).
Die doppelte „Freiheit“ der Lohnarbeitenden verweist dabei auch darauf, dass
die Produktionsmittel nicht den unmittelbaren ProduzentInnen gehören. Andererseits
auch sozial, da die Arbeitsmittel den Arbeitenden als Kapital gegenübertreten.
Ähnliche
Ansichten vertrat auch Marcuse: Die Aufgabe der Technik im Kapitalismus sei
es, neue Formen sozialer Kontrolle zu etablieren. Diese Kontrollen hätten eine
totalitäre Tendenz. Daher könne keine Neutralität der Technik behauptet werden.
Die Massenmedien, der Rundfunk und das Fernsehen hätten im Kapitalismus eine
bewusstseinsprägende Rolle der Manipulation. Im Kapitalismus ist also Technologie
für Marcuse eine Form sozialer Kontrolle und Herrschaft. Die technischen Apparaturen
würden „die gesellschaftlich erforderlichen Bedürfnisse, Beschäftigungsverhältnisse,
Fähigkeiten, Einstellungen – und somit die Formen der gesellschaftlichen Kontrolle
und des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ (Marcuse 1961, S. 45) bestimmen, daher
sei die Technik nicht neutral.
„In
der gegenwärtigen Lage herrschen die negativen Züge der Automation vor: Antreiberei,
technologische Arbeitslosigkeit, Stärkung der Position der Betriebsführung,
zunehmende Ohnmacht und Resignation seitens der Arbeiter. Die Aufstiegschancen
nehmen ab, da die Betriebsführung Ingenieure und Hochschulabsolventen vorzieht“
(Marcuse 1967, S. 50).
Die
Produktionstechnik des Kapitalismus verändere das Bewusstsein der Arbeitenden
auch in folgendem Sinn: Die Fixierung der Arbeit auf automatische und halbautomatische
Reaktionen sei eine „anstrengende, abstumpfende, unmenschliche Sklaverei“ (Marcuse
1967, S. 45). Kapitalistische Anwendung der Technik ließe sich durch die Formel
„technischer Fortschritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum = größere
Knechtschaft“ (Marcuse 1972, S. 13) zusammenfassen. „Zu den ohnehin vorhandenen
Mitteln und Möglichkeiten von Knebelung, von Apathisierung und Kontrollierung
der Bevölkerung ist ein neues Moment hinzugetreten. Es ist in hohem Maße verknüpft
mit dem Standard des technischen Fortschritts, mit der Computerisierung, mit
der technischen Perfektionierung der Datensammlung und der Überwachung“ (Marcuse
1978, S. 139).
Marcuse
beschreibt auch bereits eine Tendenz dazu, dass in einigen Betrieben die Arbeitenden
ein ernsthaftes Interesse am Betrieb zeigen. 30 Jahre später ist diese „Mitbeteiligung
der Arbeiter“ unter dem Stichwort „partizipatives Management“ einer der bedeutendsten
aktuellen Bestandteile der Managementtheorie und neuer Strategien der Unternehmensführung.
Der Kapitalismus wird dadurch nicht humanisiert, sondern bleibt falsche Totalität,
die durch den Transfer von Quanta lebendiger Arbeit bestimmt wird, währende
das Bewusstsein der Ausgebeuteten immer identischer mit jenem der Ausbeuter
wird.
Durch
die Automatisierung, so Marcuse, werde immer weniger lebendige Arbeitskraft
notwendig, die sich in tote Arbeit (in Form der Vergegenständlichung in der
Ware) verwandelt. Dies bedeute eine tendenzielle Aufhebung des Wertgesetzes
und der Marxschen Begriffe des Mehrwerts und der organischen Zusammensetzung
des Kapitals. Damit ist gemeint, dass, wenn die industrielle Arbeit immer weniger
wird, die klassischen Kategorien, mit denen sie in der Theorie beschrieben wurde,
ebenfalls immer weniger anwendbar werden.
Einerseits
zeige sich im Kapitalismus eine Tendenz zur Aufhebung der Arbeit, andererseits
aber solle die Arbeit als Profitquelle erhalten bleiben. Aus diesem Widerspruch
entstünden Probleme wie technologisch bedingte Arbeitslosigkeit und Armut.
Max
Horkheimer (1946) sprach von der instrumentellen Vernunft, Herbert Marcuse von
der technologischen Rationalität. Damit meinten sie das Phänomen, dass in der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft Nichtselbstverständliches als selbstverständlich
erscheint. Es bedarf keinen zusätzlichen Anstrengungen mehr, gewisse Reaktionen
werden quasi automatisiert, sie werden nicht mehr hinterfragt. „Entscheidend
an dieser Verhaltensweise – die alle Aktivitäten zu einer Abfolge halb-spontaner
Reaktionen auf vorgegebene, technische Maßregeln verschmilzt – ist, dass sie
nicht nur völlig zweckrational, sondern ebenso völlig einsichtig ist“ (Marcuse
1941, S. 293). Diese Wirkungsweisen, in die Technologien widersprüchlich eingebettet
sind, beschrieb Marcuse im Eindimensionalen Menschen und vielen anderen Schriften
für den Kapitalismus. Bereits in seinen Analysen des Faschismus hatte er eben
dies aber auch als charakteristisch für den Faschismus bezeichnet. Typisch für
die deutsche Mentalität sei ein brutaler Pragmatismus. „Er [Der deutsche Pragmatiker]
betrachtet auch das totalitäre Regime einzig unter dem Gesichtspunkt des eigenen
direkten materiellen Vorteils. Er hat seine Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen
an die vom Nationalsozialismus zu einer machtvollen Eroberungswaffe geschmiedete
technologische Rationalität angepasst“ (Marcuse 1942, S. 25).
Im
deutschen Faschismus seien die Menschen Anhängsel der Produktions-, Zerstörungs-
und Kommunikationsinstrumente, obwohl sie dabei noch mit großer Initiative,
Spontaneität und Persönlichkeit arbeiten, seien ihre individuellen Leistungen
ganz an die Operationsweise dieser Maschine angepasst. Die Kampfmoral sei zum
Bestandteil der Technologie geworden, es ginge auch um den Einsatz mentaler
Technologien (vgl. Marcuse 1942, S. 47f). „Demzufolge sind im Nationalsozialismus
alle Maßstäbe und Werte, alle Denk- und Verhaltensmuster durch die Notwendigkeit
des unaufhörlichen Funktionierens der Produktions-, Destruktions- und Herrschaftsmaschinerie
bestimmt“ (Marcuse 1942, S. 48)
Unter
Technik können wir allgemein die zweckmäßig orientierte Einheit der Mittel,
Verfahren, Fertigkeiten und Prozesse verstehen, die notwendig sind, um definierte
Ziele zu erreichen. Sie steht in einem wechselseitigen Verhältnis zur Gesellschaft.
Je nachdem, wie dieses Verhältnis gefasst wird, können unterschiedliche Positionen
unterschieden werden: Wird die Technik als eine die Gesellschaft determinierende
Größe betrachtet, so kann von einem Technikdeterminismus gesprochen werden.
Dabei wird oft angenommen, dass die Folgen des Technikeinsatzes aus Eigenschaften
der Technik selbst entspringen. Wird das Hauptgewicht auf die Betonung der Technikgenese
(=Technikentwicklung) in dem Sinn gelegt, dass die Gesellschaft den Einsatz
und die Auswirkungen von Technologien determiniert, so kann von Sozialkonstruktivismus
gesprochen werden (ein typisches Beispiel dafür sind die Schriften von Bruno
Latour zum Technikbegriff, etwa Latour 1987). Dieser geht davon aus, dass die
Technikgenese ein gesellschaftlicher Prozess ist, durch den Technologien als
Produkte sozialen Handeln entstehen. Diese Position geht davon aus, dass Technik
ein soziales Konstrukt ist und dass die Folgen des Technikeinsatzes durch die
soziale Konstruktion schon in die Technik eingebaut sind. Dies bedeutet, dass
der Einsatz einer Technologie gewisse Folgen nach sich ziehen muss,
da sie schon im sozialen Entstehungsprozess der Technik angelegt sind. Möglicherweise
wird bei solchen Ansätzen übersehen, dass der Einsatz von Technologien eine
Eigendynamik gewinnen kann, die nichtvorhersehbare Folgen nach sich zieht. Weiters
kann entgegengehalten werden, dass nicht generalisiert werden kann, dass alle
Technologien automatisch bestimmte Folgen nach sich ziehen.
Neben
Technikdeterminismus und Sozialkonstruktivismus ist auch eine dialektische Position
in Bezug auf das Verhältnis von Technik und Gesellschaft vorstellbar: Technik
und Gesellschaft stehen in einem dialektischen Verhältnis, es bestehen wechselseitige
Abhängigkeiten und Wechselwirkungen. Technik kann auf einer Mikroebene (die
Ebene der Teile eines Systems) als Teilsystem der Gesellschaft (Makroebene)
gesehen werden. Die Wirkung der Gesellschaft auf die Technik besteht darin,
dass der Mensch die Technik gestalten kann und über den Technikeinsatz und dessen
Form entscheidet. Da die Technik auf die Gesellschaft rückwirkt, entstehen soziale
Auswirkungen des Technikeinsatzes. Diese sind nicht immer vorhersehbar, oft
entstehen unerwünschte Folgen. Der Technikeinsatz kann gesellschaftliche Probleme,
die als emergente Phänomene der Gesellschaft gesehen werden können, erzeugen.
Emergenz bedeutet dabei das Auftauchen neuer Systemeigenschaften, die nicht
auf die Teile des Systems zurückgeführt werden können.
Eine
solche dialektische Herangehensweise ermöglicht eine ausreichende Berücksichtigung
der Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft. Sowohl Technikgenese
als auch Technikfolgenabschätzung wird in einem solchen Ansatz gleichermaßen
berücksichtigt. Der Technikdeterminismus ist eine reduktionistische Herangehensweise
in dem Sinn, dass er soziale Probleme auf ein Teilsystem der Gesellschaft, nämlich
das technische, reduziert. Der Sozialkonstruktivismus kann als projektionistisch
angesehen werden, da er soziale Prozesse und soziales Handeln auf Technik projiziert,
indem behauptet wird, dass die Folgen der Technik in diese bereits unwiderruflich
durch ihren sozialen Entstehungsprozess eingebaut werden. Dialektische Herangehensweisen
gehen hingegen davon aus, dass Widersprüche sich einerseits bedingen und anderseits
ausschließen. Sie sagen nicht: Entweder dies oder jenes. Sondern: Beides ist
gleichzeitig möglich. D.h.: Technik beeinflusst Gesellschaft und Gesellschaft
beeinflusst Technik. Eine weitere Unterscheidung, die gemacht werden kann, ist
jene zwischen Technikpessimismus und Technikoptimismus: Wird der Einfluss von
Technik auf Gesellschaft bzw. von Gesellschaft auf Technik in einem positiven
Licht gesehen, kann von Technikoptimismus gesprochen werden, wird er negativ
interpretiert, so sprechen wir vom Technikpessimismus. Dass Marcuses Technikbegriff
als dialektisch verstanden werden sollte, möchte ich nun darlegen.
Technik
sei nicht, so nun Marcuse, so wie von Max Weber und Arnold Gehlen angenommen,
wertfrei. In der kapitalistischen Gesellschaft, die totalitäre Züge angenommen
habe, könne Technik nicht von ihrem Gebrauch abgelöst werden. Die technologische
Gesellschaft sei ein Herrschaftssystem, dieses sei bereits bei der Konstruktion
der Techniken wirksam (Marcuse 1967, S. 18). An manchen Stellen kann bei der
Lektüre von Marcuse der Eindruck entstehen, dass er die Technik in deterministischer
Manier selbst als Herrschaft betrachtet und nicht ausreichend berücksichtigt,
dass die kapitalistische Herrschaft als eine personale Herrschaftsform betrachtet
werden kann, in der die Technik Mittel zur Ausübung von Herrschaft ist: „Nicht
erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur
und über den Menschen)“ (Marcuse 1965b, S. 179).
Solche
Stellen sind aber nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Im Allgemeinen geht
Marcuse davon aus, dass Technik ein dialektischer Begriff in dem Sinn ist, dass
sie, abhängig
von
ihrer Einbettung in die Gesellschaft und der Gestaltung der Rahmenbedingungen
des Einsatzes, durchwegs unterschiedlich verwendet werden kann. Wegen solchen
vereinzelten Passagen wurde Marcuse aber immer wieder in dieselbe Reihe mit
Technikdeterministen wie Spengler, Schelsky, Gehlen, Freyer, Ellul, Heidegger,
Jünger, Habermas oder Mumford gestellt. Die manchmal widersprüchlichen Aussagen
Marcuses ermöglichten es Kritikern, ihn falsch zu interpretieren, und ihn als
„bürgerlichen“ Denker hinzustellen. Tatsächlich ist Marcuses Technikbegriff
aber als ein dialektischer zu betrachten. Die bürgerlichen Technikpessimisten
kritisierte Marcuse an vielen Stellen. „[...] dienen alle Programme mit anti-technologischem
Charakter, alle Propaganda für eine anti-industrielle Revolution nur denjenigen,
die die menschlichen Bedürfnisse als Nebenprodukt der Verwertung von Technik
betrachten. Die Feinde der Technik arbeiten bereitwillig der terroristischen
Technokratie in die Hände. Die Philosophie des einfachen Lebens, der Kampf gegen
die Großstädte und deren Kultur dient gegenwärtig dazu, den Menschen Misstrauen
den möglichen Instrumenten ihrer Befreiung gegenüber einzuflößen“ (Marcuse 1941,
S. 315f).
Wenn
Marcuse meint, die Herrschaft sei eine Technologie (Marcuse, 1967, S. 173),
so ist dies nicht technikdeterministisch in dem Sinn zu verstehen, dass die
Technik selbst Herrschaft bedeute, sondern so,
dass neben der Herrschaftsausübung mittels Technik im Kapitalismus noch zu beachten
ist, dass die Ausübung von Herrschaft selbst als eine spezielle Form des allgemeinen
Begriffes Technik verstanden werden kann: als Sozialtechnologie.
Marcuses
Ablehnung des Technikdeterminismus wird auch in folgendem Zitat deutlich: „Technik
als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht
wird; die technische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im
Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist“ (Marcuse 1967, S. 18).
Technik
bedeutet für Marcuse weder an sich Herrschaft, noch Befreiung, aber auch nicht
Neutralität. Befreiung sei in erster Linie ein sozialer Prozess, der ein bestimmtes
Niveau der Produktivkräfte voraussetze, sich aber gesellschaftlich und im Rahmen
sozialer Kämpfe durchsetze. „die wahrhaft befreienden Wirkungen der Technik
sind im technischen Fortschritt als solchem nicht enthalten; sie setzen gesellschaftliche
Veränderungen voraus, die sich auch auf die grundlegenden ökonomischen Institutionen
und Verhältnisse erstrecken“ (Marcuse 1957, S. 238).
Marcuse
hat einen dialektischen Technikbegriff: Er geht zwar davon aus, dass die Technik
im Kapitalismus so verwendet wird, dass sie ein Mittel ist, um die Menschen
gleichzuschalten und ohnmächtig zu halten. Ein freiheitlicher Gebrauch der Technik
scheint ihm unter diesen Umständen nicht möglich. Unter postkapitalistischen
Verhältnissen, so Marcuse, kann Technik so eingesetzt werden, dass sie die gesellschaftlich
notwendige Arbeit, die durch den Menschen zu verrichten ist, auf ein Minimum
reduziert und ihm ein höchstes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung garantiert.
Der Einsatz von Technik bedeute dann nicht Gleichschaltung, Manipulation und
Ende der Individualität, sondern die Möglichkeit eines Wohlstandes für alle,
eines „Daseins in freier Zeit auf der Basis befriedigter
Marcuse
weist immer wieder darauf hin, dass bestimmte technische Entwicklungen zwar
durchwegs Basis für die historische Stufe der Menschheit sind, „auf der diese
technisch imstande ist, eine Welt des Friedens zu schaffen – eine Welt ohne
Ausbeutung, Elend und Angst“ (Marcuse 1965a, S. 123), „eine technische und natürliche
Umwelt [...], in der nicht länger Gewalt, Hässlichkeit, Beschränktheit und Brutalität“
dominieren (Marcuse 1972, S. 12). Genauso sei aber auch möglich, dass technische
Entwicklung zur Ausbildung einer Standardisierung des Denkens und des Handelns,
einer technologischen Rationalität, einem eindimensionalen und falschen Bewusstsein
sowie falschen Bedürfnissen beiträgt. Marcuse betont immer wieder diese Ambivalenz
der Wirkungsweisen moderner Technologien, dass eben nicht determiniert ist,
welche Entwicklung dominiert und dass sich grundsätzlicher gesellschaftlicher
Wandel nicht notwendigerweise durchsetzt. So meint er etwa: „Ich möchte nochmals
hervorheben, dass ich diese [technische] Entwicklung (noch) nicht bewerte: sie
kann fortschrittlich oder regressiv, humanisierend oder fortschrittlich sein“
(1966b, S. 172). Oder: „Die Technik selbst kann Autoritarismus ebenso fördern
wie Freiheit, den Mangel so gut wie den Überfluss, die Ausweitung von Schwerstarbeit
wie deren Abschaffung“ (Marcuse 1941, S. 286). Es sei „nicht die Technologie,
nicht die Technik und nicht die Maschine Hebel der Unterdrückung [...], sondern
die ihnen innewohnende Gegenwart der Herren, die ihre Zahl, ihre Lebensdauer,
ihre Macht, ihren Platz im Leben und das Bedürfnis nach ihnen bestimmen“.
Heute
finden wir in der Techniksoziologie einerseits extrem technikoptimistische Positionen,
die mit dem Aufstieg der neuen Technologien die Hoffnung auf allgemeinen Wohlstand,
Frieden und Reichtum verbinden, andererseits extrem technikpessimistische Argumentationen
wie etwa in diversen Formen des Öko- und Radikal-Feminismus, die moderne Technik
als inhärent patriarchal, menschenverachtend, rassistisch und faschistisch betrachten
und ein Zurück zu einer einfachen, auf Subsistenzproduktion basierenden Gesellschaftsformation
propagieren. Beide Formen erscheinen als Verkürzungen, die das Verhältnis von
Technik und Gesellschaft nicht als dialektisch begreifen.
Im
Gegensatz dazu stehen dialektische Techniksoziologien wie jene von Marcuse oder
Marx, die weder extrem technikoptimistisch, noch extrem technikpessimistisch
argumentieren, sondern davon ausgehen, dass gesellschaftliche Probleme, die
mit Technologien in einem Zusammenhang stehen, nicht von den Technologien selbst
verursacht werden, sondern von ihrer kapitalistischen Anwendung.
Bereits
Marx hatte sehr gut begriffen, dass es nicht die Maschinerie an sich ist, die
zu sozialen Problemen wie der Arbeitslosigkeit führt. Diese Probleme entstünden
viel mehr aus der kapitalistischen Anwendung von Maschinen. Maschinen seien
eigentlich „das gewaltigste Mittel, die Produktivität der Arbeit zu steigern,
d.h. die zur Produktion einer Ware nötige Arbeitszeit zu verkürzen“[1] (Marx 1867, S. 425). Und
das bewertet Marx an sich positiv, denn die Freiheit könne erst dort beginnen,
wo die Lohnarbeit aufgehört habe: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat
erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist,
aufhört“ (Marx 1894, S. 828).
Für
Marx ist der Technikdeterminismus ein Mittel bürgerlicher Denker, um den möglicherweise
Widerstand leistenden Arbeitenden einzureden, der Gegner sei nicht die kapitalistische
Anwendung der Technik, sondern die Technik selbst. In der folgenden Passage
wird Marxens dialektischer Technikbegriff schön zusammengefasst: „Die von der
kapitalistischen Anwendung der Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen
existieren nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachsen, sondern
aus ihrer kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet
die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag
verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität
steigert, [...]“ (Marx 1867, S. 465).
Marx’
Technikbegriff ist dialektisch: Technik wäre für ihn prinzipiell ein Mittel,
um den Menschen das Leben einfacher zu machen und ihnen mehr Zeit und Raum für
die freie und selbstbestimmte Gestaltung ihres Lebens zu ermöglichen. In einer
freien Gesellschaft ermögliche Automatisierung und technischer Fortschritt die
Entwicklung der Menschen zu allseitigen Individuen[2] in einer Gesellschaft,
in der „Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern
sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine
Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes
zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben,
nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer,
Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Marx/Engels 1845/46, S. 33).
Durch die kapitalistische Anwendung der Technik zeige sich aber genau das Gegenteil: Verlängerung des Arbeitstages, Arbeitslosigkeit und Armut. Marx verfällt also weder in Technikoptimismus noch -pessimismus, sondern meint: Es ist sowohl ein Einsatz der Maschinerie mit positiven als auch einer mit negativen Folgen für die Menschheit möglich. Dies sei jedoch abhängig vom sozialen Einsatz der Technik, insbesondere vom ökonomischen System. Ausschlaggebend seien immer die Formen der Einbettung der Technik in die Gesellschaft und die Art der komplexen Vermittlung des Verhältnisses von Technik und Gesellschaft. Im Kapitalismus ist für Marx ein sinnvoller Technikeinsatz nicht vorstellbar. Er betont sowohl die Folgen des kapitalistischen Einsatzes der Technik (Wirkung von Technik auf Gesellschaft) als auch die Bedeutung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Technikeinsatzes (Wirkung von Gesellschaft auf Technik).
Die
Aktualität eines dialektischen Technikbegriffs in der Tradition von Marcuse
und Marx zeigt sich gerade auch in Bezug auf die Computertechnologie- und die
modernen Informations- und Kommunikationssysteme. Eine Bewertung der modernen
Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologien sollte daher durchwegs
ambivalent ausfallen: Sie führen einerseits zur Restrukturierung, Dezentralisierung
und Flexibilisierung der kapitalistischen Produktion, sie leisten der Derealisierung,
Simulation und Virtualisierung der Realität Vorschub, sie maximieren das Zerstörungspotential
der Kriegsmaschinerie, sie produzieren unter kapitalistischen Verhältnissen
Widersprüche und tragen dabei prinzipiell zu einer Verschärfung der globalen
Probleme bei, sie verstärken die Arbeitslosigkeit, führen zu Dequalifizerungsprozessen
und Spaltungen am Arbeitsmarkt, sie verstärken die Kontroll- und Überwachungspotentiale,
sind Medium und Resultat der Rationalisierung und ökonomischen Globalisierung
und daher auch in die damit verbundenen gesellschaftlichen Probleme funktional
integriert, sie ermöglichen betriebliche Restrukturierungen in verschiedenen
Dimensionen und werden vorwiegend im Sinn der Profitmaximierung eingesetzt.
