Wolfgang Hofkirchner

Homo creator in einem schöpferischen Universum

Zur Bestimmung von "Natur" und "Gesellschaft" als korrelative Kategorien auf der Grundlage des Paradigmas der Selbstorganisation unter besonderer Berücksichtigung ihrer politischen Implikationen

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INHALT:

1. Der Naturbegriff und seine Relation zum Gesellschaftsbegriff

1.1. Unechte Korrelationen

1.1.1. Duale Sicht
1.1.2. Reduktion/Projektion

1.2. Echte Korrelation: Emergentismus

2. Jenseits von Fortschritt und Rückschritt

Exkurs: Bacons „Umarmung“ der Natur

Literatur

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet die Auffassung, daß die Kontroverse um den Naturbegriff Moment eines umfassenderen Streits zwischen wissenschafts- und technikoptimistischen und -pessimistischen Meinungen, zwischen Fortschrittsgläubigkeit und -feindlichkeit, ist, und daß dieser, ungleich früheren derartigen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Ideen, an Tiefe gewonnen hat, nachdem historisch nacheinander unter dem Eindruck der Atombombe, industriell-agrikultureller Verwüstungen und von Hunger, Elend und Tod in den armen Teilen der Welt das Bewußtsein von der Zerstörungskraft und Störanfälligkeit der menschlichen Technosphäre, von der Empfindlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Ökosphäre und von der Unbeständigkeit und Unausgewogenheit der menschlichen Soziosphäre gewachsen ist. Die Existenz dieser globalen Probleme gefährdet die materielle Reproduktion der heute bestehenden Gesellschaften und verleiht dem akademischen Diskurs praktische Brisanz. Denn wenn die Probleme im Bereich der Nutzung der technischen, der natürlichen und der humanen Ressourcen einen anthropogenen Ursprung haben, sind Anstrengungen nicht von vornherein sinnlos und auch von der Wissenschaft Beiträge zu Problemlösungen oder zumindest zu Strategien für den Umgang mit den Problemen fordert. D.h., es ist zu einem wichtigen Kriterium der Bewertung wissenschaftlicher Einsichten geworden, inwieweit sie die Begründung gesellschaftspolitischer Handlungsoptionen fördern oder hemmen, die sich auf die Bewältigung dieser Herausforderungen richten. Dementsprechend lassen sich auch die Naturbegriffe danach bewerten, ob unter ihrer Voraussetzung eine zielführende ökologische Politik implementiert werden kann oder nicht.

Mehr noch. Ob das Fundament für eine realistische und erfolgversprechende Naturpolitik gelegt werden kann oder nicht, ist an den Naturbegriffen selber abzulesen. Weil die Herausforderungen an die Steuerung der gesellschaftlichen Systeme ihrem Wesen nach komplex und universell sind, verlangen sie bei ihrer Erfassung eine komplexe und universelle Herangehensweise. Dem einheitlichen Begreifen, das so viele der mannigfaltigen Bezüge in die Betrachtung mit einbezieht, wie nötig sind, um die Schritte ergreifen zu können, die die erwünschten Ziele realisieren, ohne daß diese von unerwünschten Nah- oder Fernwirkungen oder Früh- oder Spätfolgen konterkariert werden, steht zwar vielerorts noch die Zersplitterung in einander fremde und füreinander taube Einzelwissenschaften entgegen; aber der Drang zur Durchbrechnung der von der jeweils eigenen Disziplin gezogenen Grenzen, der Hang zur Transdisziplinarität, und die Suche nach einer gemeinsamen Basis zur Verständigung zwischen den Wissenschaftsbereichen ist unübersehbar geworden. Auch wenn das postmoderne Gerede für das gesellschaftswissenschaftliche Gebiet nach dem Scheitern einiger Entwürfe das Ende der großen Erzählungen reklamiert, steht die Überbrückung des Grabens zwischen den zwei sogenannten Kulturen Natur- und Gesellschaftswissenschaften auf der Tagesordnung. Ideelle Gebilde sind an ihrer Interkommunizierbarkeit zu messen, an ihrer Integrationsfähigkeit, daran, inwieweit sie die diversen Zusammenhänge der Erscheinungen universalisierbar machen, die Komplexität ineinsfassen. Der Prüfstein des Generalismus, insbesondere was die zwei Kulturen betrifft, gilt auch für die Naturbegriffe.

Im folgenden möchte ich zeigen, daß und wie ein Naturbegriff – in Absetzung von anderen Naturbegriffen, die das nicht können – möglich ist, der keine Kluft zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften aufreißt und sich zur Grundlage naturpolitischer Entscheidungen der Gegenwart eignet, der also auf die genannten innerwissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Anforderungen Rücksicht nimmt.