Ebenso reproduzieren sich gesellschaftliche Ungleichheiten im Cyberspace. Andererseits
ermöglichen die neuen Medien auch die Konstruktion von und das Spiel mit Identitäten,
sie können den Zugang zu Informationen, den Informationsaustausch, die
Kooperation und die Kommunikation prinzipiell erleichtern, sie können einen
kulturellen Austausch und eine kulturelle Einheit in der Vielfalt prinzipiell
vermitteln, sie führen zur Verringerung der durch den Menschen zu leistenden
gesellschaftlich notwendigen Arbeit, was wiederum die Utopie eines befriedeten
und glücklichen Daseins allseitig tätiger Individuen ermöglichen könnte und
sie können geistige Tätigkeiten ebenso fördern. Die modernen Technologien unterliegen
einer Dialektik, die bereits von DenkerInnen wie Karl Marx und Herbert Marcuse
erkannt wurde.
Karl
Marx und Herbert Marcuse argumentieren zu Recht, dass es nicht um einen Technologieverzicht
geht, sondern um einen humanen und nachhaltigen Einsatz von Technologien. Nun
kann argumentiert werden, dass etwa die Militärtechnologie einer humanen und
nachhaltigen Gestaltung der Gesellschaft grundsätzlich entgegensteht und daher
darauf verzichtet werden sollte. Dies gilt jedoch nicht grundlegend für die
gesamte Computertechnologie (im Gegensatz etwa zur Nukleartechnologie), denn
es ist deren militärische Anwendung, die Destruktivkräfte potenziert. Alternative
Einsatzweisen von Computertechnologien, die dem Menschen einen großen Entfaltungsspielraum
sowie ein befriedetes Dasein jenseits des materiellen und psychischen Mangels
ermöglichen, sind nichtsdestotrotz denkbar und als Utopien sinnvoll.
Auch
was den Einsatz moderner Medien im Rahmen gesellschaftlicher Konflikte betrifft,
präsentiert sich die Situation durchwegs ambivalent. Einerseits haben wir es
mit einer massenmedial vermittelten Erzeugung und Simulation von Hyperrealität
zu tun, die durch die Zusammensetzung entkontextualisierter Symbole und Bilder
manipulativ neue Bedeutungen generiert, um öffentliche Meinungen in bestimmter
Weise zu lenken. In diesem Zusammenhang ist die in der Kritischen Theorie von
Marcuse, Adorno und Horkheimer formulierte Kulturindustriethese richtig, die
besagt, dass die Kulturindustrie falsches Bewusstsein, ein eindimensionales
Massenbewusstsein (Marcuse 1967) und eine instrumentelle Vernunft (Horkheimer
1946) erzeugt. Die neuen Technologien werden genau in diesem Sinn funktional
eingesetzt. Andererseits bietet sich gerade für Protestbewegung die Möglichkeit,
die neuen Medien für ihre Selbstorganisation unterstützend einzusetzen (vgl.
Fuchs 2001). Die neuen Technologien widerspiegeln gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse,
nichtsdestotrotz ist eine produktive Aneignung durch Protestbewegungen möglich.
Für soziale Bewegungen bietet sich die Möglichkeit, realen Protest durch eine
virtuelle Protestkultur und eine technisch unterstützte Optimierung der politischen
Selbstorganisationsstruktur und -weise zu unterstützen.
Schließlich
haben auch die modernen IKT wie das Internet wesentliche Veränderungen des Kapitalismus
vermittelt. Computertechnologie kann grundsätzlich als Medium und Resultat der
Rationalisierung betrachtet werden: Dem Kapitalismus liegt die Zwangsgesetzlichkeit
der permanenten Erhöhung der Produktivität zu Grunde. Eine immer weiter voranschreitende
Rationalisierung ist die logische Folge. Die Computertechnologie ist Medium
und Resultat der Rationalisierung und der Umstrukturierung des Kapitalismus.
Ihre Genese ist das logische Resultat der Weiterentwicklung der kapitalistischen
Produktionsweise. Gleichzeitig ist sie das Medium der Ersetzung menschlicher
Arbeitskraft durch Maschinen. Eine logische Folgerung ist die Massenarbeitslosigkeit,
mit deren permanenten Zunahme wir heute konfrontiert sind. Die ökonomische Diffusion
der Computertechnologien hängt auch mit der Krise des Fordismus zusammen. Als
eine Reaktion auf den relativen Fall der Profitraten wurde die Computerisierung
und damit die Automatisierung weiter vorangetrieben, um Arbeitskosten einzusparen
und die Profitraten zu steigern.
In
technischen Artefakten widerspiegeln sich gesellschaftliche Herrschafts- und
Besitzverhältnisse. Dies gilt auch für das Internet. Der Zugang zum Cyberspace
kostet Geld für Telefon, Modem, Computer, Provider usw., gleichzeitig kommt
es aber zu einer immer stärkeren sozialen Spaltung und Polarisierung. Nur ca.
2-3% der Weltbevölkerung hat Zugang zum Netz, dabei handelt es sich mehrheitlich
um weiße, männliche US-Amerikaner. Es zeigt sich also die Widerspiegelung von
gesellschaftlichen Dichotomisierungen nach Klasse, Geschlecht, Herkunft, Alter
und Qualifikation im Internet. Der Zugang ist in diesem Sinn ganz und gar nicht
„frei“, die Forderung nach „Access for all“ ist technizistisch und verkürzt,
denn sie blendet aus, dass ihre Realisierung grundlegende gesamt- und weltgesellschaftliche
Transformationen umfassen müsste. Afrika stellt etwa 12% der Weltbevölkerung,
verfügt aber nur über 2% der weltweit verfügbaren Telefonanschlüsse. Durchschnittlich
gibt es in Afrika weniger als 2 Telefonanschlüsse pro 1000 EinwohnerInnen. Das
Internet ist vorwiegend ein Mittel zur Erzielung von Profit, aus einer ursprünglich
rein militärisch eingesetzten Technologie (ARPA-Net) wurde ein Mittel zur Restrukturierung
und Beschleunigung betrieblicher Abläufe, ein neuer Ort der Kapitalakkumulation
und ein Werbemittel mit interaktiven und multimedialen Dimensionen. Politik
stellt ein minoritäres Feld im Web dar, maximal 1-2% der Websites behandeln
politische Inhalte, es überwiegen Sex und Kommerz.
Trotz
allem zeigt sich, dass moderne IKT von sich selbst organisierenden politischen
Bewegungen unterstützend eingesetzt werden können. Vor allem eine globale Vernetzung
und Vereinfachung sowie Beschleunigung kommunikativer Abläufe kann so erreicht
werden. Es gibt viele Beispiele, die zeigen, dass kritische und oppositionelle
Tätigkeiten durch die Vernetzung effizienter selbst-organisiert werden können.
IKT sind Teil jener Strukturen, die Fremdbestimmung aufrechterhalten, bieten
aber auch Unterstützung bei vernetzter Selbstorganisation, die gesellschaftskritisch
und intervenierend agiert (vgl. Fuchs 2001).
Halten
wir einige Aspekte der modernen IKT fest, die eine Bedeutung bei derzeitigen
gesellschaftlichen Veränderungen spielen:
Vor
allem der erste Punkt verweist darauf, dass IKT auch Medium und Resultat der
ökonomischen Globalisierung des Kapitalismus sind. Auf der einen Seite ermöglichen
I&K-Systeme durch die Herstellung von raum-zeitlicher Entfernung den Einfluss
lokaler Prozesse auf das weltweite Geschehen und umgekehrt. Dadurch stellt sich
sowohl eine räumliche und zeitliche Unabhängigkeit ein. Daher können die modernen
Informations- und Kommunikationssysteme als Medium der Globalisierung bezeichnet
werden. Sie ermöglichen und vereinfachen die globale Kommunikation und den Welthandel.
Die Globalisierung, Dezentralisierung und Flexibilisierung des Kapitalismus
wird also durch die modernen IKT vorangetrieben, sie werden als Mittel der territorialen
Restrukturierung des Kapitalismus eingesetzt. Der Netzwerkcharakter der global
agierenden Transnationalen Konzerne wird durch die neuen IKT ermöglicht, letztere
sind aber auch das Resultat der ökonomischen und profitgeleiteten Restrukturierungsbewegungen
des Kapitals. I&K-Systeme sind also nicht nur Medium der Globalisierung,
sondern auch deren Resultat. Es liegt in der Logik des Kapitalismus begründet,
dass die Produktivität permanent gesteigert werden muss. Die Kapitalakkumulation
muss ständig durch die Entwicklung neuer Technologien besser und optimaler organisiert
werden. Ständig neue Automatisierungsschübe sind daher eine logische Konsequenz
der kapitalistischen Produktionsweise. Um die Kapitalakkumulation optimal zu
organisieren, sind also ständig produktivere Maschinen und neue Technologien
notwendig. Daher kann auch argumentiert werden, dass I&K-Systeme und die
vernetzenden Technologien nicht zufällig entstanden sind, sondern sich nur durchsetzen
konnten, da sie sich auf die Organisation des Kapitalismus positiv auswirken
und diesen in dem Sinn bereichern, dass sie die Internationalisierung des Kapitals
vereinfachen. In diesem Sinn können die neuen Technologien auch als Resultat
der Globalisierung verstanden werden. Sie bedingen als Medium einerseits die
Globalisierung, sind also eine von deren Voraussetzungen. Andererseits ist die
Globalisierung ein dem Kapitalismus innewohnender Prozess. Die Internationalisierung
des Kapitals, also die notwendigerweise vorhandene globale Dimension des Kapitalismus,
benötigt für ihre effiziente Gestaltung entsprechende Verkehrsformen. Die Entwicklung
und vor allem die globale Durchsetzung von Schifffahrt, Eisenbahn, Telegraf,
Telefon, Funk und Fernsehen, Auto, Flugzeug, Computer und letzten Endes von
I&K-Systemen erscheint daher logisch als das Resultat der internationalen
Dimension des Kapitalismus.
Für
die modernen Computer- und I&K-Technologien ist also Marcuses Einschätzung
hochaktuell: Sie fördern einerseits die Versklavung unter die bestehende Totalität,
können aber auch im Rahmen von Prozessen der Befreiung unterstützend eingesetzt
werden. Sie sind weder neutral, noch automatisch befreiend oder versklavend.
Die Vorstellung von Utopien einer freien Gesellschaft sollte sich daher auch
auf einen Einsatz der Computertechnologie als Teil einer anderen Technik in
einer anderen Gesellschaft beziehen, um einen Übergang ins Reich der Freiheit
mit einem Höchstmaß an individueller Selbstbestimmung und freier Zeit zu garantieren.
Der Sieg über den Mangel und die Herstellung gesellschaftlichen Glücks wäre
auf Basis der modernen Technologien naheliegend, ob der Sprung dorthin passiert,
ist keinesfalls determiniert, vielleicht sogar zweifelhaft. Denn die Unterbindung
sozialen Wandels durch manipulative Eingriffe ins Bewusstsein bekommt gerade
auch in der Informationsgesellschaft neue Dimensionen. Entscheidend ist aber,
dass dieser Sprung abhängig von der sozialen Selbstorganisation revolutionärer
Subjekte möglich ist, gar notwendig, um eine sozial und ökologisch nachhaltige
Gesellschaft zu etablieren.
„Die
technologischen Prozesse der Mechanisierung und Standardisierung könnten
individuelle Energie für ein noch unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der
Notwendigkeit freigeben[3]. [...] das Individuum
würde von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt
ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben,
das sein eigenes wäre“ (Marcuse 1967, S. 22).
„Vollständige
Automation im Reich der Notwendigkeit würde die Dimension freier Zeit als diejenige
eröffnen, in der das private und gesellschaftliche
Dasein sich ausbilden würde. Das wäre die geschichtliche Transzendenz zu einer
neuen Zivilisation“ (Marcuse, 1967, S. 57). „Die reife technologische Gesellschaft
muss die Automatisierung der materiellen Produktion bis zu dem Punkt vorantreiben,
an dem das traditionelle Verhältnis von (notwendiger) Arbeitszeit und Freizeit
sich ins Gegenteil verkehrt und die Freizeit zur ‚Vollbeschäftigung’ wird, über
die das Individuum nach Belieben verfügt“ (Marcuse 1961, S. 46). „Der Mensch
würde dann in dem Maße als Individuum existieren, in dem er aus der mechanisierten
Arbeitswelt ausgegliedert wird; seine Freiheit wäre die Autonomie gegenüber
dem Produktions- und Distributionsapparat“ (Marcse 1961, S. 56).
Der
eigentliche Zweck der Technik, der aber im Kapitalismus nicht realisierbar sei,
ist für Marcuse die Ermöglichung eines „befriedeten Daseins“, das einen Sieg
über den Mangel herstelle. Dieses würde auch qualitativ andere Beziehungen zwischen
den Menschen und zwischen Mensch und Natur eröffnen (Marcuse, 1967, S.
246). Die technische Unterwerfung der Natur sei bisher einhergegangen mit einer
Zunahme der Herrschaft des Menschen über den Menschen (Marcuse 1967, S. 264).
Die
geschichtliche Alternative sei „die geplante Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung
der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der
Freizeit in freie Zeit, die Befriedung des Kampfes ums Dasein“ (1967). Möglich
sei die „freie Verfügung über freie Zeit“ (Marcuse 1961, S. 41). „Freie Zeit
gehört zu einer freien Gesellschaft, Freizeit zu einer repressiven“ (Marcuse
1966b, S. 185).
Die
moderne Technik sei so weit entwickelt, dass sie einen Umsturz der gesellschaftlichen
Verhältnisse notwendig mache. Dann sei eine „Aufhebung der Arbeit“ durch Automatisierung
möglich: „Die fortgeschrittene Industriegesellschaft nähert sich dem Stadium,
wo weiterer Fortschritt den radikalen Umsturz der herrschenden Richtung und
Organisation des Fortschritts erfordern würde. Dieses Stadium wäre erreicht,
wenn die materielle Produktion (einschließlich der notwendigen Dienstleistungen)
dermaßen automatisiert wird, dass alle Lebensbedürfnisse befriedigt werden und
sich die notwendige Arbeitszeit zu einem Bruchteil der Gesamtzeit verringert.
Von diesem Punkt an würde der technische Fortschritt das Reich der Notwendigkeit
transzendieren, in dem er als Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument diente,
was wiederum seine Rationalität eingeschränkt hat; die Technik würde dem freien
Spiel der Anlagen im Kampf um die Befriedigung von Natur und Gesellschaft unterworfen“
(Marcuse 1967, S. 36).
Auch
in diesem Zitat wird Marcuses dialektischer Technikbegriff verdeutlicht: Im
Kapitalismus sei Technik ein Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument, in einer
freien Gesellschaft Möglichkeit zur Reduktion der Arbeitszeit aller. Die Automation
sei jedoch mit der „auf der privaten Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft im
Produktionsprozess“ (Marcuse 1967, S. 55) beruhenden Gesellschaft nicht vereinbar.
Im Kapitalismus sei ihre Anwendung also widersprüchlich und produziere gesellschaftliche
Probleme.
Eine
andere Technik in einer anderen Gesellschaft sei Teil der Demokratisierung:
„Wir haben auf die mögliche Demokratisierung der Funktionen hingewiesen, die
Technik unter Umständen fördern kann und die vielleicht auch die vollständige
menschliche Entfaltung in allen Bereichen der Arbeit und der Verwaltung erleichtern
kann. Darüber hinaus könnten Mechanisierung und Standardisierung eines Tages
den Schwerpunkt von den Notwendigkeiten der materiellen Produktion verlagern
auf das Feld menschlicher Selbstverwirklichung“ (Marcuse 1941, S. 316).
Im
Marxismus wurde oftmals die Ansicht geäußert, dass die Technik in unveränderter
Weise einfach aus dem Kapitalismus in den Sozialismus übernommen werden könnte.
Marcuse vertritt jedoch die Ansicht, dass sich eine qualitative Änderung der
Gesellschaft nicht nur in Ökonomie und Politik einstellen müsse, sondern dass
auch die „technische Basis“ umgeformt werden müsse. Weder Verstaatlichung noch
Sozialisierung ändere von sich aus die Rationalität, die der Technik zu Grunde
liege. Eine neue Richtung des technischen Fortschritts sei nötig, nicht eine
quantitative Fortentwicklung der herrschenden technologischen und wissenschaftlichen
Rationalität, sondern deren radikale Umwandlung (Marcuse 1967, S. 239)
Wenn
sich die Arbeiterklasse selbst durch eine Revolution befreit, so Marcuse, dann
sei eine Gesellschaft möglich, in der ein Übergang vom Prinzip „Jedem nach seiner
Arbeit“ zu „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ stattfindet (Marcuse 1967, S. 61f).
Dabei argumentiert Marcuse wie Marx, dass in einer ersten Phase die neue Gesellschaft
noch mit den Muttermalen der alten behaftet sein würde, also der Zwang zur Entäußerung
in der Lohnarbeit noch nicht vollständig aufgehoben wäre. Erst nach einer Aufbauphase
sei in einer zweiten Phase ein „Reich der Freiheit“ zu erreichen. Erst dann
würde die quantitative Änderung (weniger Lohnarbeit, weniger Herrschaft, usw.)
in eine qualitative umschlagen (keine Lohnarbeit, keine Herrschaft, usw.). Im
„Reich der Freiheit“ sei die Verteilung lebenswichtiger Güter ohne Rücksicht
auf Arbeitsleistung und die Reduktion der Arbeitszeit auf ein Minimum möglich
(Marcuse 1967, S. 64). Wir werden sehen, dass Marcuse an anderen Stellen die
Zwei-Phasen-These des Kommunismus, die er hier selbst vertritt, kritisierte.
Die
bestehende Technik, so Marcuse, sei ein Instrument destruktiver Politik, daher
müsste eine qualitative Veränderung der Politik mit der Änderung der Richtung
des technischen Fortschritts einhergehen. Die Politik müsste eine neue Technik
entwickeln (Marcuse 1967, S. 238). „Die technische Transformation ist zugleich
eine politische, aber die politische Änderung würde nur in dem Maße in eine
qualitative gesellschaftliche Änderung übergehen, wie sie die Richtung des technischen
Fortschritts ändern – das heißt eine neue Technik entwickeln würde. Denn die
bestehende Technik ist zu einem Instrument destruktiver Politik geworden“ (Marcuse
1967, S. 238). „Die Vollendung des technischen Fortschritts impliziert die bestimmte
Negation dieser [der im Kapitalismus entwickelten] Technik“ (Marcuse 1961, S.
65). Die Technik müsste aber nicht vollständig erneuert werden, da sie auch
schon heute Bedürfnisbefriedigung und die Verringerung harter Arbeit ermögliche
(ebd., S. 242f). Ein Umbau der Technik sei aber notwendig. „Eine qualitative
Veränderung hängt von einer Veränderung in der technischen Basis ab, auf der
diese Gesellschaft beruht. [...] Die Idee qualitativ anderer Formen technologischer
Rationalität gehört einem neuen historischen Projekt an“ (Marcuse 1961, S. 65f).
Eine Revolution müsse die Technik den Bedürfnissen und Zielen freier Menschen
dienstbar machen, sie wäre eine Revolution gegen die Technokratie (Marcuse 1969,
S. 288).
Eine
andere Technik in einer anderen Gesellschaft bedeute Technik als Kunst, die
auch das Schöne umfasse: „Technik als Kunst, als Konstruktion des Schönen [...]
als Form einer Lebenstotalität, die Gesellschaft und Natur umfasst. [Dies] [...]
stellt das Gegenteil jener Technologie und Technik dar [...], die die heutigen
repressiven Gesellschaften beherrschen – eine Technik, die von der destruktiven
Kraft, mit der Menschen und Dinge, Geist und Materie als bloß zu bearbeitender
Stoff erfahren werden, befreit ist“ (Marcuse 1967b, S. 80; vgl. auch Marcuse
1969, S. 261f).
All
diese Überlegungen sind gerade im Rahmen der umfassenden Informatisierung und
Computerisierung der Arbeit von Bedeutung. Während die seit der mikroelektronischen
Revolution massiv um sich greifende Ersetzung lebendiger durch tote Arbeit die
objektiven Voraussetzungen des Übergangs ins Reich der Freiheit nahe legt, scheinen
wir subjektiv weit davon entfernt, da sich die technologische Rationalität,
gerade auch mit der Unterstützung moderner Technologien, immer weiter ins Bewusstsein
der Massen fortsetzt. Weiters arbeiten die einen immer länger und intensiver,
die anderen gar nicht oder immer prekärer. Die Informatisierung und Computerisierung
als Medium und Resultat der Krise des Fordismus verändern die Arbeitswelt in
umfassender Weise.
In der BRD umfasst die Anzahl der Arbeitslosen etwa 4 Millionen, in Frankreich erhöhte sich die Arbeitslosigkeit von 1980 etwa 1,5 Millionen auf 1995 nahezu 3 Millionen. Lediglich in den USA ist ein Absinken der Arbeitslosigkeit in absoluten Zahlen festzustellen. Dies wurde aber nur durch eine extreme Prekärisierung der Arbeitsverhältnisse erreicht. 1994 waren 2/3 der in den USA geschaffenen Jobs extrem schlecht bezahlt, die Reduktion der Arbeitslosigkeit wurde vor allem auch dadurch erreicht, dass die Armutsfalle Teilzeitarbeit extrem ausgebaut wurde. So ist etwa der Beschäftigtungsvermittlungsbetrieb Manpower, der vorwiegend auf prekäre Beschäftigungsverhätlnisse setzt, mit 560.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der USA. 1993 arbeiteten mehr als 34 Millionen US-Amerikaner auf „Bedarf“, teilzeit, freiberuflich, in Gelegenheitsjobs usw. Mehr als 25% der US-Arbeitnehmer haben einen zeitlich befristeten Arbeitsvertrag oder einen bzw. mehrere Teilzeitjobs (alle Daten nach Rifkin 1995). All dies ist auf Strategien zurückzuführen, die sich durch die Einsparung bei Lohnkosten und Lohnnebenkosten eine Erhöhung der Profite erhoffen. Auch das Wachstum der Reallöhne bleibt in den westlichen Länder weit unter dem Anstieg des Kapitalwachstums oder stagniert sogar. Die Lohnquoten, also der Anteil der Löhne am gesamtgesellschaftlichen Einkommen, fallen vielfach unter das Level der 70er-Jahre zurück.
Der
Umbruch vom Fordismus zum Postfordismus, vom Keynesianismus zum Neoliberalismus
und hin zum informationsgesellschaftlichen Kapitalismus bringt eine Verschärfung
der globalen gesellschaftlichen Probleme mit sich. Einige Stichwörter sind in
diesem Zusammenhang die Stagnierung der Löhne, während Kapitaleinkommen weiter
steigen; prekäre Arbeitsverhältnisse als Armutsfallen, Massenarbeitslosigkeit,
Massenarmut, Armut trotz Arbeit, Verschärfung der ungleichen Ressourcenverteilung
zwischen Nord und Süd, immer längere Wochen- und Lebensarbeitszeit bei relativ
geringerem Lohn, Verschärfung der ökologischen Krise. Die soziale Destabilisierung
führt in Folge auch zum Anstieg von Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Kriminalität,
Krieg und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eine solche Gesellschaft ist in
der Tat keine weise Gesellschaft.
Die
Flexibilisierung, Dezentralisierung, Spezialisierung, Diversifizierung, Informatisierung
und Enthierarchisierung der organisatorischen Strukturen des Kapitalismus lässt
sich vor allem in Bezug auf die Suche nach neuen Strategien und Bereichen der
Kapitalakkumulation im Zuge der anhaltenden Krise des Fordismus betrachten.
Der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus erfolgte im Rahmen der Suche nach
Lösungen der Krise des Fordismus und des Versuchs, die Kapitalakkumulation erneut
zu stabilisieren. Die Politik des Neoliberalismus als neue Qualität politischer
Information des Postfordismus zielt darauf ab, Rahmenbedingungen für die Ökonomie
zu schaffen, die es den Unternehmen erlauben, ihre Profite durch die Minimierung
der Investitionskosten (variables und konstantes Kapital) zu steigern. Resultat
davon sind Deregulierung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Sozialabbau, Verschlechterung
des Arbeits- und Sozialrechts, Senkung der Kapitalbesteuerung das Ende des Wohlfahrtsstaats,
flexible Arbeitszeiten, relative Abnahme der Lohnzuwächse gegenüber des Kapitalwachstums,
Hausfrauisierung etc.
Auch
der erneute Schub ökonomischer Globalisierung und die Ausbildung des Nationalen
Wettbewerbsstaats (Hirsch 1995) sollten in diesem Zusammenhang betrachtet werden.
Es geht um die Verlagerung der Produktion in andere Gebiete, die eine Senkung
des konstanten und variablen Kapitalanteils ermöglichen, damit die Profitraten
erhöht werden können.
Auch
bei der Umstrukturierung von Unternehmen (Dezentralisierung, Flexibilisierung,
Entierarchisierung, Outsourcing, schlanke Unternehmensstruktur, flache Hierarchien,
Lean-Production, Just-in-Time-Production etc.) steht die Humanisierung der Arbeit
im Vordergrund, sondern die Erhöhung des Profits durch Kosteneinsparung im Vordergrund.
Das Basismodell ist die japanische Lean-Production bei Toyota, daher wird auch
des öfteren vom Toyotismus gesprochen. „The basic purpose of the Toyota production
system is to increase profits by reducing costs - that is, by completely eliminating
waste such as excessive stocks or workforce“ (Monden 1983, S. 11).
Als neuen Qualitäten des Disziplinarmodells zeigt sich heute die Disziplinargesellschaft im Sinn von Deleuze (1993). Dabei geht es darum, die Arbeitenden ideologisch in den Betrieb einzubinden. Verlangt wird Motivation und Identifikation, es gibt Bonussysteme, Share Options, Teamarbeit, flache Hierarchien, mehr Entscheidungsspielraum etc. Unabhängig davon, ob dies zu einer Humanisierung der Arbeit beiträgt, muss gesagt werden, dass es auch bei diesen Maßnahmen in erster Linie um die Steigerung der Produktivität und damit um die Erhöhung des Profits geht.
Es
zeigt sich heute einerseits partizipatives Management, andererseits auch eine
Retaylorisierung der Arbeit im Rahmen von Produktionsweisen, die in der Tradition
der japanischen Lean-Production stehen. Zielen diese neuen Produktionsweisen
auch auf die psychische Integration und Verzweckung der Arbeitenden, so könnte
sich wie im Fordismus auch ein Widerspruch hinsichtlich dieser Organisationsweise
der Arbeit manifestieren, der zum Anstieg von bewussten und unbewussten Arbeitsverweigerungen,
Leistungsverminderungen und der Zunahme des Klassenkampfes führt. Wir haben
also einerseits die Tendenz der Neutralisierung des Klassenkampfes durch die
psychische Verzweckung der Arbeitenden, andererseits neue Entfremdungsbedingungen
durch erneute strikte Vorgaben und Kontrollsysteme im Rahmen der flexiblen Produktionsweisen.
Hinsichtlich
der technischen Veränderung wird heute immer häufiger eine flexible Fertigungsmaschinerie
eingesetzt, um den Übergang von der standardisierten Massenproduktion zur diversifizierten
Qualitätsproduktion, die auf Kundenorientierung und kleine Stückzahlen mit hoher
Qualität setzt, zu ermöglichen. Diese technischen Veränderungen werden wiederum
vorwiegend aus ökonomischen Optimierungsgründen durchgeführt. Die Automatisierung
wird heute im noch viel stärkeren Ausmaß vorangetrieben als in der Ära des Fordismus,
die immer schneller und effektiver arbeitende Computertechnologie erleichtert
dies. Das Ziel der Ersetzung von lebendiger durch tote Arbeit sind die Beschleunigung
der Produktion und die Senkung der Arbeitskosten, um den Profit zu erhöhen.
Auch
der verstärkte Einsatz von modernen Informations- und Kommunikationssystemen
hat vorwiegend mit betriebswirtschaftlichen Überlegungen zu tun. Ohne die Krise
des Fordismus hätte sich dieses neue technologische Pardigma zwar sicherlich
auch früher oder später allgemein durchgesetzt, aber sicherlich langsamer. Der
massive Einsatz von neuen IKT hat vorwiegend damit zu tun, dass der Kapitalismus
permanent neue effektive Methoden der Rationalisierung und Mechanisierung benötigt.
IKT sind Medium und Resultat der Rationalisierung und des kapitalistischen Entwicklungsprozesses.
Daran zeigt sich, dass Technikentwicklung und die Durchsetzung neuer Technologien
mit ökonomischen Prozessen eng verkoppelt sind.
IKT vereinfachen die Verlagerung und Dezentralisierung der Produktion, Teamarbeit, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die Enthierarchisierung von Betrieben. Sie sind auch Medium und Resultat der ökonomischen Globalisierung, sie vermitteln einerseits die Verlagerung der Produktion, anderseits benötigt das kapitalistische Weltsystems zwecks seiner eigenen Effektivierung permanent neue Technologien. Daher sind diese neuen Technologien auch logisches Resultat der Produktivkraftentwicklung. Unqualifizierte und daher stark mechanisierte Arbeiten im Bereich der Textil- und Elektronikindustrie wurden in den letzten 20 Jahren vor allem sehr stark nach Südostasien verlagert. Resultat waren die Weltmarkfabriken, in denen äußerst inhumane Arbeitsbedingungen herrschen. Im marxistischen Feminismus wurde in diesem Zusammenhang besonders auf die Überausbeutung von Frauen in diesen Weltmarktfabriken und den Zusammenhang von IKT, ökonomischer Globalisierung, internationaler Arbeitsteilung und Hausfrauisierung hingewiesen. Die ökonomische Globalisierung und die dritte industrielle Revolution seien also überhaupt nur durch die Ausbeutung von Frauen in der Dritten Welt möglich (vgl. Mies 1996).
Marcuses
Hinweise, dass Technik unter kapitalistischer Vergesellschaftung menschenfeindliche
Züge annimmt, bewahrheitet sich von Neuem. Allerdings ist die Verschärfung der
globalen Probleme und die Prekärisierung der Lebensverhältnisse immer größerer
Teile der Weltbevölkerung nicht auf immanente Eigenschaften der Technik zurückzuführen,
sondern auf ihre kapitalistische Anwendung. Möglich wäre heute auch – und das
betonte ja bereits Marcuse nachhaltig – der unmittelbare Sprung ins Reich der
Freiheit.
Robert
Kurz und die Krisis-Gruppe kritisieren m.E. nach zu Recht die Ontologisierung
der Arbeit im Traditionsmarxismus und im Realsozialismus, woraus sich eine Idealisierung
und Fetischierung der Arbeit ergeben habe. Arbeit und Arbeiter seien im Realsozialismus
wie Religion und Gott gewesen (vgl. Kurz 1991, S. 11-15; Kurz 1994). Es sei
lediglich darum gegangen, die Arbeit aus kapitalistischen Fesseln zu befreien,
nicht aber den Menschen von der Arbeit selbst und den damit einhergehenden Zwängen
und Entäußerungen. Da die Arbeitsgesellschaft heute an ihre eigenen Grenze stoße,
sei es notwendig, zu einem System jenseits der Arbeit überzugehen. Notwendig
erscheint Krisis daher die Aufhebung der Arbeit mitsamt der anderen bürgerlichen
Formkategorien und eine „soziale Bewegung gegen die Arbeit“ (Krisis 1999, S.
41).
Es geht heute nicht im die Befreiung der Arbeit aus ihrer kapitalistischen Hülle, nicht um Arbeit für alle und Vollzeitbeschäftigung, sondern um ein „Recht auf Faulheit“ (Lafargue 1899) die Etablierung des Endes der Notwendigkeit, Muße an Stelle der Arbeit, geistige noch stärker an Stelle von materieller Arbeit, Feiertag an Stelle des Arbeitstages, nichtoperationelles Denken an Stelle der instrumentellen Vernunft, Solidarität an Stelle des Konkurrenzkampfes, Sinnlichkeit anstelle von Repression, und auch um den Frieden als Dauerzustand sowie das Ende von materiellem und psychischem Mangel. Also um eine neue Gesellschaft, in der die Menschen solidarisch miteinander umgehen und in der dem Einzelnen ein Höchstmaß an Selbstentfaltung und allseitiger Entwicklung (im Sinn von Marx) ermöglicht wird. Marcuses Utopie einer freien Gesellschaft ist daher gerade heute von brennender Aktualität.
Allerdings,
und dies stellt meine größten Bedenken dar, ist es noch immer der Fall, dass
zwar die „Änderung der etablierten Richtung des Fortschritts einen grundlegenden
sozialen Wandel bedeuten“ würde, „aber sozialer Wandel setzt voraus, dass ein
vitales Bedürfnis nach ihm besteht sowie die Erfahrung unerträglicher Verhältnisse
und ihrer Alternativen – und eben dieses Bedürfnis und diese Erfahrung werden
in der etablierten Kultur daran gehindert, sich zu entwickeln“ (Marcuse 1965a,
S. 125).
In
Bezug auf grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ist die Frage nach dem
Unterschied und der Grenze zwischen Innen und Außen wesentlich. Die Frage
zielt darauf ab, ob eine bestehende Gesellschaft negierende Kräfte diese
von innen oder von außen aufheben können und was unter diesen beiden Kategorien
überhaupt zu verstehen ist. Marcuse (1966a) diskutierte diese Frage bereits
und ich folge seiner Einschätzung. Er geht davon aus, dass es in der bürgerlichen
Gesellschaft negierende Kräfte gibt, die außerhalb des Systems auf dessen
Aufhebung hin- und gegen dieses arbeiten. Außen versteht er „im Sinne von
gesellschaftlichen Kräften, die Bedürfnisse und Ziele repräsentieren, welche
in dem bestehenden antagonistischen Ganzen unterdrückt sind und in ihm nicht
zur Entfaltung kommen können“ (1966a, S. 198). Damit meint er also die potentielle
revolutionäre Hauptproduktivkraft Mensch, die ihr Bewusstsein und ihre Praxis
außerhalb des Systems stellen kann, dieses überschreiten und auf die Aufhebung
des alten Ganzen hinarbeiten kann. Die „Keimform“ umfasst also auch für
Marcuse nicht gesellschaftliche Strukturen, sondern emanzipatorisches menschliches
Bewusstsein, das aber in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zunehmend
in das System-Innere absorbiert werde.
Wie
Marcuse gehe ich davon aus, dass die materielle Basis der Gesellschaft eine
bestimmte Entwicklung erreicht haben muss, damit ein derartiges emanzipatorisches
Außen grundsätzlich ins Reich der Freiheit führen kann. Heute wird immer
wieder davon von einem materiellen und ökonomischen Außen ausgegangen (z.B.
wenn von ökonomischen Keimformen wie selbstverwalteten Betrieben, Tauschringen,
Linux etc. gesprochen wird), ich favorisiere jedoch Marcuses Position,
die besagt, dass ökonomische Prozesse sich im Kapitalismus vorwiegend Innen
abspielen und politisch selbstorganisierte, auf Basisdemokratie und eine
neue Gesellschaft abstellende Bewegungen am ehesten geneigt sind, sich selbst
nach Außen zu wenden.
Es
ist nicht idealistisch, kritisches Bewusstsein außen anzusiedeln. Tatsächlich
ist Subjektivität aber ein entscheidender Faktor der Marxschen und der Marcuseschen
Subjekt-Objekt-Dialektik (vgl. Marcuse 1966c). Die inneren Widersprüche
der Gesellschaft und die Entwicklung der Produktivkräfte vollziehen sich
objektiv, es erfolgt aber nicht automatisch eine Entwicklung in Richtung
eines sozial und ökologisch nachhaltigen Reichs der Freiheit. Dazu bedarf
es emanzipatorischer Subjekte, die ein Klassenbewusstsein ausbilden und
dieses in reale gesellschaftliche Kämpfe einbringen. Es ist nicht gewiss,
ob sich dieses Bewusstsein überhaupt bilden kann und wie darauf aufbauende
Kämpfe ausgehen. „die in den Widersprüchen verfangenen (materiellen und
intellektuellen) Produktivkräfte werden frei zum Übergang in die ‚höhere’
geschichtliche Form gesellschaftlichen Seins im bewussten Kampf mit den
bestehenden Gewalten und den von ihnen bestimmten Interessen und Institutionen.
Der Ausgang hängt von den Bedingungen der Möglichkeit dieses Kampfes und
des sich in ihm entwickelnden Bewusstseins ab. Dazu gehört, dass seine Träger
ihre Sklaverei und deren Gründe begriffen haben, dass sie ihre Befreiung
wollen und die Wege dazu gesehen haben“ (Marcuse 1966c).
Diese
Vorstellung schließt für Marcuse immer mit ein – und darin folge ich ihm
–, dass bestehende Techniken nicht einfach in die neue Gesellschaft übernommen
werden können, sondern dass sich eine Unzahl an neuen Qualitäten ergeben
muss, um das Reich der Freiheit zu realisieren: „Die technische Transformation
ist zugleich eine politische, aber die politische Änderung würde nur in
dem Maße in eine qualitative gesellschaftliche Änderung übergehen, wie sie
die Richtung des technischen Fortschritts ändern – das heißt eine neue Technik
entwickeln würde. Denn die bestehende Technik ist zu einem Instrument destruktiver
Politik geworden“ (Marcuse 1967, S. 238).
In
den 30er-Jahren ging die Kritische Theorie der Frankfurter Schule davon
aus, dass eine soziale Revolution und der Übergang in eine andere Gesellschaft
bevorstünden. Mit dem deutschen Faschismus hat sich diese Einschätzung als
falsch erwiesen, Marcuse, Horkheimer und Adorno waren in vielerlei Hinsicht
von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt desillusioniert. Während
Horkheimer und Adorno nun aber davon ausgingen, dass revolutionärer Wandel
auf unabsehbare Zeit unrealistisch bleiben müsse, da das Bewusstsein in
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft notwendig falsches Bewusstsein
sei, blieb Marcuse wesentlich optimistischer. Zwar ging auch er davon aus,
dass qualitativer gesellschaftlicher Wandel durch Manipulation immer weiter
unterbunden wird. Allerdings totalisierte er diese Position nicht, sondern
vertrat die Ansicht, dass daneben immer noch potentiell revolutionäre Subjekte
existieren. Er sucht also stets nach dem Außen in der Gesellschaft und war
daher revolutionärer Theorie und Praxis wesentlich näher als Horkheimer
und Adorno, die als einziges mögliches (und notwendiges) politisches Ziel
im Nachkriegskapitalismus die Verhinderung eines zweiten Auschwitz sahen.
Eine
wesentliche soziologische Grundfrage ist jene nach dem Verhältnis von Struktur
und Handeln. Klassischerweise wurde sie reduktionistisch aufgelöst. Im Funktionalismus
(so etwa bei Durkheim, Merton, Parsons, und Luhmann) und im Strukturalismus
(wie z.B. bei Althusser und Balibar) zu Gunsten gesellschaftlicher Strukturen,
in der Handlungstheorie und im symbolischen Interaktionismus (wie bei Weber,
Mead oder Habermas) zu Gunsten des individuellen Handelns. Eine dialektische
Vermittlung von Strukturen und Handeln berücksichtigt hingegen, dass gesellschaftliche
Strukturen individuelles Denken und Handeln einschränken und manipulieren,
dass aber diese Strukturen auch durch soziales Handeln verändert werden.
Marcuse erkannte diese Dialektik in spezifischer Weise. Einerseits betonte
er, dass gesellschaftliche Strukturen im Spätkapitalismus falsches Bewusstsein
in ungeahnten Ausmaßen herstellt, andererseits betonte er aber auch die
Möglichkeit des revolutionären Wandels. So etwa in der Vorrede zum Eindimensionalen
Menschen: „Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander
widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft
imstande ist, qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden;
2. dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen
und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, dass eine klare
Antwort gegeben werden kann“ (Marcuse 1967, S. 17).
Auch bereits Marx sah dieses Verhältnis als dialektisches: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 18, 52S. 115).
Nicht nur Strukturen und Handeln, auf die revolutionäres Denken und Handeln Bezug nehmen, sind dialektisch vermittelt, es gibt auch eine spezifische Dialektik der Befreiung: „Natürlich gibt es keine Revolution ohne individuelle Befreiung, aber auch keine Befreiung des Individuums ohne die der Gesellschaft“ (Marcuse 1969, S. 54).
Also
zu Zeit der Studentenrevolte StudentInnen Adornos Institut für Sozialforschung
besetzten, um diesen dazu zu bringen, sich klar auf ihrer Seite zu positionieren,
fühlte sich dieser missverstanden. Einerseits sah er die Zeit für Revolution
ganz und gar nicht gekommen, andererseits (und dies wohl im Gegensatz zu
jenem berechtigterweise) wollte er keine Vater- oder gar Führerfigur sein.
Die Konsequenz – nämlich die gewaltsame Räumung des Instituts durch die
Polizei – war in jeder Hinsicht falsch. Darauf wies auch Marcuse Adorno
nachdrücklich hin: „Brutal: wenn die Alternative ist: Polizei oder Studenten
der Linken, bin ich mit den Studenten – mit einer entscheidenden Ausnahme,
nämlich, wenn mein Leben bedroht ist [...] Wir können die Tatsache nicht
aus der Welt schaffen, da diese Studenten von uns beeinflusst sind – ich
bin darüber sehr froh und bin gewillt, mich mit dem Vatermord abzufinden“
(zit. nach Behrens 2000, S. 123f).
Marcuse unterschied sich von Horkheimer und Adorno dadurch, dass er die praktische Beschäftigung mit Politik stets für äußerst bedeutend hielt. Während im Eindimensionalen Menschen (als englisches Original 1964) der Eindruck einer umfassenden Manipulation vorherrschend ist, neben der sich nur ganz wage die Möglichkeit einer „großen Weigerung“ andeutet, ist Marcuse im Versuch über die Befreiung (1969) bereits sehr beeindruckt von der entstehenden Neuen Linken. Ein radikales Befreiungs- und Praxispotential schien wieder aktuell zu werden. Marcuse war „ein intransigenter Optimist, ständig auf der Suche nach neuen sozialen Befreiungsbewegungen. Sein wesentliches Interesse ist nicht, revolutionären Propethien auf die Spur zu kommen, sondernden geschichtlichen Chancen einer Revolution und dem tiefsitzenden menschlichen Bedürfnis nach einer ‚anderen Gesellschaft’“ (Heinz Lubasz in Marcuse u.a. 1978, S. 138).
Die
Dialektik von Strukturen und Handeln ist immer auch ein Hinweis darauf,
dass kritische Gesellschaftstheorie Formen des revolutionären Wandels in
Betracht ziehen muss. Marcuse hielt immer an der Notwendigkeit und der grundsätzlichen
Möglichkeit revolutionären gesellschaftlichen Wandels und Formen der Befreiung
fest. So schrieb etwa der junge Marcuse über die Notwendigkeit der „katastrophischen
Aufhebung des faktischen Zustands durch die totale Revolution“ (Marcuse
1932). Dieses Motiv blieb ein für ihn sein ganzes Leben hinweg zentrales.
Ende
der 60er zeigte sich Marcuse stark beeindruckt von den Revolten in der Dritten
Welt, der Studenten und der Ghettobewohner, die das Thema der Befreiung
wieder aktuell gemacht hätten (vgl. Marcuse 1969 und 1972). „sie haben die
Idee der Revolution dem Kontinuum der Unterdrückung entzogen und sie mit
ihrer wahren Dimension verknüpft – der von Befreiung“ (Marcuse 1969, S.
243). In Marcuse (1972) zeigt sich dieser auch beeindruckt von ökologischen
Protesten, den Bürgerinitiativen und der Frauenbewegung. An anderer Stelle
meint Marcuse, dass eine politische Frauenbewegung „die Negation der Werte
und Ziele der patriarchalen Gesellschaft ist“, und damit auch „die Negation
der Werte und Ziele des Kapitalismus“ (Marcuse 1973/74, S. 170). Die neuen
Gruppen würden nicht automatisch zu Subjekten der Revolution, sie seien
aber antizipierende Gruppen, die als Katalysatoren wirken können, nicht
mehr (Marcuse u.a. 1978, S. 57).
Die
Arbeiterklasse sei für eine Revolution unerlässlich, sie habe aber Teil
an der Stabilisierung der bestehenden Ordnung und zeichne sich immer stärker
durch ein falsches Bewusstsein aus (vgl. Marcuse 1969, S. 155, 285f). Sie
sei zwar objektiv an sich revolutionär, im Spätkapitalismus aber nicht subjektiv
für sich. „Die Arbeiterklasse selbst ist in ihrem Bewusstsein und in ihrer
Praxis zum großen Teil verbürgerlicht“ (Marcuse u.a. 1978, S. 56).
Durch
die technologischen Veränderungen transformiere sich auch die Arbeiterklasse,
die klassische blue collar-Arbeiterschaft werde durch white collar-Angestellte
und die zunehmende Bedeutung geistiger Tätigkeiten im Produktionsbereich
ersetzt. An sich würde dies die Sprengung der bestehenden Ordnung vereinfachen,
tatsächlich sei die „neue Arbeiterklasse“ aber angepasst und gut integriert
(1969, S. 286f). Die Arbeiterklasse habe in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft
nicht einfach nur ihre Ketten zu verlieren. Dies habe theoretische Konsequenzen:
„Der Marxsche Klassenbegriff ist durch die Stellung im Produktionsprozess
definiert, und gerade der kapitalistische Produktionsprozess hat, indem
er die Ausbeutung intensiviert und verallgemeinert hat, mit der Steigerung
der Produktivität das gesellschaftliche Sein und das Bewusstsein der Ausgebeuteten
verändert. Quantität (höheres Lebensniveau) schlägt in Qualität um (‚bürgerliches’
Bewusstsein, ‚bürgerliche’ Bedürfnisse)“ (Marcuse 1974, S. 135).
Die
Opposition verschiebe sich zunehmend von der organisierten Arbeiterklasse
zu den kämpferischen Minderheiten. Es zeige sich ein neues Subjekt des historischen
Wandels. Erster notwendiger Schritt einer Revolution sei „ein radikaler
Wandel im Bewusstsein“ (Marcuse 1969, S. 285), also die Stellung des Bewusstseins
ins Äußere. Es zeige sich „die Entstehung eines neuen Bewusstseins, das
ein antizipierendes, entwerfendes Bewusstsein ist, offen und bereit für
die radikal neuen, extravaganten Freiheitsaussichten“ (Marcuse 1968, S.
73).
Der
objektive menschliche Faktor der Revolution befinde sich in der Arbeiterklasse,
sei aber ohnmächtig und stillgehalten, das subjektive revolutionäre politische
Bewusstsein befinde sich in der nonkonformistischen jungen Intelligenz und
den unterprivilegierten Teilen der Bevölkerung der Dritten Welt. Dies zeige,
dass eine auf radikale Veränderung gerichtete Bewegung außerhalb der Arbeiterklasse
entstehen könne, sie müsse allerdings versuchen, die unterdrückten Kräfte
der Rebellion innerhalb der Arbeiterschaft zu aktivieren (Marcuse 1968,
S. 73).
Notwendig
sei nun radikale Aufklärung, „die darin besteht, bei den Ausgebeuteten
das Bewusstsein (und das Unbewusste) zu entwickeln, das die Gewalt versklavender
Bedürfnisse über ihr Dasein lockern würde – der Bedürfnisse, die ihre Abhängigkeit
vom System der Ausbeutung verewigen“ (1969, S. 288). Dazu sei eine „radikale
Linke, welche die umfassende Aufgabe politischer Bildung übernimmt“ (Marcuse
1972, S. 35) und die „spontanen Protest in organisiertes Handel“ (1972,
S. 52) umsetzt, notwendig. Dies bedeute nicht automatisch eine autoritäre
Elite und Führer, sondern die Möglichkeit einer revolutionären Avantgarde,
die Erziehungsarbeit leistet (Marcuse 1973/74, S. 164).
Nonkonformismus
zeige sich daran, dass die neue Opposition unorthodox sei, traditionelle
politische Praktiken wie Parteien und Komitees ablehne. „für die Rebellen
ist nicht, was irgendeiner dieser Politiker, Volksvertreter oder Kandidaten
verkündet, von irgendwelchem Belang“ (1969, S. 293). Die direkten Aktionsformen
seien als direktdemokratisch zu erachten und würden die umfassende Demokratisierung
der bestehenden totalitären Gesellschaft antizipieren. Notwendig sei eine
revolutionäre Macht, die der herrschenden Gewalt ein Ende macht und eine
sozialistische Gesellschaft errichtet. Beispiele für solches Handeln wären
ein unbegrenzter Generalstreik, die gleichzeitige Besetzung oder Übernahme
von Betrieben, Regierungsgebäuden, Zentren des Nachrichtenwesens und Verkehrs
(Marcuse 1972, S. 58). Gleichzeitig warnte Marcuse vor sinnlosen, kontraproduktiven
Aktionen wie zielloser, unvermittelter Zerstörung, die das Volk gegen die
Linken organisieren helfen. Notwendig seien auch Gegeninstitutionen,
etwa radikale, freie Medien (1972, S. 60). Zur Einrichtung systemkritischer
Institutionen müsste Geld aufgetrieben werden (1973/75, S. 175).
Die
Auflösung der gesellschaftlichen Moral zeige sich im Spätkapitalismus im
Zusammenbruch der Arbeitsdisziplin, Bummeln, zunehmendem Ungehorsam gegenüber
Regeln und Vorschriften, wilden Streiks, Boykotts und willkürlicher Unbotmäßigkeit
(1969, S. 310). Dies bedeute aber nicht automatisch eine Revolution, sei
nur Krisenanzeichen, das System könne aber durch Gewalt und totalitäre Verwaltung
aufrechterhalten werden. Obwohl Marcuse der Neuen Linken sympathisierend
gegenüberstand, übte er auch heftige Kritik (etwa an ihrem Anti-Intellektualismus
und einer fehlenden umfassenden theoretischen Perspektive). Seine Desillusionierung
der Arbeiterklasse schwächte sich etwas dadurch ab, dass Ende der 60er die
Anzahl der Streiks, Sabotageakte und Arbeitsverweigerungen in den westlichen
Ländern zunahm (dies legte sich allerdings bald wieder). In Konterrevolution
und Revolte (1972) zeigte er sich von dieser „Rebellion gegen das Ganze
der aufgezwungenen Bedingungen, gegen das Leistungssystem als solches“ (S.
28) beeindruckt.
Vorstellbar
war für Marcuse im Spätkapitalismus „eine Zuspitzung des Protests, örtlich
und regional organisiert, das Ausbrechen einzelner Betriebe aus dem System,
Radikalisierung der Selbstverwaltung – eine diffuse Desintegration, die
sozusagen ansteckend wirkt“ (Marcuse u.a. 1978, S. 61).
Die
Revolten, die sich Ende der 60er und in den 70ern gezeigt haben, haben zu
keiner Revolution geführt. Dies hatte Marcuse aber auch gar nicht erwartet,
er sah es lediglich als Möglichkeit, vorausgesetzt eine umfassende Bewegung
unter Einbindung der Arbeiterklasse bilde sich heraus. Diese Möglichkeit
ist aber grundsätzlich immer gegeben, sie setzt aber insbesondere die umfassende
Organisation revolutionären Bewusstseins voraus. Und eben dies ist der Neuen
Linken nicht gelungen. Es ist also nicht nur Verschulden jener Kräfte, die
ihr Bewusstsein anpassen und sich psychisch verzwecken lassen.
Aktuell
für die heutige postfordistische Phase des Kapitalismus ist noch immer Marcuses
dialektische Sichtweise der Einbettung revolutionärer Prozesse in das Verhältnis
von gesellschaftlichen Strukturen und sozialem Handeln. Wir erleben heute
eine weitergehende Verbürgerlichung nicht nur der Arbeiterklasse, sondern
auch der Protestbewegungen, die immer weniger für sich revolutionär sind
und agieren. Nichtsdestotrotz wären gerade heute angesichts der sich verschärfenden
globalen Probleme revolutionäre Subjekte notwendig. Die Aufgabe der Einheit
politischer Theorie und Praxis besteht daher darin, das Bewusstsein solcher
potentiellen Subjekte zur Selbstorganisation anzuregen. Auch die Notwendigkeit
einer linken Avantgarde ist also noch immer, wie von Marcuse bereits vor
25 Jahren festgehalten, gegeben. Sie ist sogar unverzichtbar, soll ein Übergang
in eine qualitativ andere Gesellschaft erfolgen.
Ich
habe mich an anderer Stelle ausführlicher mit der Klassenstrukturierung
des postfordistischen Kapitalismus auseinandergesetzt (vgl. Fuchs 2001,
S. 111-123). Einige Aspekte möchte ich hier kurz zusammenfassen: Kapital
und Lohnarbeit stehen sich in einem Klassenverhältnis gegenüber, da die
Arbeitenden unbezahlte Mehrarbeit lesen. Die Verwertung des Wertes, d.h.
die Selbstzweckhaftigkeit des Wertes, die dazu führt, dass im Rahmen der
Kapitalakkumulation immer mehr Mehrwert produziert und Kapital akkumuliert
wird, ist der zentrale Mechanismus der Reproduktion des Kapitalismus. Die
zumeist weiblichen Reproduktionsarbeitenden werden im Rahmen von patriarchalen
Produktionsweisen (zumeist im Rahmen der Familie) von Kapital und Männern
ausgebeutet, da sie unbezahlte oder niedrig bezahlte Arbeit leisten, ohne
die der Kapitalismus nicht existieren könnte, da er die Reproduktion seiner
Objekte nur dadurch erreichen kann, dass diese im Rahmen von häuslichen
Produktionsweisen Hausarbeitende exploitieren.
Die
immer kleiner werdende Zahl der KernarbeiterInnen[4] kann ihre Vollzeitarbeitsverhältnisse
im Postfordismus nur dadurch aufrecht erhalten, dass das Kapital dafür sorgt,
dass die Arbeitsverhältnisse der peripheren ArbeiterInnen (geringfügige
Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse,
Heimarbeit, Saisonarbeit, Werkvertragsregelungen, neue Selbständigkeit)
immer schlechter werden[5]. Die
überausgebeuteten peripheren ArbeiterInnen stellen eine eigene Klasse da,
die durch das Kapital ausgebeutet wird. An diesem Herrschaftsverhältnis
beteiligen sich die KernarbeiterInnen häufig dadurch, dass sie der Spaltung
der Arbeitenden Vorschub leisten und ihren eigenen Vorteil auf Kosten anderer
verfolgen. Von einer Solidarität zwischen Arbeitenden kann daher heute keine
Rede sein.
Arbeitende
in rassistischen Produktionsverhältnissen werden ebenfalls durch das Kapital
überausgebeutet. Mit Überausbeutung ist gemeint, dass das Kapital periphere,
patriarchale und rassistische Verhältnisse (Kolonien der ursprünglichen
Akkumulation) schafft, um unter deregulierten Arbeitsbedingungen und unter
Minimierung des variablen Kapitalanteils ein Maximum an Mehrwert auszupressen.
KernarbeiterInnen, periphere ArbeiterInnen und Arbeitslose beteiligen sich
häufig an der Aufrechterhaltung rassistischer Herrschaftsverhältnisse, da
sie hoffen, dadurch ihre eigene relativ bessere Situation aufrechtzuerhalten.
Daher stellen rassistisch Ausgebeutete eine eigene Klasse dar, die in einem
Ausbeutungsverhältnis zu Kapital und anderen FördererInnen des Rassismus
steht.
Ein
weiteres Klassenverhältnis besteht zwischen Zentrum und Peripherie, da einerseits
über den Weltmarkt Armut in der “Dritten Welt” generiert wird und andererseits
der Kapitalexport dazu führt, dass Mehrwert in den peripheren Räumen produziert
wird, der ins Zentrum zurückfließt. Der Kapitalismus benötigt Milieus ursprünglicher
Akkumulation zur Produktion von Surplusprofit, die überausgebeutet oder
ausgeschlossen werden, damit die Kapitalakkumulation funktionieren kann
und der Kapitalismus seine Reproduktionsfähigkeit garantieren kann. Als
solche Milieus können die patriarchale und die rassistische Produktionsweise,
die Peripherie (“Dritte Welt”) und die peripheren ArbeiterInnen betrachtet
werden.
Diese Klassenverhältnisse sind geprägt durch asymmetrische Machtverteilungen, Ausbeutung und Herrschaftsförmigkeit. Die asymmetrische Machtverteilung als asymmetrische Verfügbarkeit über einflussreiche Mittel zeigt sich auch in ungleichen Verteilungen der Verfügbarkeit von Information. Mächtigere verfügen i.d.R. über mehr Information und Wissen und spielen bei der Konstitution sozialer Information eine dominante Rolle.
Aus
dieser Klassenstruktierung des Postfordismus ergeben sich mehrere potentielle
revolutionäre Subjekte, die jeweils auf der schwächeren Seite der dichotomisierenden
Linien stehen: Arbeiterklasse, Reproduktionsarbeitende, feministische Bewegungen,
periphere ArbeiterInnen, Arbeitslose, die Anti-Rassismus-Bewegung und die
Solidaritätsbewegung mit der 3. Welt. Hinzu kommen noch weitere Protestbewegungen
wie die Ökologiebewegung, Bürgerinitiativen, Jugendbewegung, Alternativbewegung,
Homosexuellen- und Transgenderbewegung und die Friedensbewegung. Die Klassenstrukturierung
ist heute immer weniger durch die Stellung im Produktionsprozess geprägt,
denn die Anzahl der unmittelbar mehrwertschaffenden Arbeiter nimmt mit der
voranschreitenden Automation stetig ab. Daraus ergibt sich aber eben nicht
ein Übergang in eine klassenlose Gesellschaft, Ausbeutung und Ohmacht erreichen
im Gegenteil ganz neue Dimensionen.
Die
von Antagonismen geprägte politische Globalisierung kann im Sinn von Deleuze
und Guattari (1977) aber auch als die Emergenz emanzipatorischer sozialer
Netzwerke verstanden werden, deren Teile gegen die prekären Lebensverhältnisse
im Zeitalter des Postfordismus und des Neoliberalismus gemeinsam alternative
gesellschaftliche Perspektiven entwickeln und in der Praxis gesellschaftlicher
Auseinandersetzungen umsetzen. So könnte eine Aufhebungsbewegung der bestehenden
Verhältnisse entstehen. In Fuchs (2001) wurde die Herausbildung und Selbstorganisation
emanzipatorischer sozialer Netzwerke, die mit Gilles Deleuze und Félix Guattari
als Rhizome angesehen werden können, näher untersucht und in den theoretischen
Rahmen der Selbstorganisationstheorie gestellt.
Es
kann nicht davon ausgegangen werden, dass soziale Bewegungen automatisch
einen emanzipatorischen Charakter haben. Soziale Bewegungen als potentiell
emanzipatorische Subjekte können emanzipatorische Bedürfnisse und Fähigkeiten,
gesellschaftskritisches Bewusstsein, eine gesellschaftskritische Praxis
und Organisationsformen der Selbstorganisation und der Autonomie entwickeln,
dies sind jedoch nicht automatisch ihre Eigenschaften. Manche dieser Bewegungen
weisen einige dieser Charakteristika auf (eine basisdemokratische Organisationsform,
also Autonomie und Selbstorganisation, ist sogar häufig zu finden), jedoch
auch dies macht sie noch nicht notwendigerweise zum emanzipatorischen Subjekt.
Hier sind also noch immer Marcuses Aussagen zutreffend, dass sich nicht
automatisch ein neues revolutionäres Subjekt herausbilde.
In
diesem Zusammenhang gewinnt die Frage nach einer intellektuellen Avantgarde
einen neuen Stellenwert. Da Rhizome und Meta-Rhizome nicht automatisch über
ein emanzipatorisches Bewusstsein verfügen, das über den Kapitalismus hinausweist,
scheint intellektuellen Avantgarden – ganz im Gegensatz etwa zu den Praktiken
mit Sendungsbewusstsein und Führungsanspruch ausgestatteter marxistisch-leninistischer
Parteien – die unverzichtbare Rolle eines Auslösers zuzufallen, der
die Bildung von emanzipatorischen Rhizomen und Meta-Rhizomen triggert und
potentiell emanzipatorische Subjekte in tatsächlich emanzipatorische Subjekte
verwandelt, die ihre Probleme als jene anderer und diejenigen anderer als
ihre eigenen begreifen. Die intellektuelle Avantgarde führt somit eine Veränderung
der Gesellschaft nicht an, sondern gibt nur den Anstoß dazu. Auch dies ist
ganz im Sinn Marcuses, der wenig von der klassisch leninistischen Avantgarde
hielt (zum Begriff der intellektuellen Avantgarde siehe auch Fuchs 2001,
S. 160ff).
Vernetzte,
emanzipatorische soziale Bewegungen müssen nicht homogene Interessen haben
und auf eine Homogenisierung ihrer Politik abzielen, um eine gemeinsame
politische Perspektive zu erlangen. Sie müssen auch nicht auf ein Zulassen
aller möglichen politischen Richtungen – ein anything goes – innerhalb ihres
rhizomatischen Netzwerkes hinarbeiten. Vielmehr können sie einerseits die
Unterschiede in ihren politischen Herangehensweisen und Vorstellungen sowie
in der Ausprägung in ihren spezifischen lokalen und regionalen politischen
Situation betonen und andererseits aber nichtsdestotrotz gleichzeitig eine
gemeinsame Perspektive entwickeln, indem sie das Verbindende betonen, herausarbeiten
und als ein Leitbild der politischen Praxis verwenden.
Die
Kulturwissenschaftler Steven Best und Douglas Kellner (1997) sehen eine
solche politische Position als Synthese von moderner und postmoderner Politik.
Es sei eine Einheit von Herangehensweisen der “modernen Politik” wie die
Betonung von Solidarität, Allianzen, Konsens, universellen Rechten und einer
Makropolitik sowie von Herangehensweisen der “postmodernen Politik” wie
die Betonung von Differenz, Pluralität, Multiperspektivität, Identität und
einer Mikropolitik notwendig. Eine solche Dialektik von Moderne und Postmoderne
könne bei der Lösung der großen politischen Probleme fruchtbar sein. Diese
Position der Einheit in der Vielfalt wurde auch in Fuchs/Hofkirchner (2000)
für den politischen und kulturellen Bereich verdeutlicht.
Die Zukunft unserer Gesellschaft ist also wesentlich abhängig von der Selbstorganisation und der Radikalisierung bestehender Protestbewegungen, die im Moment aber einer immer stärkeren Verbürgerlichung unterliegen. Als zentral erachte ich hierbei das Konzept der Selbstorganisation. Mit dem modernen Komplexitätsansatz und den Selbstorganisationstheorien (vgl. Fuchs 2001) werden heute immer stärker Elemente wie Zufall, deterministisches Chaos, eingeschränkte Vorhersagbarkeit, Unordnung, Ordnung aus dem Chaos, Instabilität, Dynamik, Unsicherheit, Ambigutität, multidimensionale, komplexe und nichtlineare Kausalität, Indeterminismus und Interdisziplinarität an Stelle von Vorhersagbarkeit, Stabilität einer Ordnung, Sicherheit, Kontrolle, Steuerbarkeit, Linearität, Reduktionismus, Determinismus und Fragmentierung betont. Für die Sozialwissenschaften bedeutet dies eine Ende der Gewissheiten, es ist nicht möglich, uneingeschränkt geltende Gesetze zu entdecken, nach denen soziale Systeme funktionieren und die diese vorhersagbar und infolgedessen stabilisierbar und kontrollierbar machen. Vielmehr stellen wir einen Übergang vom Sein zum Werden fest, d.h. dass auch Gesellschaftssysteme sich permanent dynamisch wandeln und dass Situationen eintreten, in denen Instabilitäten auftreten und die gesellschaftliche Entwicklung nicht weiter vorhergesagt werden kann. An der klassischen sozialwissenschaftlichen Darstellung universeller Regeln, die menschliches und soziales Handeln erklären sollen, kann nicht mehr weiter festgehalten werden. Vielmehr folgen bestimmte Aspekte sozialer Systeme Regeln und sind daher auch einigermaßen vorhersagbar. Andererseits gibt es aber auch chaotische Zustände, in denen die weitere Entwicklung eines sozialen Systems nicht vorhersagbar ist. Die Anwendung des Newtonschen Paradigmas und dessen verkürzter, mechanistischer Kausalität auf die Sozialwissenschaften steht noch immer an der Tagesordnung, die menschliche Geschichte gilt vielen immer noch als unvermeidlich fortschrittlich und es wird nach Regeln gesucht, die helfen sollen, die gesellschaftliche Entwicklung exakt vorherzusagen. Auch Immanuel Wallerstein stellt in diesem Zusammenhang fest – und darin gebe ich ihm uneingeschränkt recht – , dass die Sozialwissenschaften heute mit einem Ende der Gewissheiten konfrontiert sind, Indeterminismus, Irreversibilität, Zufall und Nichtvorhersagbarkeit seien heute von wesentlicher Bedeutung (vgl. Wallerstein 1995, 1997).
Wie
die Gesellschaft von morgen aussehen wird, ist aus all diesen Gründen nicht
vorherbestimmt und auch nicht vorhersagbar. Viele Möglichkeiten stehen offen,
gerade in einer Zeit der Turbulenzen und Instabilitäten ist die weitere
Entwicklung nicht determiniert. Auch eine ideale Gesellschaft kann nicht
geplant und die gesellschaftliche Entwicklung mit Sicherheit in diese Richtung
gelenkt werden. Es können höchstens einige Grundprinzipien angegeben werden,
auf denen eine sozial und ökologisch – eine solche halte ich für wünschenswert,
eine solche wurde aber bisher auch noch nicht etabliert – nachhaltige Gesellschaft
basieren könnte. Als wesentliches Moment erachte ich dabei die gesellschaftliche
Selbstorganisation und Selbstbestimmung, die Fremdorganisation und hierarchischen
Organisationsweisen einen basisdemokratische bottom-up-Prozesse entgegenhält.
Ich
gehe davon aus, dass wir heute mit der globalen Krise unserer Gesellschaften
in einem Bifurkationspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung angelangt
sind, in dem sich massive Instabilitäten in der Form der Verschärfung der
globalen Probleme zeigen und in dem die weitere Entwicklung nicht determiniert,
sondern offen ist. Wir sind daher mit der Ambivalenz von großen Risiken
und Gefahren einerseits sowie sich ergebenden Chancen für die zukünftige
Entwicklung andererseits konfrontiert. Denkbar sind mehrere Entwicklungsszenarien:
Das Ende der Menschheit, da die globalen Probleme unter den derzeitigen
Entwicklungsbedingungen nicht in den Griff zu bekommen sind; die weitere
krisenhafte Reproduktion des Kapitalismus im Rahmen extrem militarisierter
und repressiver Regime; der Übergang in offen faschistische Formen des Kapitalismus;
oder ein grundlegender Richtungswandel, der ein Umdenken in allen gesellschaftlichen
Bereichen und einen sich daraus ergebenden Formwandel voraussetzt, mit Hilfe
dessen eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung eingeschlagen
werden kann.
Ich
bin nicht optimistisch, was die weitere Entwicklung betrifft, es ist jedoch
nicht der Fall, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung unabhängig vom
sozialen Handeln des Menschen durchsetzt. Gerade in solchen Phasen der Instabilität
kommt dem sozialen Eingriff des Menschen eine große Bedeutung zu. Es ist
zwar nicht möglich, die weitere Entwicklung zu bestimmen, aber die gesellschaftliche
Evolution kann möglicherweise durch soziale Gestaltungsmechanismen in gewisse
Bahnen geleitet werden. D.h., dass es menschliche Intervention grundsätzlich
ermöglicht, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass eine gewisse Entwicklungsbahn
eingeschlagen wird. Gewissheiten gibt es allerdings auch hierbei nicht.
Verläuft diese Intervention des Menschen in Gesellschaft und Natur weiterhin
auf zerstörerische und ausbeuterische Art und Weise, so bin ich mir ziemlich
sicher, dass sich eines der ersten drei Schreckensszenarien ergeben wird.
Werden jedoch die Selbstorganisationspotenzen der Menschheit aktiviert,
d.h. wenn durch basisdemokratische Bottom-Up-Interventionen versucht wird,
gesellschaftlichen Hierarchien und Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken, so
bin ich zuversichtlich, dass das vierte Szenario und damit möglicherweise
eine Humanisierung der globalen Lebensverhältnisse durch die Etablierung
einer auf den Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbstbestimmung
aller gesellschaftlicher Lebensbereich basierenden Gesellschaft erreicht
werden kann. Es geht also um Selbstorganisation an Stelle von Fremdorganisation
als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip, das eine sozial und ökologisch
nachhaltige Entwicklung ermöglichen könnte.
Gewisse
Hoffnungen setzte ich in die Neuen Sozialen Bewegungen, da hier Basisdemokratie
und Selbstorganisation immer eine gewisse Bedeutung gehabt haben. Allerdings
zeigt sich heute einerseits die Institutionalisierung und damit ein tendenzielles
Ende dieser sozialen Protestbewegungen, anderseits fehlt eine umfassende
Perspektive, die die Verbundenheit aller Ausgebeuteten und Unterdrückten
mit berücksichtigt und Selbstorganisation als mögliches umfassendes gesellschaftliches
Gestaltungsprinzip in Ökonomie, Politik und anderen Lebenswelten begreift.
Das
Internet ist vorwiegend ein Mittel zur Erzielung von Profit. Trotz allem
zeigt sich, dass moderne IKT von sich selbst organisierenden politischen
Bewegungen unterstützend effizient eingesetzt werden können. Vor allem eine
globale Vernetzung und Vereinfachung sowie Beschleunigung kommunikativer
Abläufe kann so erreicht werden. Es gibt einige Beispiele, die zeigen, dass
kritische und oppositionelle Tätigkeiten durch die Vernetzung effizienter
selbst organisiert werden können. IKT sind Teil jener Strukturen, die Fremdbestimmung
aufrechterhalten, bieten aber auch Unterstützung bei vernetzter Selbstorganisation,
die gesellschaftskritisch und intervenierend agiert (vgl. Fuchs 2001). Auch
hier hat sich jedoch noch kein ausreichendes Potential gebildet, sondern
die Möglichkeiten lassen sich nur an Hand von Beispielen verdeutlichen.
Unsere
nahe Zukunft wird eine radikal transformierte Gesellschaft (oder keine Gesellschaft
mehr, aber auch dies ist eine radikale Transformation) erleben und die Zeit
bis dorthin wird eine mit großen sozialen Unruhen und einer Zunahme der
alltäglichen Gewalt sein. Ob wir die Gesellschaft verändern wollen, kann
daher nicht die Frage sein, denn sie verändert sich ständig und wird gerade
in den kommenden Jahrzehnten radikalen Transformationen unterworfen. Die
Frage, die sich stellt, ist vielmehr, ob wir die globalen Probleme weiter
eskalieren lassen wollen oder die Gesellschaft und damit die Menschheit
positiv verändern wollen. Die derzeitige große Gesellschaftskrise kann als
Resultat der Antagonismen der kapitalistischen Entwicklung betrachtet werden.
Die
Krise setzt sich unabhängig vom Willen der Menschen durch, nicht jedoch
die Entwicklung im Bifurkationspunkt. Schon kleine politische Aktionen können
große Konsequenzen nach sich ziehen. Daher ist der freie Wille in dieser
Situation von großer Bedeutung. Fortschritt ist möglich, aber nicht unvermeidlich.
Er ist aber auf alle Fälle abhängig davon, ob es gelingt, soziale Selbstorganisation
in der gesellschaftlichen Praxis und den sich darin immer findenden (Überlebens-)Kämpfen
konkret umzusetzen.
Diese Aspekte der Selbstorganisation nahm auch bereits Herbert Marcuse vorweg, ohne dass er sich freilich auf die (sich in dieser Zeit noch in ihren Anfängen befindende) Selbstorganisationstheorie bezogen hätte. Dass in revolutionären Situationen kleine Ursachen große Wirkungen nach sich ziehen können, beschrieb Marcuse als Domino-Effekt: Rebellionen, die an bestimmten Orten beginnen, könnten sich auf diese Weise ausbreiten und selbst verstärken (Marcuse 1966b, S. 176). „Wäre die Revolution in einem strategisch wichtigen Land siegreich, könnte sie sich in einer Art Schneeballeffekt auf andere Länder ausweiten und die jeweiligen Satellitenregimes zu Fall bringen“ (Marcuse 1973/74, S. 148).
In der Selbstorganisationstheorie wird auch immer wieder betont, dass im Rahmen solcher sich fortpflanzender Phänomene häufig eine kleine anfängliche Instabilität den Anstoß zur umfassenden Selbstorganisation gibt. Für den revolutionären Prozess sprach Marcuse von anfänglich schwächlich organisierten Gruppen, „die kraft ihres Bewusstseins und ihrer Bedürfnisse als potentielle Katalysatoren der Rebellion innerhalb der Mehrheiten wirken“ (Marcuse 1969, S. 284).
Die Selbstverstärkung sozialer Bewegungen habe ich an anderer Stelle (Fuchs 2001) als Temporäre Autonome Rhizome (TAR) gekennzeichnet. Auch Marcuse spricht von solchen dezentralen, potentiell revolutionären (Selbst-)Organisationsformen. Der Prozess „innerer Desintegration [kann] durchaus einen weitgehend dezentralisierten, diffusen und ‚spontanen’ Charakter annehmen, sich an verschiedenen Orten gleichzeitig abspielen oder sich durch ‚Ansteckung’ ausbreiten. Allerdings können solche örtlichen Dysfunktionen und Störungen nur dann zu Kernen gesellschaftlicher Veränderung werden, wenn sie politisch gelenkt und organisiert sind“ (Marcuse 1969, S. 48).
Auch Marcuse betonte, dass die Entwicklung in Phasen der Krise relativ offen ist. Die Zukunft sei nur „mögliche Befreiung. Sie ist keineswegs die einzige Alternative; das Heraufziehen einer langen Periode ‚zivilisierter’ Barbarei, mit oder ohne atomare Zerstörung, ist gleichermaßen in der Gegenwart enthalten“ (Marcuse 1969, S. 314).
Selbstorganisation bedeutet auch, dass eine revolutionäre Bewegung zwar Theorie und emanzipatorisches Bewusstsein braucht, aber keine Führer, die dies organisieren. Notwendig ist die Anregung zum kritischen Denken, nicht mehr. Gerade aber die Spontaneität ist Ausdruck der Selbstorganisation revolutionärer Bewegungen, die in eine andere Gesellschaft führen. Sie widersetzen „sich ebenso der zentralisierten bürokratisch-kommunistischen Organisation wie der halbdemokratisch liberalen. Ein starkes Element der Spontaneität, ja des Anarchismus ist in dieser Rebellion enthalten“ (Marcuse 1969, S. 315). Aufklärung, Erziehung und politische Praxis, sind – wie Marcuse an derselben Stelle nochmals verdeutlicht – notwendig. Aber nicht als Führung der Bewegung, sondern als Trigger ihrer Selbstorganisation. Sich selbstorganisierende, emanzipatorische Bewegungen nehmen in ihrer Organisationsform immer eine in allen Bereichen auf dem Prinzip der Selbstbestimmung basierende Gesellschaft vorweg. Es ist also der Fall, „dass sich die Befriedigung vitaler materieller Bedürfnisse durch die Revolution von Anbeginn im Horizont der Selbstbestimmung vollziehen muss“ (Marcuse 1972, S. 26). Heute solle die mehrwertproduzierende Zeit angeeignet werden und „durch die Selbstbestimmung und Selbstorganisation gesellschaftlich notwendiger Arbeit für die Abschaffung der Knechtschaft genutzt werden“ (Marcuse 1973/74, S. 171). Die große Weigerung und die erwähnten Formen der direkten revolutionären Aktion sah Marcuse als Formen der Selbstorganisation, so könne etwa die Situation kommen, an der die Bedingungen derart herangereift sind, dass „die Übernahme einzelner Fabriken und Betriebe und die Selbstorganisation der Arbeit stattfinden kann“ (ebd., S. 173).
Die
materiellen Bedingungen haben heute einen Stand erreicht, der einen unmittelbaren
Übergang ins Reich der Freiheit ermöglichen würde. Innerhalb der kapitalistischen
Vergesellschaftung hat die Entwicklung der Produktivkräfte zu einer Dauerkrise
geführt, deren Ausgang nicht gewiss ist. Die allgemein-selbstorganisierende,
antagonistische Evolution des Kapitalismus verläuft krisenhaft, der Widerspruch
zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen äußert sich heute
massiv. Es bedarf sozialer Selbstorganisation, um die Wahrscheinlichkeit
zu erhöhen, dass nachhaltige Entwicklungspfade eingeschlagen werden.
Die Etablierung einer nachhaltigen und sozial selbstorganisierten (2) Gesellschaft bedarf emanzipatorischer, sich selbstorganisierender (2) Subjekte, die ein kritisches Bewusstsein ausbilden und dieses in reale gesellschaftliche Kämpfe einbringen. Es ist nicht gewiss, ob sich dieses Bewusstsein überhaupt bilden kann und wie darauf aufbauende Kämpfe ausgehen. „die in den Widersprüchen verfangenen (materiellen und intellektuellen) Produktivkräfte werden frei zum Übergang in die ‚höhere’ geschichtliche Form gesellschaftlichen Seins im bewussten Kampf mit den bestehenden Gewalten und den von ihnen bestimmten Interessen und Institutionen. Der Ausgang hängt von den Bedingungen der Möglichkeit dieses Kampfes und des sich in ihm entwickelnden Bewusstseins ab. Dazu gehört, dass seine Träger ihre Sklaverei und deren Gründe begriffen haben, dass sie ihre Befreiung wollen und die Wege dazu gesehen haben“ (Marcuse 1966c). Dies ist die wesentliche Bedeutung von Selbstorganisationsprozessen in der heutigen Gesellschaft.
3.
Demokratie und Faschismus
Herbert Marcuse war radikaler Kritiker des Kapitalismus und des ihn begleitenden
Systems der bürgerlich-repräsentativen Demokratie, die er lediglich als
Schein-Demokratie ansah.
Die
eindimensionale Welt, so Marcuse (1967) sei das Gegenteil von einer freien,
da eine solche eine Freiheit von ökonomischer und politischer Kontrolle
umfassen müsste. Erst dann wäre die Wiederherstellung eines individuellen
Denkens möglich. Freiheit im Sinn der freien Auswahl aus einem breiten Spektrum
aus Waren und Dienstleistungen bedeute keine Freiheit, wenn diese Waren
die soziale Kontrolle aufrechterhalten.
Die
Menschen würden sich in den Waren wiedererkennen, sie würden für ihr Auto,
ihren Hi-Fi-Empfänger oder ihr Küchengerät leben (Marcuse 1967, S. 29).
Durch die Manipulation des Geistes mit Hilfe der Technik, der Massenmedien
und der Waren entsteht, so Marcuse, ein eindimensionales Denken und Verhalten:
„So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens,
worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende
Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder
zu Begriffen dieses Universum herabgesetzt werden“ (Marcuse 1967, S. 32).
Auch
die Sprache sei im Spätkapitalismus eindimensional. Attribute wie „Freiheit“,
„Gleichheit“ und „Demokratie“ würden z.B. zur Charakterisierung des Kapitalismus
herangezogen (freie Wirtschaft, Initiative, Wahlen usw.). Das täusche jedoch
über die Tatsachen hinweg, dass die herrschende Art der Freiheit Knechtschaft
und die herrschende Art der Gleichheit Ungleichheit bedeute (Marcuse 1967,
S.107f). Das Neue sei, dass die öffentliche und private Meinung diese Manipulationen
allgemein akzeptiere. Sprache und Kommunikation immunisiere sich zunehmend
gegen den Ausdruck von Protest und Weigerung. Die Reklame bediene sich der
Technik der Belegung von Waren mit Bedeutungen und Images, um die Güter
zu verkaufen. Gefragt sei also nicht kritisches Denken der potentiellen
KonsumentInnen, sondern die stupide, reflexartige Reaktion der Objekte der
Reklame. Die Werbung bediene sich einer widersprüchlichen, manipulierenden
Sprache, sie schafft neue Wortkreationen, die Waren lobpreisen, eben um
jene an den Mann bzw. die Frau zu bringen.
Die
Herrschaft stelle das Grausame als völlig normal hin. So würden z.B. Werbungen
des Civil Defense Headquarters für einen „erstklassigen Bunker gegen atomaren
Niederschlag“, ausgestattet mit allem Luxus (Fernsehen, Brettspiele, Klubsesseln,
usw.) und „entworfen als kombiniertes Zimmer für die Familie in Friedenszeiten
und als Familienbunker gegen Atomniederschläge“, als völlig normal betrachtet
werden. Ziel dabei sei es, dass das Grausame als selbstverständlich hingenommen
und nicht in Frage gestellt wird (Marcuse 1967, S. 259).
Die
heutige Sprache sei eine eindimensionale, eine, die ein Vehikel der Gleichschaltung
darstelle und unkritisch sei. Gegenpol dazu sei eine dialektische Sprache,
die die Widersprüche benennt. Marx spreche z.B. im Kommunistischen Manifest
vom Proletariat, dem die Attribute der totalen Unterdrückung und der totalen
Aufhebung der Unterdrückung zukämen (Marcuse 1967, S.119).
Die Menschen würden im Kapitalismus dazu gebracht, die Gesellschaft hinzunehmen. Dies bedeute ein falsches Bewusstsein, das aber in ein wahres umgewandelt werden könne. Die falschen Bedürfnisse, so Marcuse, sind jene, die den Menschen von gesellschaftlichen Mächten auferlegt werden, die an ihrer Unterdrückung interessiert sind. Es handle sich daher auch um repressive Bedürfnisse.
„Die
meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im Einklang mit der Reklame zu
entspannen, zu vergnügen, zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und
zu lieben, was andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher
Bedürfnisse“ (Marcuse 1967, S. 25)
Solange
die Menschen manipuliert werden und kein eigenes autonomes Bewusstsein haben,
können sie, so Marcuse, kann ihre Antwort auf die Frage, was wahre und falsche
Bedürfnisse sind, nicht als ihre eigene verstanden werden.
Die
von der Gesellschaft ausgeübte Kontrolle werden im Bewusstsein Menschen
reproduziert. Dies bezeichnet Marcuse als „Introjektion“ (Marcuse 1967,
S. 30). „Das Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimesis:
eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der
Gesellschaft als einem Ganzen“ (ebd.).
Typisch
für die heutige bürgerliche Gesellschaft sei repressive Toleranz (Marcuse
1965c): Toleranz werde vorgegeben, um alternative gesellschaftliche Entwicklungen
zu unterdrücken. Einerseits würden natürlich die vorherrschenden Ideen und
Haltungen toleriert, anderseits auch offiziell davon abweichende Meinungen,
um die „bereits etablierte Maschinerie der Diskriminierung“ (Marcuse 1965c,
S. 139) zu schützen. In der Überflussgesellschaft herrsche Diskussion im
Überfluss, alle möglichen Standpunkte ließen sich vernehmen. Vorgegeben
werde dabei immer, dass das Volk fähig wäre, auf der Basis freier Erkenntnis
diese Ideen autonom auszuwählen und im besten Sinn zu bewerten. Eben dies
stellt aber Marcuse grundsätzlich in Frage: „Unter der Herrschaft der monopolistischen
Medien – selber bloß Instrumente ökonomischer und politischer Macht – wird
eine Mentalität erzeugt, für die Recht und Unrecht, Wahr und Falsch vorherbestimmt
sind, wo immer sie die Lebensinteressen der Gesellschaft berühren. [...]
blockiert wird die effektive Abweichung, die Anerkennung dessen, was nicht
dem Establishment angehört; das beginnt in der Sprache, die veröffentlicht
und verordnet wird. Der Sinn der Wörter wird streng stabilisiert. Rationale
Diskussion, eine Überzeugung vom Gegenteil ist nahezu ausgeschlossen. [...]
Andere Wörter können zwar ausgesprochen und gehört, andere Gedanken zwar
ausgedrückt werden, aber sie werden nach dem massiven Maßstab der konservativen
Mehrheit (außerhalb solcher Enklaven wie der Intelligenz) sofort ‚bewertet’
(das heißt: automatisch verstanden) im Sinne der öffentlichen Sprache“ (Marcuse
1965c, S. 146). Die Entscheidung zwischen gegensätzlichen Ansichten werde
damit schon im vorhinein festgelegt, die Toleranz abweichender Meinungen
sei daher nur Schein, die Wirklichkeit bedeute repressive Unterdrückung
der Ausbreitung wahren Bewusstseins durch effektive und subtile Herstellung
eines eindimensionalen Massenbewusstseins. Die moderne Demokratie sei daher
totalitäre Demokratie. Die Menschen hätten gar nicht „das Bedürfnis, irgendetwas
zu lesen, zu sehen oder zu hören, das der allgemein akzeptierten Wahrheit
oder Falschheit widerspricht“ (Marcuse 1973/74, S. 152). Die bürgerliche
Demokratie habe militant-reaktionären Charakter, aber eine wesentliche und
äußerst starke Basis in der Bevölkerung (ebd., S. 160).
Der
Kapitalismus sei tatsächlich totalitäres System: „Der Totalitarismus ist
nämlich nicht nur eine terroristische politische Koordination der Gesellschaft,
sondern auch eine nicht-terroristische wirtschaftlich-technische Koordination,
die Bedürfnisse nach ökonomischen Interessen manipuliert und so die Entstehung
einer wirksamen Opposition gegen das durch diese Interessen organisierte
Ganze verhindert“ (Marcuse 1961, S. 57). Trotz der totalitären Aspekte der
bürgerlichen Demokratie sei diese qualitativ unterschiedlich vom Faschismus
und biete noch bessere Chancen zum Übergang in den Sozialismus. Daher trat
Marcuse immer wieder für die bürgerliche Demokratie ein, wenn die Alternative
jene zwischen dieser und Faschismus war. In der Zeit des deutschen Faschismus
fertigte er etwa Studien über dieses System und die Deutschen für das Office
of War Information (OWI) und das Office of Strategic Services (OSS) an.
Sein Ziel dabei war die Etablierung der bürgerlichen Demokratie an Stelle
des Faschismus, nicht, da er dieses System so geschätzt hätte, aber da er
erkannte, dass die Bewahrung bürgerlicher Freiheiten trotz allem Totalitarismus
wesentlich bessere politische Bedingungen darstellt als die Situation in
faschistischen Systemen.
Wenn
wir unter Demokratie die unmittelbare Selbstbestimmung der Menschen, d.h.
ein Entscheidungssystem, in dem jeder an den Entscheidungen, die ihn/sie
betreffen partizipieren mit gleicher Macht partizipieren kann, so wird deutlich,
dass die kapitalistische Gesellschaft tatsächlich nur – wie von Marcuse
immer wieder betont – Schein-Demokratie ist. Die totalitären Züge sind in
allen gesellschaftlichen Subsystemen vorherrschend, auch in der heutigen
postfordistischen Phase des Kapitalismus. Werfen wir einen kurzen Blick
auf die Exklusionen und Totalitarismen der bürgerlichen Gesellschaft. Daran
wird sich zeigen, dass Marcuses Einschätzungen noch immer gültig sind.
Der Kapitalismus basiert auf Fremdorganisation, Exklusivitäten, Asymmetrien und Totalitarismen in den Bereichen Ökonomie, Politik und Kultur. So unterliegen die ökonomischen Ressourcen Asymmetrien. Privateigentümer und Unternehmer verfügen über eine exklusive Kontrolle der Ressourcen und Produktionsmittel. Ökonomische Ressourcen sind im Kapitalismus exklusive Ressourcen, dies begründet sich durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und Großgrund. Mehrwertproduktion und andere Arbeitsverhältnisse, bei denen ein Transfer von Quanta lebendiger Arbeit von Ausgebeuteten zu Ausbeutern stattfindet, ist ein gesellschaftlicher Zwang für jene, die vom Besitz dieser ökonomischen Informationen ausgeschlossen sind. Lohnarbeiter sind doppelt „frei“: „frei“ ihre einzige Ware (Arbeitskraft) auf den Markt zu werfen und frei von den Produktionsmitteln und Waren, die sie einsetzen und herstellen. Lohn- und Reproduktionsarbeit sind notwendig für die Produktion von Mehrwert, dadurch konstituieren sich Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse. Die Ausgebeuteten arbeiten in diesen Bereichen mehr als sie bezahlt bekommen, sie leisten unbezahlte Mehrarbeit oder gar Gratisarbeit. Hinsichtlich der Verteilung des Mehrprodukts und der entstehenden Waren muss gesagt werden, das sie jenen gehören, die sie nicht produzieren. Die unmittelbaren Produzenten und die indirekt Ausgebeuteten bekommen nur ein Minimum davon.
Die
Reproduktions- und Hausarbeit ist notwendig für die Produktion und Wiederherstellung
der Arbeitskraft. Es handelt sich um un- oder niedrig bezahlte Arbeiten,
ohne die der Kapitalismus nicht existieren könnte. Sie sind meist weiblich
besetzt, wobei Frauen heute sehr häufig Lohn- und Reproduktionsarbeitende
sind. Lohnarbeitende beuten die zumeist weiblichen Reproduktionsarbeitenden
im Rahmen häuslicher Produktionsweisen, die sich noch immer zumeist im Rahmen
der Familie konstituieren, aus, um sich selbst ausbeuten lassen zu können.
Auch hier sprechen wir von einem Klassenverhältnis, das durch den Transfer
unbezahlter Arbeit von Reproduktionsarbeitenden zu Lohnarbeitenden und schlussendlich
zum Kapital konstituiert wird. Auch hier geht es um die asymmetrische Verteilung
und Verfügung über ökonomische Information, d.h. Ressourcen. Reproduktionsarbeitende
sind meist abhängig von der Ressource Geld, die durch Lohnarbeit verdient
werden muss, verfügen jedoch nicht direkt darüber. Sie sind immer mit der
Androhung von Gewalt und Ressourcenentzug bedroht, z.B. auch dann, wenn
Frauen Mehrfachbelastungen nicht durchstehen können.
Im
Rahmen rassistischer Produktionsverhältnisse kommt es zur Überausbeutung.
Diese Arbeitsverhältnisse sind i.d.R. sehr schlecht bezahlt und minimal
sozial abgesichert (dies gilt auch für periphere Arbeitsverhältnisse). Lohnarbeitende
beteiligen sich heute häufig an der Ideologie des Rassismus, um ihre relative
Besserstellung gegenüber den rassifizierten Ausgebeuteten abzusichern. Arbeitende
in solchen Verhältnissen verfügen meist über noch weniger ökonomische Ressourcen,
politische Entscheidungsrechte und Einfluss auf kulturelle Norm- und Wertbildungen.
Sie sind mit einer starken Exklusion hinsichtlich ökonomischer, politischer
und kultureller Information konfrontiert. Auch hier konstituiert sich ein
Klassenverhältnis.
Bei
Klassenverhältnissen geht es immer auch um die Kontrolle von Ressourcen,
also ökonomischer Information, durch die einen, um andere zu zwingen, diese
Ressourcen einzusetzen, um die Akkumulation neuer Ressourcen (im Fall des
Kapitalismus Waren und Kapital) zu ermöglichen. Dies bedeutet immer auch
den Einsatz von Gewalt bzw. die dessen Androhung, um Ausbeutung aufrechtzuerhalten.
Es zeigt sich also im Kapitalismus die exklusive Kontrolle ökonomischer
Information.
In
Fuchs (2001) haben wir darauf hingewiesen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft
auch politische Entscheidungen exklusive soziale Informationen sind (vgl.
Fuchs 2001, S. 173ff). In der Repräsentativdemokratie sind Gesetze soziale
Informationen. Wahlen bedeuten Konkurrenz und führen zu einer Spaltung in
Regierung/Opposition und Parlament/Volk. Dadurch werden Exklusivitäten konstituiert,
es kommt zur Delegation der politischen Entscheidungskompetenz an eine oligarchische
Gruppe. Das Repräsentativsystem fördert nicht die soziale Selbstorganisation
der Menschen, sondern die exklusive Kontrolle politischer und ökonomischer
Information.
Wir
haben es in der Repräsentativdemokratie mit einer doppelten Asymmetrie und
Spaltung in WählerInnen/Gewählte und Regierung/Opposition zu tun. Sie kann
daher nicht als sozial selbstorganisiert betrachtet werden, sondern entwickelte
sich parallel zur bürgerlichen Gesellschaft und in Übereinstimmung mit dem
Prinzip der Exklusivität. Exklusivität und Konkurrenz sind in beiden Systemen
(bürgerliche Politik und Ökonomie) Formprinzipien.
Wir
haben auch argumentiert, dass direktdemokratische Modelle in der bürgerlichen
Gesellschaft Exklusivitäten unterliegen (Mehrheit/Minderheit) und dass die
Gefahr besteht, das direktdemokratische Systeme in Form von Plebisziten
in faschistische Elemente umschlagen (vgl. Fuchs 2001, S. 178ff).
Die
kapitalistische Kultur als die heutige Art und Weise, in der Normen und
Werte zustande kommen, wird durch Massenmedien wesentlich beeinflusst. Gerade
in der Informationsgesellschaft nehmen diese Medien durch die neuen Informations-
und Kommunikationstechnologien eine noch größere Bedeutung ein. Sie haben
einen dialektischen Charakter: Sie können herrschaftsförmig und befreiend
eingesetzt werden. Einerseits führt die Massenkultur durch die Unterbindung
sozialen Wandels und technische Vermittlung zur Gleichschaltung der Individuen.
Freiheit reduziert sich auf Konsumfreiheit, die „freie“ Auswahl aus einem
diversifizierten Warenspektrum.
Es
kommt zur Manipultion des Denkens und Handelns, eine Eindimensionalität
stellt sich ein (Marcuse 1967, Horkheimer 1946, Adorno/Horkheimer 1969),
oppositionelle Bestrebungen und Ziele werden in einem gewissen Ausmaß unterbunden.
Die kulturellen Kanäle werden exklusiv kontrolliert, die vermittelten Inhalte
durch Informationsmonopole beeinflusst und hergestellt. Auch die kulturelle
Information unterliegt hierbei Exklusivitäten, denn Monopole haben großen
Anteil auf die allgemeine gesellschaftliche Norm- und Wertbildung, während
die vereinzelten Individuen Objekte von Ideologien und Propaganda werden,
die auf den Formierungsprozess kultureller Information und die Konstitution
politischer Information kaum Einfluss nehmen können. Typisch für den heutigen
Kapitalismus sind Medienkonzerne. Kultur als Ware erfüllt eine ideologische
Funktion im Kapitalismus, sie manipuliert das Bewusstsein und hält Menschen
ohnmächtig.
Marcuse
(1967) betont in diesem Zusammenhang, dass die Kulturindustrie wildes, obszönes,
deftiges, unmoralisches und männliches präsentiere und genau deswegen harmlos
sei. Kategorien wie Lohnarbeit und Konsum würden über diese Massenmedien
als etwas selbstverständliches präsentiert. Dies sei aber eine totalitäre
Selbstverständlichkeit, da auf diese Weise gesellschaftliche Zwänge naturalisiert
und entproblematisiert werden. Die Menschen würden die Sprache der Herrschenden
internalisieren und ein falsches Bewusstsein und falsche Bedürfnisse ausbilden.
Max Horkheimer (1946) betont, dass all dies zur Ausbildung einer instrumentellen
Vernunft führe: Reaktionen würden genau vorgezeichnet, es bedarf keiner
zusätzlichen Anstrengung mehr, Handlungen wirken wie automatisiert, werden
nicht mehr hinterfragt.
Marcuse
hebt – wie wir bereits gesehen haben – immer wieder hervor, dass die Menschen
nicht notwendigerweise ein falsches Bewusstsein aufweisen, sondern dass
sich auch kritisches Denken und Handeln entwickeln können. Die Kultur sei
heute herrschaftsförmig und manipulierend, daher affirmative Kultur. Menschen
würden sich glücklich fühlen, obwohl sie es nicht sind. Manifestationen
der Kultur könnten nun aber auch antizipativ wirken, die Phantasie anregen
und damit einen Vorgriff auf eine bessere, freie Welt geben. Einerseits
würden kulturelle Manifestationen die bestehende Ordnung stabilisieren,
andererseits könnten sie aber auch das Bild einer besseren Ordnung vermitteln
und zu kritischem Bewusstsein anregen.
„Die
affirmative Kultur war die geschichtliche Form, in der die über die materielle
Reproduktion des Daseins hinausgehenden Bedürfnisse der Menschen aufbewahrt
blieben, und insofern gilt von ihr wie von der Form der gesellschaftlichen
Wirklichkeit, der sie zugehört: das Recht ist auch auf ihrer Seite. Sie
hat zwar die ‚äußeren Verhältnisse’ von der Verantwortung um die ‚Bestimmung
des Menschen’ entlastet – so stabilisiert sie deren Ungerechtigkeit –, aber
sie hält ihnen auch das Bild einer besseren Ordnung vor, die der gegenwärtigen
aufgegeben ist. [...] Es ist das eigentliche Wunder der affirmativen Kultur.
Die Menschen können sich glücklich fühlen, auch wenn sie es gar nicht sind.
Sofern Kultur nur als affirmative Kultur in das abendländische Denken eingegangen
ist, wird die Aufhebung ihres affirmativen Charakters wie eine Aufhebung
der Kultur als solcher wirken“ (Marcuse 1937b, S. 88+90).
Gerade
in Bezug auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ist
diese Sichtweise Marcuses aktuell. Auch was den Einsatz moderner Medien
im Rahmen gesellschaftlicher Konflikte betrifft, präsentiert sich die Situation
durchwegs ambivalent. Einerseits haben wir es mit einer massenmedial vermittelten
Erzeugung und Simulation von Hyperrealität zu tun, die durch die Zusammensetzung
entkontextualisierter Symbole und Bilder manipulativ neue Bedeutungen generiert,
um öffentliche Meinungen in bestimmter Weise zu lenken. In diesem Zusammenhang
ist die in der Kritischen Theorie von Marcuse, Adorno und Horkheimer formulierte
Kulturindustriethese richtig, die besagt, dass die Kulturindustrie falsches
Bewusstsein, ein eindimensionales Massenbewusstsein (Marcuse 1967) und eine
instrumentelle Vernunft (Horkheimer 1946) erzeugt. Die neuen Technologien
werden genau in diesem Sinn funktional eingesetzt. Andererseits bietet sich
gerade für Protestbewegung die Möglichkeit, die neuen Medien für ihre Selbstorganisation
unterstützend einzusetzen (vgl. Fuchs 2001). Die neuen Technologien widerspiegeln
gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, nichtsdestotrotz ist eine produktive
Aneignung durch Protestbewegungen möglich. Gerade für Protestbewegungen
bietet sich die Möglichkeit realen Protest durch eine virtuelle Protestkultur
und eine technisch unterstützte Optimierung der politischen Selbstorganisationsstruktur
und -weise zu unterstützen.
Die
kapitalistische Kultur ist affirmative Kultur, sie unterliegt einer exklusive
Kontrolle der Norm- und Wertbildung, bei der die Kulturindustrie als manipulierende
Instanz Bedürfnisse und Bewusstsein in bestimmten Formen herstellt. Die
Formierung kultureller Information ist heute weitgehend exklusiv. Allerdings
können gerade moderne Medien oppositionell eingesetzt werden. Dies unterliegt
wiederum Beschränkungen und Asymmetrien, da auch dies vorwiegend Orte des
Kommerz und der Kapitalakkumulation sind. Nichtsdestotrotz können moderne
Medien eingesetzt werden, um kritische und oppositionelle (d.h. den affirmativen
und exklusiven Formen entgegengesetzte) Informationen zu produzieren.
Im Rahmen des komplexen Wechselprozesses zwischen Kultur und Politik wird auch Hegemonie - als ein spezifisches Phänomen herrschaftsförmiger Gesellschaften - geformt.
Unter
Hegemonie verstehen wir mit Bezug auf Antonio Gramsci „the ‘spontaneous’
consent of the masses who must ‘live’ those directives [of the state, Anm.
CF], modifying their own habits, their own will, their own convictions to
conform with those directives and with the objectives which they propose
to achieve“ (Gramsci 1971, S. 266). Bereits Gramsci betonte, dass der Staat
immer bestrebt sei, die Zustimmung der Beherrschten zu dieser Herrschaft
zu gewinnen (S. 244). Dabei spielen Schule und Recht als staatliche Institutionen
eine wesentliche Rolle, aber auch private Institutionen, die wir im Bereich
der Kultur ansiedeln, sind unerläßlich: „The school as a positive educative
function, and the courts as a repressive and negative educative function,
are the most important state activities in this sense: but, in reality,
a multitude of other so-called private initiatives and activities tend to
the same end - initiatives and activities which form the apparatus of the
political and cultural hegemony of the ruling classes. [...] The state does
have and request consent, but it also ‘educates’ this consent, by means
of the political and syndical associations; these, however are private organisms,
left to the private initiative of the ruling class“ (Gramsci 1971, S. 258f).
Hegemonie hat also immer politische und kulturelle Aspekte, sie wird in
herrschaftsförmigen Gesellschaften hergestellt im Rahmen des komplexen Vermittlungsprozesses
zwischen Politik und Kultur.
Wenn
Marcuse die manipulativen Herstellung falschen Bewusstseins und falscher
Bedürfnisse als totalitären Aspekt des bürgerlichen Systems anspricht, durch
den die Menschen ihrer Beherrschung zustimmen, so bezieht er sich genau
auf Aspekte der Hegemonie. Hegemonie als Charakteristikum der kapitalistischen
Gesellschaft deutet wiederum auf den Ausschluss großer Teile der Bevölkerung
von den Prozessen der Bildung von gesellschaftlichen Normen, Werten und
Entscheidungen.
Diese
Diskussion zeigt uns, dass Marcuses Einschätzung der bürgerlichen Gesellschaft
als Schein-Demokratie und totalitäres Systems immer noch zutreffend ist.
Wird dies festgestellt, so stellt sich sofort auch die Frage nach den Alternativen.
Auch hier hat uns Marcuse wesentliche Hinweise gegeben, die für eine emanzipatorische
Fassung des Demokratiebegriffs von grundlegender Bedeutung sind.
Ganz
deutlich wird dies in folgendem Zitat: „Wenn Demokratie Selbstregierung
freier Menschen und Gerechtigkeit für alle bedeutet, dann würde die Verwirklichung
der Demokratie die Abschaffung der bestehenden Pseudo-Demokratie voraussetzen“
(Marcuse 1969, S. 296). Eine andere Gesellschaft solle auf Räten basieren,
diese seien „Organisationen der Selbstbestimmung, Selbstherrschaft (oder
besser der Vorbereitung auf die Selbstherrschaft) in örtlichen Volksversammlungen“
(Marcuse 1972, S. 50). Eine unmittelbare Demokratie bedeute die wirksame,
von unten ausgeübte Kontrolle jeglicher Übertragung von Macht (ebd., S.
51). Eine direkte Demokratie der Mehrheit sei die geeignete Verwaltungsform
für den Aufbau des Sozialismus (S. 58).
Freiheit
müsse sich in allen gesellschaftlichen Bereichen durchsetzen. Ökonomische
Freiheit bedeute die Freiheit von der Ökonomie, ihrer gegenwärtigen Bestimmung
des Menschen durch ökonomische Kräfte und Verhältnisse. „Politische Freiheit
wäre die Befreiung der Individuen von einer Politik, die sie nicht wirksam
kontrollieren können. Ebenso könnte geistige Freiheit die Wiederherstellung
des individuellen Denkens nach seiner Absorbierung durch Massenkommunikation
und Indoktrination bedeuten“ (Marcuse 1961, S. 58).
Eine Selbstverwaltung der Betriebe, Fabriken und Wohnviertel seien innerhalb des Bestehenden zunächst unpolitische Ansätze, die jedoch auch Möglichkeiten zur Verbreitung non-konformistischer Informationen und der Entwicklung von Kernstrukturen einer lokalen Organisation bieten. Durch weitergehende Entwicklung könnte sich ein politischer Charakter entwickeln (Marcuse 1973/74, S. 168).
Während Marcuse an manchen Stellen die Meinung zu vertreten scheint, eine staatliche „Diktatur des Proletariats“ sei in einer Übergangsphase zu einer freien Gesellschaft notwendig (vgl. z.B. 1965c, S. 149f; 1939, S. 146, 1947, These 16), vertritt er an anderen die anarchistische These, ein unmittelbarer Übergang ins Reich der Freiheit sei (vor allem auch wegen der erreichten materiellen Bedingungen) möglich. Die Strategie der Neuen Linken sei ein „Begriff von Sozialismus, der den Bruch – und zwar von Anbeginn – mit dem Kontinuum der Abhängigkeit beinhaltet“ (Marcuse 1972, S. 14, Hervorhebungen hinzugefügt).
Im
Staatssozialismus seien der vorhandene Produktionsapparat und die gesellschaftlichen
Bedürfnisse nicht fundamental verändert worden. Er halte die Grundlagen
der Klassengesellschaft aufrecht. „Die Abschaffung der Klassen, der Übergang
in eine freie Gesellschaft setzt die Veränderung, auf die der Staatssozialismus
hinzielt, voraus“ (Marcuse 1947, S. 137).
Während
These 16 und 19 in Marcuses „33 Thesen“ (1947) für eine „Diktatur über das
Proletariat“, sprechen, stehen die Thesen 18, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 29
im Widerspruch dazu und stützen die anarchistische These. Die Zwei-Phasen-Theorie,
die Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus, bestärke die gefährliche
Auffassung, das der Sozialismus ein gesteigerter Kapitalismus ist. Ein Nachmachen
und Überbieten des Kapitalismus könne nur unter Verzicht auf die Abschaffung
von Herrschaft vor sich gehen. Dadurch werde der Sprung in den Sozialismus
aber quasi sinnlos. Die „erste Phase“ züchte einen Geist der Unterordnung
und Anpassung, die den Übergang zur zweiten Phase unwahrscheinlich werden
lässt.
Marcuses
zeitweise vertretener Anarchismus zeigt sich etwa in folgenden Zitaten ganz
deutlich:
„Die
Konstruktion des Sozialismus hat weniger sein ‚Hervorgehen’ aus dem Kapitalismus
als seine Differenz um Kapitalismus in den Mittelpunkt der Diskussion zu
stellen. Die sozialistische Gesellschaft ist als die bestimmt Negation der
kapitalistischen Welt darzustellen. Weder die Verstaatlichung der Produktionsmittel,
noch ihre bessere Entwicklung, noch der höhere Lebensstandard sind diese
Negation. Wohl aber die Abschaffung der Herrschaft, der Ausbeutung und der
Arbeit. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ihre Verwaltung durch
die ‚unmittelbaren Produzenten’ bleibt die Vorbedingung des Sozialismus.
Sie ist sein erstes Kennzeichen: Wo es fehlt, da ist keine sozialistische
Gesellschaft. [...] Die bürokratisch-staatliche Verwaltung der Produktionsmittel
schafft die Lohnarbeit nicht ab. Das ist erst der Fall, wenn die Produzenten
selbst unmittelbar die Produktion verwalten, d.h. selbst bestimmen, was,
wie viel, und wie lange produziert wird. [...] gerade diese Anarchie und
Desintegration ist wahrscheinlich der einzige Weg, die kapitalistische Reproduktion
im Sozialismus zu brechen, das Interregnum oder sogar das Vakuum zu schaffen,
in dem die Veränderung der Bedürfnisse, die Entstehung der Freiheit sich
vollziehen kann. Die Anarchie würde die Abschaffung der Herrschaft ankünden,
und die Desintegration würde die Macht des Produktionsapparats über die
Menschen beseitigen. Oder wenigstens die größte Chance einer totalen Negation
der Klassengesellschaft bedeuten“ (Marcuse 1947, Thesen 24, 25, 26). Staats-
und Produktionsapparat könnten nicht einfach übernommen werden, da sie ihrer
ganzen Struktur nach Unterdrückungsapparate seien (These 29).
Marcuses
Vorstellung des Sozialismus als Demokratisierung aller Lebensbereiche, die
sowohl Kapitalismus als auch Staatssozialismus negiert, nahm spätere Diskussionen
über eine integrative Demokratie vorweg. Ich möchte diese Diskussion hier
nur kurz an Hand der Demokratiebegriffe von Murray Bookchin und Cornelius
Castoriadis anreißen.
Murray
Bookchin beschreibt die demokratische Selbstverwaltung einer qualitativ
neuen Gesellschaft als Kommunalismus (Bookchin 1990, 1992, 1994): “Democracy
generically defined, then, is the direct management of society in face-to-face
assemblies — in which policy is formulated by the resident citizenry
and administration is executed by mandated and delegated councils.
[…] I wish to propose that the democratic and potentially practicable dimension
of the libertarian goal be expressed as Communalism […] A Communalist
democracy would oblige us to develop a public sphere — and in the Athenian
meaning of the term, a politics — that grows in tension and ultimately
in a decisive conflict with the state. Confederal, antihierarchical and
collectivist, based on the municipal management of the means of life rather
than their control by vested interests (such as workers' control, private
control and, more dangerously, state control), it may justly be regarded
as the processual actualization of the libertarian ideal as a daily
praxis” (Bookchin 1994).
Cornelius
Castoriadis (1955, 1980, 1990, 1993) hat den Begriff der autonomen Gesellschaft
für eine Gesellschaft ohne Herrschaft, Ausbeutung und Hierarchie geprägt.
Obwohl er den Begriff Sozialismus in frühen Arbeiten für die Beschreibung
von “the masses conscious and perpetual self-managerial activity” (Castoriadis
1955) verwendete, vertrat er später die Ansicht, er wolle die Begriffe Sozialismus
und Kommunismus nicht länger verwenden (Castoriadis 1980). Eine autonome
Gesellschaft beinhaltet autonome Individuen – und umgekehrt (Castoriadis
1980). Für Castoriadis geht es um wirkliche soziale Freiheit und ein Maximum
individueller Handlungsmöglichkeiten, die durch die Institutionen der Gesellschaft
garantiert werden. „Eine freie Gesellschaft wäre also dadurch definiert,
dass die Macht wirklich vom Gemeinwesen ausgeübt wird, und zwar von einem
Gemeinwesen, an dem tatsächlich alle in gleicher Weise teilnehmen“ (Castoriadis
1990, S. 335). Gleichheit bedeutet für Castoriadis die gleiche Verteilung
von Macht, also gleiche und egalitäre Möglichkeiten zur Partizipation in
der Gesellschaft, die wir in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft
nicht vorfinden. Castoriadis’ Ziel war die Aufhebung der Heteronomie, das
Ende der Beherrschung der Gesellschaft durch bestimmte Institutionen und
Gruppen und die Emergenz, einer neuen, sich selbst-instituierenden Gesellschaft
(1990, S. 355). Ergebnis sei dann die kollektive Selbstverwaltung aller
Bereiche der Gesellschaft. Für Castoriadis bedeutet Selbstverwaltung und
Selbstorganisation die Selbst-Instituierung der Gesellschaft. Er spricht
von der Selbstorganisation der tradierten Bedingungen der Gesellschaft,
der „Maschinen, Werkzeuge und Arbeitsinstrumente, der auch die Produkte
der Arbeit, die Arbeitsbedingungen wie auch die Lebensbedingungen, d.h.
die Wohnverhältnisse, und die Beziehung zwischen beiden und selbstverständlich
ihre gegenwärtigen und zukünftigen Subjekte, die Menschen, deren gesellschaftliche
Ausbildung und Erziehung im tiefsten Sinne des Wortes – ihre paideia“ zugehören
(Castoriadis 1990, S. 340f). Castoriadis (1993) hebt hervor, dass eine selbstverwaltete
Gesellschaft eine ist, in der alle Entscheidungen durch die soziale Totalität
derer, die von den Entscheidungen betroffen sind, getroffen werden. Dies
sei ein kooperativer Prozess. Castoriadis verdeutlichte also wie Marcuse
nachhaltig, dass Demokratie die Selbstorganisation und –verwaltung aller
Lebensbereiche bedeutet.
Gerade
angesichts des totalitären Charakters des Kapitalismus und seiner Schein-Demokratie
sind solche Alternativen und die Diskussion darüber heute von großer Wichtigkeit.
Marcuses Anmerkungen dazu sollten nicht außer Acht gelassen werden. Ebenso
wie sein Technik- und Kulturbegriff, ist auch Marcuses Demokratiebegriff
dialektisch (Negt 1999). Es geht nicht um die Aufhebung der Demokratie,
Demokratie wird nicht als Vulgärbegriff synonym mit Repräsentation gesetzt,
sondern unmittelbare Selbstverwaltung aller Lebensbereiche wie auch das
Repräsentativsystem gelten Marcuse als zwei Formen der Demokratie – revolutionäre
und bürgerliche Demokratie. Ziel ist die Aufhebung der bürgerlichen Demokratie
und die Schaffung einer wahrhaften Demokratie.
Wie
bereits erwähnt, machte Marcuse eine deutliche Unterscheidung zwischen bürgerlicher
Demokratie und Faschismus. Wenn sich die Alternative zwischen den beiden
Systemen stelle, so sei eindeutig für die bürgerliche Demokratie einzutreten.
Im amerikanischen Exil analysierte Marcuse den deutschen Faschismus. Viele
Aspekte davon haben heute noch Bedeutung.
In
Marcuse (1941b, 1942) wird die neue deutsche Mentalität im Nationalsozialismus
charakterisiert. Sie zeichne sich durch uneingeschränkte Politisierung,
uneingeschränkte Desillusionierung (alles, was nicht durch Fakten belegbar
ist, wird als Täuschung begriffen), zynische Sachlichkeit (die Bevölkerung
bestehe aus brutalen Pragmatikern, die alles, auch den Faschismus, nur unter
dem Gesichtspunkt des eigenen direkten materiellen Vorteils betrachten),
Neuheidentum (Antisemitismus, Terrorismus, Sozialdarwinismus, Antiintellektualismus,
Naturalismus als gegen die christliche Morallehre gerichtete Ausdrücke;
Natur gelte als Quelle aller Impulse, Triebe und Wünsche), Verschiebung
tradierter Tabus (sexuelle, familäre, moralische; Aufhebung sexueller Tabus)
und Bindung zwischen Massen und Regime, indem die Deutschen die Vernichtung
des Hitlerreichs mit der Vernichtung an sich gleichsetzen. Diese neue Mentalität
werde nicht automatisch mit dem Nationalsozialismus verschwinden.
Der
NS postuliere die Zerstörung der Familie, der bürgerlichen Ehe und einen
Angriff auf patriarchale Normen. Er appelliere an eine unterstellte Natur
der Menschen, gegen die Mechanisierung beschwöre er die Seele, gegen patriarchale
Autorität völkischen Zusammenhalt, gegen Intellekt den Körper und gegen
das bürgerliche Heim frische Luft und Natur. Der NS verneine den Unterschied
zwischen Staat und Gesellschaft, Gesellschaft und Individuum, Arbeit und
Freizeit. Alles werde zum Teil einer „Volksgemeinschaft“, in Bezug auf die
alles zu funktionieren habe.
Die
Sprache des Nationalsozialismus vereinfache komplexe Satzstrukturen, umfasse
die Transformation persönlicher Verhältnisse in unpersönliche Dinge und
Ereignisse und die Zentrierung um irrationale Vorstellungen wie Volk, Rasse,
Blut, Boden und Reich. Volk und Rasse werden zu Tatsachen erklärt, die durch
Herkunft und Ort bestimmte Geburt ebenso. Statt von Gesellschaft wird vom
Volk gesprochen, an Stelle von Klassen von Rassen, an Stelle von Eigentumsrechten
von Blut und Boden. Die Mehrheit der Deutschen habe diese Sprache akzeptiert
und sich mit dem Regime identifiziert.
Die
typischen Charakteristika des eindimensionalen Menschen fand Marcuse schon
im deutschen Faschismus als gegeben. Die Menschen würde zwar mit großer
Initiative, Spontaneität und Persönlichkeit arbeiten, ihr Denken, Empfinden
und Handeln werde aber von der technischen Rationalität des Nationalsozialismus
bestimmt. Sprache und Denken des Nationalsozialismus hätten längst im Charakter
der Menschen Wurzeln geschlagen. Der autoritäre Charakter der Menschen im
Nazisystem als Massenbasis des Faschismus sei mit der Transformation der
Industriegesellschaft in die autoritäre Gesellschaft verbunden. Marcuse
(1941b) argumentiert, dass der NS die Menschen ihrer Individualität beraubt
habe und nichts als ihr bestialisches Eigeninteresse übrig lasse. Daher
seien sie für die Vereinheitlichung von oben so anfällig.
Marcuse
selbst wies in den 70ern immer wieder darauf hin, dass die Gefahr des Faschismus
nicht gebannt sei, er befürchtete für die USA den Übergang in ein neofaschistisches
Gesellschaftssystems. Der autoritäre Charakter und der eindimensionale Mensch
als Massenbasis des Faschismus sind wohl nicht nur charakteristisch für
diesen, sondern auch für den Spätkapitalismus in seiner Gesamtheit. Daran
zeigt sich aber auch, dass die Gefahr des Faschismus heute nicht gebannt
ist. Das Ende des Nationalsozialismus hat nicht automatisch das Ende der
damit korrespondierenden Mentalität mit sich gebracht. Ganz im Gegenteil,
diese existiert gerade auch im ehemaligen Kernbereich des deutschen Faschismus
in spezifischen postfaschistischen Formen weiter. Eindimensionaler Mensch
und autoritärer Charakter sind zu funktionalen Elementen des Kapitalismus
geworden, durch die sich dieser ins Bewusstsein der Menschen fortsetzt und
ihnen falsche Bedürfnisse und falsches Bewusstsein introjiziert. Gerade
dieses Weiterbestehen bzw. diese Neuschaffung macht aber die Situation so
gefährlich, ein Übergang in faschistische Systeme ist heute keineswegs ausgeschlossen.
Die
gesellschaftliche Umstrukturierung vom Fordismus zum Postfordismus und die
damit einhergehende neoliberale Politik führen zum weiteren Anstieg der
globalen Probleme und einer immer stärkeren Prekarisierung der Lebensverhältnisse
großer Teile der Weltbevölkerung. Es verwundert nicht, dass die immer noch
bestehende eindimensionale und autoritäre Massenbasis des Faschismus in
dieser Zeit immer häufiger auf fruchtbaren politischen Boden trifft. Resultat
ist ein neuer Boom rechtsextremer und neofaschistischer Parteien. In unseren
Breiten mischt sich dabei der autoritäre und postnationalsozialistische
Charakter mit gesellschaftlicher Restrukturierung.
Werden
Sprache und Denken der neofaschistischen Demagogen und ihrer autoritären
Massenbasis näher analysiert, so zeigen sich noch immer viele jener von
Marcuse erwähnten Charakteristika. So etwa die zynische Sachlichkeit, auch
heute betrachten weite Teile der Bevölkerungen alles unter ihrem unmittelbaren
materiellen Vorteil. Und diesen erhoffen sie sich etwa aus der Unterstützung
rassistischer Ideologien, denn im eindimensionalen Denken bedeutet die Verschlechterung
der materiellen Situation anderer automatisch die Hoffnung auf die Verbesserung
der eigenen kärglichen Existenzweise. Die zynische Sachlichkeit ist Charakteristikum
des autoritären Charakters als Massenbasis des Neofaschismus und bewusst
eingesetzte Propagandastrategie der Demagogen. Die uneingeschränkte Desillusionierung
äußert sich in der absoluten Verobjektivierung der autoritären Ideologien:
Bestimmte vom Rassismus und Neofaschismus in Stellung gebrachte Argumente
werden als absolut rational und unhinterfragbare Tatsachen gesetzt, obwohl
sie tatsächlich irrational sind und auf die gegenwärtig vorwiegend aggressiven
Triebstrukturen, Emotionalität und unterschwellige Ängste abzielen. Wie
schon zur Zeit des deutschen Faschismus findet eine Rationalisierung des
Irrationalen statt, die sich rationalen Gegenargumenten, auch wenn diese
etwa mit faktischem Zahlenmaterial operieren, vollständig verschließt. Natur
wird im Neofaschismus immer häufiger durch Kultur ersetzt, eine Bindung
zwischen neofaschistischen Ideologen und ihrer Massenbasis findet statt;
jedes Argument gegen den Neofaschismus und seine politischen Vollzieher
wird von der Massenbasis als gegen ihre eigene Existenz gerichtet wahrgenommen.
Demagogen operieren noch immer mit dem Appell an das Volk, das tatsächlich
nichts als künstliche Konstruktion darstellt. Die Massenbasis erkennt sich
selbst in der Ideologie und ihren Demagogen, sie setzt sich selbst mit ihnen
identisch und wird als identisch mit den politischen Demagogen und Parteien
des Neofaschismus (durch letztere) gesetzt.
Die
eindimensionale Sprache des Nationalsozialismus wurde im Nachkriegskapitalismus
durch den Aufstieg der Massenmedien verallgemeinert. Boulevard und Journaille
bedienen sich der Personalisierung des Dinglichen und der Verdinglichung
des Sozialen, sie vereinfachen komplexe Tatbestände und kultivieren eine
undialektische, primitive Sprache, die die zynische Sachlichkeit der Massen
unmittelbar anspricht. Eben jene vorherrschende Sprache der Massenmedien
ist auch Sprache des Neofaschismus und seiner autoritären Massenbasis.
Marcuses
Warnungen vor einem neuen Faschismus und seine Charakterisierung der faschistischen
Mentalität sind heute noch immer von aktueller Bedeutung. Die Gefahr des
Faschismus ist nicht gebannt, noch immer können Situationen eintreten, in
denen sich die Alternative zwischen Verteidigung (der immer autoritärer
werdenden) bürgerlichen Demokratie und Faschismus stellt. Noch immer ist
die Position Marcuses dazu die einzig sinnvolle.
4. Kultur
Ich habe bereits erwähnt, dass Marcuse (1937b) die Kultur des Kapitalismus
als affirmative Kultur bezeichnet. Die Kultur sei heute herrschaftsförmig
und manipulierend, daher affirmative Kultur. Dazu trage vor allem auch die
kulturindustrielle Vermassung bei. Menschen würden sich glücklich fühlen,
obwohl sie es nicht sind. Manifestationen der Kultur könnten nun aber auch
antizipativ wirken, die Phantasie anregen und damit einen Vorgriff auf eine
bessere, freie Welt geben. Einerseits würden kulturelle Manifestationen
die bestehende Ordnung stabilisieren, andererseits könnten sie aber auch
das Bild einer besseren Ordnung vermitteln und zu kritischem Bewusstsein
anregen. Phantasie bedeute „Freiheit in einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen
über das Vorhandene kann sie die Zukunft vorwegnehmen“ (Marcuse 1937a, S.
122). Es geht nie um die „Aufhebung der Kultur“, sondern um die Aufhebung
ihres affirmativen Charakters. Kultur ist grundsätzliches Element jeder
Gesellschaftsformation, unerlässlicher Bestandteil, sowohl als Totalität
der Lebensformen und –weisen, als auch als symbolische Manifestationen dessen.
Die "höhere Kultur", so Marcuse, enthalte oppositionelle Elemente. Sie sei "die große Weigerung - der Protest gegen das, was ist" (Marcuse 1967, S. 83). Die gegenwärtige Gesellschaft versuche diese Elemente zu beseitigen. Die Massenkommunikationsmittel würden die Transformation der Kultur zur Ware beschleunigen. Was zähle, sei die Verkaufstüchtigkeit und der Tauschwert. Die Popularisierung der hohen Kultur setze deren Möglichkeit zur Opposition durch die Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes außer Kraft.
Marcuse
hat prinzipiell nichts gegen die massenhafte Verbreitung von Kultur über
Kanäle wie Fernsehen, Kino oder Radio einzuwenden, er betont jedoch, dass
diese "Kulturmaschine" eine ideologische Funktion im Kapitalismus erfülle:
"Es ist gut, dass heute fast jeder die schönen Künste in den Fingerspitzen
haben kann, indem er einfach an einem Knopf seines Radios dreht oder ins
nächste Kaufhaus geht. Bei dieser Verbreitung werden sie jedoch zu Zahnrädern
einer Kulturmaschine, die ihren Inhalt ummodelt" (Marcuse 1967, S. 85).
Unter
Kultur versteht Marcuse „das jeweilige Ganze des gesellschaftlichen Lebens,
sofern darin sowohl die Gebiete der ideellen Reproduktion (Kultur im engeren
Sinne, die ‚geistige Welt’) als auch der materiellen Reproduktion (der ‚Zivilisation’)
eine historisch abhebbare und begreifbare Einheit bilden (Marcuse 1937b,
S. 62). Marcuse (1965a) betont, dass dabei den spezifischen Glaubensanschauungen,
Errungenschaften, Traditionen usw. Bedeutung zukommt. Kultur erscheine so
„als der Komplex moralischer, intellektueller und ästhetischer Ziele (Werte),
die eine Gesellschaft als den Zweck der Organisation, Teilung und Leitung
ihrer Arbeit betrachtet“ (ebd., S. 115).
Marcuse
unterscheidet nun zwischen Zivilisation und Kultur im engeren Sinn. Erste
bedeute das Reich der Notwendigkeit, des gesellschaftlich notwendigen Arbeitens
und Verhaltens, worin der Mensch nicht wirklich sich selbst sein kann. Kultur
beziehe sich immer auf eine höhere Dimension der menschlichen Erfüllung
und Autonomie, sie wolle den Kampf ums Dasein befrieden. Zivilisation zeichne
sich durch materielle Arbeit, Arbeitstag, Arbeit, Reich der Notwendigkeit,
Natur und operationelles Denken aus; Kultur im Antagonismus dazu durch geistige
Arbeit, Feiertag, Muße, Reich der Freiheit, Geist und nichtoperationelles
Denken.
In
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft werde die Kultur der Arbeit
einverleibt. „Mit dieser Integration der Kultur in die Gesellschaft tendiert
die Gesellschaft dazu, selbst dort totalitär zu werden, wo sie demokratische
Formen und Institutionen bewahrt“ (Marcuse 1965a, S. 117). Die Kultur habe
traditionellerweise transzendente Ziele gehabt, die das Reich der Freiheit
antizipieren. Die technologische Zivilisation tendiere dazu, diese Ziele
der Kultur zu beseitigen. Es komme zur Assimilation von Arbeit und Entspannung,
Versagen und Vergnügen, Kunst und Haushalt, Psychologie und Betriebsführung.
Die Kultur werde affirmativ. Ein lebenswichtiger Raum für die Entwicklung
von Autonomie und Opposition werde abgeriegelt.
Für
Marcuses Auseinandersetzung mit Kultur sind besonders auch die späten Schriften
„Konterrevolution und Revolte“ (1972) und „Die Permanenz der Kunst“ (1977)
von Bedeutung. Kunst zeichne sich durch ihre ästhetische Form aus, damit
sind die Gesamtheit der Qualitäten (wie Bedeutung, Rhythmus und Kontrast)
gemeint, die ein Werk zu einem in sich geschlossenen Ganzen machen. Diese
ästhetische Form führe zur Trennung der Kunst von der Wirklichkeit und zu
einer Distanz zwischen beiden. Das ästhetische Universum widerspreche der
Wirklichkeit. Kunst sei prinzipiell Teil der geistigen Kultur, daher der
Zivilisation entgegengesetzt. Kunst erschließe eine „andere Dimension der
bestehenden Wirklichkeit: die der möglichen Befreiung“ (Marcuse 1972, S.
88f). Marcuse meint, „dass die radikalen Qualitäten der Kunst, besonders
der Literatur, nämlich die Anklage gegen das Bestehende und der ‚schöne
Schein’ der Befreiung, dort begründet sind, wo die Kunst ihre gesellschaftliche
Bedingtheit übersteigt, sich von der gegebenen Realität löst“ (Marcuse 1977,
S. 201). Kunst sei in ihrer ästhetischen Form autonom gegenüber der materiellen
Arbeit, sie ist vom materiellen Produktionsprozess getrennt und abgehoben.
Natürlich habe die Kunst Warencharakter, aber dies ändere nichts an ihrer
Substanz, der Wahrheit. Schönheit in der Kunst negiere die Warenwelt. Es
falle ihm schwer, so Marcuse, einen spezifischen Klassencharakter der Kunst
aus ihrer Warenform abzuleiten. Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft
sei natürlich elitär, nur einer bevorrechteten Minderheit zugänglich, dies
bedeute zwar einen Klassencharakter, sei aber auch konstitutiv für die notwendige
Distanz der Kunst von der Realität in der bürgerlichen Gesellschaft. In
einer freien Gesellschaft sei Kunst wohl nicht mehr elitär, aber sicherlich
weiter distanziert vom wirklichen Leben.
Marcuse
lehnt eine Unterscheidung zwischen „bürgerlicher“ und „proletarischer“ Kultur
und Kunst ab. Die kritischen, negierenden, transzendierenden Qualitäten
der Kunst seien in ihrer ästhetischen Form verkörpert, nicht in ihren Inhalten.
Wo das Proletariat nicht revolutionär sei, könne es auch keine revolutionär-proletarische
Kunst geben. Sei das Proletariat nicht mehr Negation der bestehenden Gesellschaft,
sondern in sie integriert, so stelle dies ein Problem für diverse Theorien
einer marxistischen Kunst dar, die von der proletarischen Kunst sprechen
und nach proletarischen Inhalten der Kunst als deren revolutionäre Dimension
suchen. Kunst sei immer von der revolutionären Praxis distanziert, sie könne
nicht die Revolution darstellen. Kunst und Revolution seien einzig durch
ihr Eintreten für Befreiung vereint. Kunst könne nicht Teil der revolutionären
Praxis werden, dadurch müsste sie konkret und auf das reale Leben bezogen
agieren. Damit würde aber die ästhetische Form zerstört, dies wäre das Ende
der Kunst. Literatur etwa, werde nicht dadurch revolutionär, dass „sie für
die Arbeiterklasse oder für ‚die Revolution’ geschrieben wird. Wenn man
überhaupt sinnvoll von revolutionärer Kunst sprechen kann, dann nur im Hinblick
auf das Kunstwerk selbst, als Form gewordener Inhalt“ (Marcuse 1977, S.
197). Wenn Kunst die Erfahrung erschüttere, die Erfahrung einer anderen
Wirklichkeit vermittle, so sei eine subversive Qualität der Kunst gegeben.
Rock-Musik,
Guerilla-Theater oder Dichtungen der Free Press seien durch ihre Lebensechtheit
nicht Anti-Kunst, sondern eindimensionaler Teil der etablierten Ordnung,
da hier die Distanz der Kunst vom wirklichen Leben zerstört werde (Marcuse
1972, S. 101). In der Rockmusik werde Musik zur kollektiven Veranstaltung,
sie vermasse. „Und die immer gleichen Gebärden, das Drehen und Schütteln
der Körper, die einander selten (wenn überhaupt) einmal wirklich berühren
– das alles erscheint wie ein Auf-der-Stelle-Treten, das Zusammenkommen
einer Masse, die sich bald wieder zerstreut. Diese Musik ist im wörtlichen
Sinn Imitation, Mimesis wirklicher Aggression“ (Marcuse 1972, S. 112f).
Andererseits
zeigt sich Marcuse aber auch beeindruckt vom Folk-Rock Bob Dylans. Dabei
sei allerdings entscheidend, dass die politische Dimension der ästhetischen
Dimension verpflichtet bliebe (1972, S. 114f). Kunst und Revolution verbinde
sich in der ästhetischen Dimension. Kunst antworte auf den totalen Charakter
der Repression und Entfremdung mit Entfremdung (als Beispiele nennt Marcuse
die Musik von John Cage, Karl Heinz Stockhausen und Pierre Boulez).
In
den Cultural Studies und den sich daran anschließenden Diskursen und Diskussionen
wurde viel über die Möglichkeit der Subversion in der und durch die Musik
gesagt. Ich gehe nicht grundsätzlich davon aus, dass Musik dadurch, dass
sie populär wird, automatisch eindimensional, vermassend und verdummend
wirkt. Vielmehr ist der Grad der Eindimensionalität relativ autonom vom
Verbreitungsgrad der Musik. Würde diese Annahme doch gelten, so bedeutete
dies, dass die in den 80ern in diversen Subkulturen entstandene Musik, die
oft auch als Independent Music bezeichnet wird, automatisch subversiven
Charakter gehabt hätte. Durch die starke Kommerzialisierung dieses Genres
in den 90ern, so müsste man annehmen, hätte sich dann das vollständige Ende
einer Subversivität der „alternativen Rockmusik“ gezeigt. Solchen Annahmen
möchte ich wegen ihrer Undifferenziertheit nicht Folge leisten.
Diverse
Vulgärargumentationen besagen, dass Rock- und Popmusik (beides ist nicht
zu trennen, war es wohl auch niemals) auf Grund ihren Warenform niemals
befreiend wirken können. Natürlich ist jede Form der Musik heute Ware, aber
wie Marcuse bin ich der Meinung, dass aus dem Warencharakter nicht automatisch
auf einen affirmativen oder befreienden Charakter geschlossen werden kann.
Wesentlich ist die Substanz, das tieferliegende Element von kulturellen
und künstlerischen Manifestationen, die direkt auf die menschliche Erfahrung
abzielen. Pop und Rock sind auf Grund ihrer Massentauglichkeit weder automatisch
affirmativ, noch automatisch befreiend. Sie sind nicht weniger elitär als
andere Formen der Kunst, denn immer beschränken sich ihre Rezipienten automatisch
auf bestimmte Gruppen, Kulturen und Lebensstile. Pop ist nicht demokratisch,
denn Kultur als Ganzes ist nur Teil einer unfreien, undemokratischen Welt.
Nichtsdestotrotz kann Kultur als Einbildungskraft über die bestehende unfreie
Totalität hinausgehen.
Ich
finde Marcuses Position, dass die Form der Rockmusik prinzipiell Schönheit
ausschließe, damit der befreienden Wirkung der Einbildungskraft entgegengesetzt
sei und dass sie die durch den Kapitalismus geförderten Aggressionstriebe
verstärke, aus meiner heutigen, eigenen ästhetischen Erlebniswelt heraus,
eher amüsant. Persönlich denke ich, dass weder Form, noch Inhalt kultureller
Manifestationen automatisch affirmativen oder befreienden Charakter haben.
Ich würde die befreiende Dimension auch nicht ausschließlich an der ästhetischen
Form festmachen.
In
diversen jugendkulturellen und linken Subkulturen wird heute nach einem
spezifischen revolutionären Inhalt von Kultur, dabei wieder insbesondere
der Musik gesucht. Nun macht aber die Thematisierung von Aspekten linker
Sichtweisen der Gesellschaft in musikalischen Inhalten, diese musikalischen
Manifestationen noch nicht automatisch zu Formen befreiender Kultur. Umgekehrt
bedeutet das Fehlen derartiger Inhalte nicht automatisch die bestehende
Gesellschaft affirmierende kulturelle Manifestationen. Weite Teile der Punk-
und Hardcore-Musik thematisieren inhaltlich klassisch linke Themen – Antifaschismus,
Antirassismus, Antisexismus, Antikapitalismus. Gleichzeitig reproduzieren
sie vielfach sowohl in Form, als auch in Inhalt das bestehende eindimensionale
Universum der Sprache und des Bewusstseins. Damit meine ich die Simplizität
der Songstrukturen, die mangelnde Abstraktheit, die permanente Wiederholung
von einfachen musikalischen Grundgerüsten, die inhaltliche und sprachliche
Reduktion komplexer Verhältnisse auf Parolen und einfache Formeln. Damit
werden musikalische Form und Inhalt identisch mit der Realität, die
Nicht-Identität befreiender kultureller Manifestationen ist nicht mehr gegeben,
der Inhalt wird identisch mit ideologischer Propaganda, wie sie in Boulevard
und Politik zu finden ist, die Form identisch mit der Abstraktionslosigkeit
der einförmigen, maschinellen Tätigkeiten in der Produktion.
Ein
Beispiel, das dazu im Gegensatz steht, ist die Musik der Goldenen Zitronen.
Sowohl Form, als auch Inhalt nehmen hier wesentlich komplexere und gebrochenere
Stile an, der Inhalt abstrahiert in seiner scheinbaren Absurdität und Abgehobenheit
gegenüber der Alltagssprache von der realen Welt, nimmt aber genau dadurch
wiederum kritisch darauf Bezug. Eindimensionale Sprachfetzen werden aus
ihrem Kontext gelöst, neu zusammengesetzt, in andere Kontexte transformiert.
So findet einerseits inhaltliche Transzendenz, und gleichzeitig doch Bezugnahme
auf die schlechte und falsche Realität statt. Die Form ist wesentlich abstrakt,
wirkt teilweise improvisiert. Sie ist nicht klassisch schön, aber dies sehe
ich auch nicht als Vorbedingung für einen befreienden Charakter der Musik.
Andersrum ist aber auch nicht eine Atonalität der Musik automatisch befreiend.
Die heutige Musik der Goldenen Zitronen ist nicht einfach konsumierbar,
es bedarf Anstrengung und Konzentration auf Form und Inhalt. Eben dadurch
kann sie aber auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit Form und Inhalt
antizipativ wirken, die Einbildungskraft und das geistige Hinausgehen aus
dem Reich der Notwendigkeit anregen.
Nicht
jede Form, nicht jeder Inhalt kultureller Manifestationen wirkt transzendierend,
beides bietet aber Möglichkeiten dazu. Die heute in der Populärkultur vorherrschenden
Formen von Disco- und Techno-Musik sind wesentlich Teil des eindimensionalen
Universums. Nicht automatisch dadurch, dass sie Waren sind, wie jede kulturelle
Manifestation, oder durch die Tatsache, dass sie massenhaft konsumiert werden.
Sondern durch die Eindimensionalität ihrer Form und ihres Inhalts. Der Inhalt,
falls er sprachlich gegeben ist, imitiert meist die reale Welt und ihre
Sprache. Die Form zeichnet sich durch eben jene Monotonie und Wiederholung
gleicher Abläufe aus, durch die sich das Leben im Kapitalismus und die darin
stattfindende Arbeit auszeichnet. Repetitive, hypnotische Monotonie der
Musik widerspiegelt jene des gesellschaftlichen Seins und Bewusstseins.
Solche Manifestationen der Kultur verwandeln in der Tat, wie Marcuse meinte,
Kultur in Zivilisation, sie sind affirmative Formen der Kultur, die jede
transzendierende Einbildungskraft außer Kraft setzen.
Ganz
im Gegensatz dazu stehend, diverse Formen der modernen elektronischen Musik
und des sogenannten Post-Rocks, die bestrebt sind, ihre Komplexität auszuweiten.
Die elektronischen und meist rein instrumentalen Soundlandschaften von Mouse
on Mars erfordern Aufmerksamkeit, unzählige zeitweise harmonierende, zeitweise
völlig in Gegensatz zueinander stehender Schichten der Hörerfahrung finden
sich parallel. Es gibt keine eindeutige Hörwahrnehmung beim Rezipienten,
jeder erneute Durchlauf dieser Musik kann unterschiedliche Resultate generieren.
Die Vertiefung in diese Musik ermöglicht das Eintauchen in Erlebnisformen,
die die Phantasie anregen können. Genau hier zeigt sich Freiheit in einer
Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandene wird die Zukunft
vorweggenommen. Mouse on Mars u.a. sagen und bewirken ohne Worte wesentlich
mehr als jede phrasenhafte und eindimensionale Musik im Universum der falschen
Sprache.
Post-Rock
wie in seinen diversen Formen bei Labradford, Godspeed You Black Emperor!
oder Tortoise setzt wesentlich auf gebrochene Formen, die Überraschung in
der Musik, das Unerwartete, das Schwanken zwischen Intensivierung und beinahem
Verschwinden, das Spiel mit Laut und Leise und die Komplexität der Formen.
Die Form erfordert wiederum Konzentration, sie geht über die eindimensionale
Reproduktion der ewig gleichen Klänge hinaus, bietet Anknüpfungspunkte für
die Steigerung der individuellen Einbildungskraft. Der Inhalt im Sinn des
sprachlichen Kontexts verschwindet vielfach vollständig. Diese Musik negiert
die eindimensionale Spra, indem ihre Form das Wort des öfteren phasenweise
radikal ausschließt. Alles scheint gesagt im postfordistischen Kapitalismus,
das sprachliche Schweigen bringt die Verachtung der schlechten und falschen
Wirklichkeit zum Ausdruck.
In
vielen Fällen bedeutet Post-Rock Phasen der Langsamkeit, nahezu Stillstand
und Verschwinden. Auch damit erfolgt die Negation der gesellschaftlichen
Realität in der Form. Globale Informations- und Kapitalflüsse konfrontieren
die Menschen heute mit einer Geschwindigkeit, die ihre individuelle Lebensenergie
aussaugt. Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, rascher Wandel, Modernität
sind gefragt – und zwar permanent. Freizeit und Arbeit werden identisch,
Kultur wird zur vollständigen Zivilisation, Freizeit zur Einpassung, Erholung
zum Dauersport. Post Rock ist vielfach zumindest phasensweise Slow Music,
sie setzt einen Kontrapunkt zum permanenten Drang nach Geschwindigkeit,
der die Menschen immer vollständiger unter das Kapital subsummiert.
Musikalische Inhalte sind in der eindimensionalen Gesellschaft anfällig für regressive, reaktionäre oder antiemanzipatorische Elemente. Schlager und Nazi-Rock sind nur zwei Beispiele dafür. Diese Tatsache bedeutet aber nicht, dass Musik an sich affirmativ oder regressiv ist, vielmehr ist es logisch, dass die falsche kapitalistische Totalität auch falsche Musik produziert. Nichtsdestotrotz besteht die Möglichkeit, dass Form und Inhalt der Musik einen befreienden Charakter erlangen können, obwohl sie gleichzeitig als Teil der Totalität der affirmativen Kultur auch Element der Unterbindung gesellschaftlichen Wandels durch reine Flucht und ihr Dasein als Regenerationsmedium des Arbeisvermögens darstellen. Ein Beispiel möchte ich geben für musikalische Inhalte, die befreiende Aspekte der Einbildungskraft anregen können. Die Inhalte der Songs der Band Blumfeld sind lyrisch strukturiert und beziehen sich immer wieder auf linke politische Inhalte. Letztes Element macht diese Musik aber nicht automatisch befreiend. Was mir wesentlich bedeutender erscheint, ist, dass hier eine dialektische Sprache verwendet wird, die das eindimensionale Universum des Denkens und des Sprechens transzendiert. Blumfelds Musik fordert Auseinandersetzung, Phantasie und eigene Interpretation. Diese Musik macht Sinn und regt die Einbildungskraft durch die Auseinandersetzung mit Inhalt und verwendeter Sprache an. Die Reklame bedient sich der Technik der Belegung von Waren mit Bedeutungen und Images, um die Güter zu verkaufen. Gefragt ist also in der bestehenden Gesellschaft nicht kritisches Denken der potentiellen KonsumentInnen, sondern die stupide, reflexartige Reaktion der Objekte der Reklame. Die Werbung bedient sich einer manipulierenden Sprache, sie schafft neue Wortkreationen, die Waren lobpreisen, eben um jene an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Die Sprache des Volkes ist heute wesentlich eindimensional. Eine dialektische Sprache als negierende Sprache, wie sie Marcuse fordert, scheint nun genau in der musikalischen Lyrik Blumfelds gegeben. Die verwendeten Sätze negieren die vorherrschenden Sätze, Inhalte benennen gesellschaftliche und auf das Leben in den Verhältnissen existentiell bezogene Antagonismen. Hier wird Musik zwar durchwegs konkret bezogen auf das reale Leben, sie bewahrt sich in ihrer Dialektik aber doch die von Marcuse für befreiende Kunst konstitutiv gesehene negierende Distanz. Widersprüche in der eigenen Existenz, Widersprüche im Leben in der Gesellschaft und im Staat, die Antagonismen der Liebe usw. Die Einbildungskraft, die eine qualitativ andere Gesellschaft antizipieren kann, lässt sich durch Auseinandersetzung mit Form und Inhalt spüren. Ein einzelnes Beispiel für diese Dialektiken möchte ich hier konkret anführen, ohne dass die ästhetische Dimension derart vollständig vermittelbar ist.
Blumfeld – Eine eigene Geschichte (1994)
Es
hat uns niemand gefragt
wir hatten noch kein Gesicht
ob wir leben wollten oder nicht
hin und her und hin und her gerissen
zwischen verstehen wollen handeln müssen
keine Liebe keine Arbeit kein Leben
an meinem Kissen schlag ich mir den Kopf auf
und wenn der Tag kommt bleibt es kleben
und der Staat ist kein Traum
sondern bleibt wie mein Kissen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
der sich durch mich und mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer
Eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr
Und in den Straßen liegt der Staat und sagt:
was regst Du Dich und Deinen Magen künstlich auf
wärst du doch bloß im Bett geblieben
Au nee, weil ich so oberflächlich bin
kehrt sich mein Inneres nach außen
steht mir bis hierhin und ins Gesicht geschrieben
Macht verrückt was euch verrückt macht
mit Kissen vor der Stirn und in mir drin ein Vakuum
geh ich durch Straßen voller Menschen dieser Stadt
und frage mich wo ich gern wäre
wo fang ich an? Gähnende Leere
wenn ich schon immer Nichts mit was drummrum gewesen war
dann mach ich mir 'n Schlitz ins Kleid
und find es wunderbar
Eine eigene Geschichte aus reines Gegenwart
sammelt und stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr
Also nichts wie raus aus Hamburg
first we take Manhattan und dann ab nach Berlin
da, wo die Leute aus Heimweh hinzieh'n
Wat will isch in Italien, isch will doch Genitalien
Berlin Wall, gegen Holo, Holo und Holidays denk ich
und zieh mir später noch was rein dann die Bars
schlafen kann ich schließlich wenn ich tot bin
auf halber Strecke bleib ich liegen
und träum davon mit allem eins zu sein
den Traum vom Staat
der sich selbst reicht, der nichts beweist
zusammenwächst wie's sich gehört
und verbreitet seinen Glauben
Gedanken aus Stein
aus Licht eine Mauer
Eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr
Am nächsten Morgen bleibt das Kissen an mir kleben
hab mir den Traum zur Wunde aus dem Kopf geschlagen
und mir fallen Deine und dann meine Körperteile wieder ein
und Deine Haut und ich denk dran wo ich gern wäre
hab aus der Wäsche rausgeschaut
entlang der Schichten deren Dichte ich verwünsche
wie mein Körper ein Gesellschaftsbau von vielen
der großen Nenner unter ihnen:
ich heiße Einheitsarchitekt
Du kannst auch Blödmann zu mir sagen
Stimmt, wenn alles in einander passt
hat es bald nichts mehr zu bedeuten
Und eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch dir Gegend fahr
Und der Staat ist kein Traum
ist sogar in meinen Küssen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
eher Raum als Position
und so organisiert er sein Verschwinden
indem es sich durch mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer
Abschließend
zur Kultur: Problematisch ist niemals die Beschäftigung mit Kunst und Kultur,
die Suche nach Befreiung und Politik in solchen Manifestationen. Kultur
umfasst die Gesamtheit der Lebensformen und –weisen einer Gesellschaft.
Kultur ist häufig Widerspiegelung konkreter materieller Verhältnisse, entfaltet
aber eigene Dimensionen, die nicht auf die Ökonomie zurückgeführt werden
können. Daher kann die Auseinandersetzung mit Kultur Aufschluss über die
Verhältnisse einer Gesellschaft geben. Die Politisierung der Kunst, die
Kunst der emanzipatorischen Politik – beides ist notwendig. Problematisch
sehe ich nur die Reduktion politischer Praxis auf eine kulturelle Ebene.
Denn, wie Marcuse erkannte, ist die nicht-affirmative Kultur wesentlich
von politischer Praxis entfremdet, sie kann Bilder der Befreiung zwar präsentieren,
antizipativ über das Reich der Notwendigkeit hinausgehen und die Phantasie
anregen, emanzipatorische Bedürfnisse und emanzipatorisches Bewusstsein
kann sich in der Kunst wiedererkennen. Für all dies sind diverse Manifestationen
der Kultur gut und notwendig – sie sind aber keine Formen der politischen
Praxis. Emanzipation findet als gesellschaftlicher Prozess im realen Leben
statt, Befreiung ist vor allem wesentlich praktisch, also ein sozialer Selbstorganisationsprozess.
Ein postmodernistischer Kulturalismus, der soziale Befreiung in die dingliche
Warendimension der Kultur und den Konsum dieser Güter einschreibt, greift
zu kurz, wird affirmierende Strategie. „Kunst kann die Welt nicht verändern,
aber sie kann dazu beitragen, das Bewusstsein und die Triebe der Menschen
zu verändern, die die Welt verändern können“ (Marcuse 1977, S. 217).
5.
Beschluss
Radikaler gesellschaftlicher Wandel wäre gerade heute wieder notwendig
und auf Basis der bestehenden materiellen Bedingungen als unmittelbarer
Sprung ins Reich der Freiheit möglich. Der umfassende Totalitarismus der
kapitalistischen Gesellschaft erreicht gleichzeitig neue Dimensionen, die
potentiell revolutionären Subjekte wollen nichts von Befreiung hören oder
haben längst jede Hoffnung auf Befreiung aufgegeben. Die Verbürgerlichung
der potentiell revolutionären Subjekte kann eben diesen Wandel, der auf
Grund der ansteigenden globalen Probleme immer dringlicher wird, auf unabsehbare
Zeit aufschieben.
Gerade
in dieser Situation sind kritische Theorie, das Werk Herbert Marcuses und
die Inbeziehungsetzung dessen auf die aktuelle historische Situation von
äußerster Bedeutung. Marcuses dialektische Begriffe von Technik, Kultur
und Demokratie betonen immer auch die befreienden Aspekte dieser Kategorien.
Es geht darum, die affirmativen Aspekte abzustoßen, befreiende Technik,
befreiende Kultur und selbstorganisierte Demokratie im Rahmen einer anderen
Gesellschaft herzustellen. Es geht um eine andere Gesellschaft, die eine
andere Technik, eine andere Kultur, eine andere Demokratie und eine andere
Ökonomie beinhaltet. Also um die umfassende Transformation der Lebensbedingungen.
Dazu bedarf es sich aktiv selbst organisierender Subjekte, die ihr Bewusstsein
und das sich daran anschließende Handeln außerhalb der bestehenden Totalität
stellen. Dies ist heute nicht unmöglich. Es ist weder allzu großer Optimismus,
noch uneingeschränkter Pessimismus angebracht. Entscheidend ist die intervenierende
Selbstorganisation als Form der großen Weigerung. Dazu kann die erneute
oder erstmalige Lektüre des Werks Marcuses und sich daran anschließende
praktische Konsequenzen wesentliche Beiträge leisten.
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Cornelius
Castoriadis, Socialism and Autonomous Society (first published 1980),
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Politik, Ökonomie und Kultur. Beitrag beim Jubiläumskongreß der Österreichischen
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[1] Oder anderswo: Technik sei „das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit“ (Marx 1867, S. 430)
[2] „Wir haben ferner gezeigt, dass das Privateigentum nur aufgehoben
werden kann unter der Bedingung einer allseitigen Entwicklung der Individuen,
weil eben der vorgefundene Verkehr und die vorgefundenen Produktivkräfte
allseitig sind und nur von allseitig sich entwickelnden Individuen angeeignet,
d.h. zur freien Betätigung ihres Lebens gemacht werden können” (Marx/Engels
1845/46, S. 424).
[3] Hier bezieht sich Marcuse auf jene
berühmte Stelle aus dem 3. Band des Kapitals, in der Marx meint, dass die
Freiheit erst dort beginne, wo die Lohnarbeit ein Ende finde: „Das Reich
der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not
und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“ (Marx 1894, S. 828).
[4] Zur Unterscheidung von Kernarbeitenden
und peripheren Arbeitenden siehe Atkinson (1984, S. 14ff) und Atkinson/Gregory
(1986, S. 14).
[5] Es zeigt sich heute im Kapitalismus
nicht nur eine Massenarbeitslosigkeit, sondern auch eine Prekärisierung
der Lebensverhältnisse immer größerer Teile der Weltbevölkerung. Dies
betrifft heute nicht nur die “Dritte Welt” (was schlimm genug wäre), sondern
es bilden sich auch immer mehr periphere Räume in den Metropolen des kapitalistischen
Weltsystems aus. Die neokonservative Deregulierung führt nicht nur zur
Ausbildung “neuer Arbeitsverhältnisse”, sondern auch zur Verschlechterung
der sozialen Situation der sich darin findenden doppelt “freien” Lohnarbeitenden.
Es kann gesagt werden, dass periphere Arbeitsverhältnisse heute verstärkt
einen prekären Charakter annehmen (Möller 1990). Das Neue dieser Arbeitsverhältnisse
ist das ewig Alte: Die relative Schlechterstellung der Lohnarbeitenden
zu Gunsten des Kapitals.