Daran anschließend will ich zum Ausgangsargument zurückkehren und die Denkfigur der Versöhnung von Natur und Gesellschaft verallgemeinernd auf die geschichtliche Situation der Hinterfragung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts selbst anwenden und in diesem Lichte für eine Neubewertung Francis Bacons votieren.

  

1. Der Naturbegriff und seine Relation zum Gesellschaftsbegriff

Es scheint angebracht, den Begriff „Natur“ in seiner Wechselbeziehung zum Begriff „Gesellschaft“ zu untersuchen.

Dabei sollen drei Analyseebenen auseinandergehalten werden: die ethische, die ontologische und die methodologische. Bei den ethischen Aspekten geht es um die Ausrichtung der ideellen Darstellung an akzeptierten Werten im Spannungsfeld von Deskription und Präskription, beim ontologischen Gesichtspunkt um die Übereinstimmung der ideellen Darstellung mit dem Darzustellenden im Spannungsfeld von Konstruktion und Rekonstruktion und unter dem methodologischen Blickwinkel um die Vielseitigkeit der ideellen Darstellung im Spannungsfeld von Perzeption und Konzeption. Die drei Ebenen bauen aufeinander auf. Die oberste wird von der der Ethik gebildet, die unterste von der der Methodologie. Aufbauen heißt hier, daß jede Ebene die nächsttiefere zur Voraussetzung hat, selber aber nicht notwendig aus dieser Voraussetzung erwächst.

 

1.1. Unechte Korrelationen

Auf den ersten Blick können, idealtypisch zugespitzt, Natur und Gesellschaft in einem ausschließenden oder in einem einschließenden Sinn definiert werden.

 

1.1.1. Duale Sicht

Bei der ersten Alternative haben die Begriffe nichts miteinander gemein. Sie sind inkompatibel, sie existieren einfach nebeneinander und können keine Verbindung eingehen, weil sie keine Anknüpfungspunkte haben. Diese Begriffsbestimmung ist dualistisch.

Da Natur und Gesellschaft in dieser Sicht nichts miteinander zu tun haben, können ihr zufolge im Bereich der Gesellschaft, in dem die Menschen zu Hause sind, Normen, Leitideen, Handlungsaufforderungen usw. völlig unabhängig vom Bereich der Natur aufgestellt werden. In diesem Sinn sind es beliebige Wertsetzungen, die aber nicht beliebig sein müssen in bezug auf die gesellschaftlichen Umstände. Die Werte können, sobald sie Handlungen orientieren, die sich gewollt auf Natur beziehen oder ungewollt Auswirkungen auf Natur haben, naturfeindlich sein oder naturfreundlich oder indifferent, genauso wie sie menschenfreundlich, menschenfeindlich oder indifferent sein können, insofern die Handlungen Menschen betreffen. Ethisch gesehen liegt jedenfalls der Standpunkt der radikalen Anthropozentrik vor, ganz gleich, ob der fortgesetzten rücksichtslosen Expansion und Kolonisierung der Natur das Wort geredet wird oder der Rückzug aus der Natur, die künftige Enthaltsamkeit oder die sofortige Selbstaufgabe legitimiert werden soll.

Diesem radikal anthropozentrischen Standpunkt liegt eine Auffassung über die Seinsweise der Designate zugrunde, die deren getrennte Existenz unterstellt. Natur und Gesellschaft sind demnach selbständige, disjunkte Wirklichkeitsbereiche, die nicht aufeinander einwirken können. Jedem Bereich werden andere Wirkfaktoren zugeeignet. Ontologisch gesehen wird eine Dichotomie von Natur und Gesellschaft angenommen.

Und diese Dichotomisierung basiert ihrerseits auf einer methodologischen Verabsolutierung der voneinander verschiedenen Eigentümlichkeiten der beiden Erkenntnisgegenstände Natur und Gesellschaft, ihre unterschiedlichen Seiten werden hervorgehoben und als wesentlich erachtet, was einer Hypostase der Differenz gleichkommt.

Insofern in dieser dualistischen Begriffswelt der Kultur eine Distinktion zuteil wird, die der Natur fehlt, methodologisch, ontologisch und ethisch, möchte ich sie Kulturalismus nennen.

Gemessen an den eingangs formulierten Kriterien zementiert der Kulturalismus allerdings den Hiatus zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften, wo seine Hypostasierung des Unterschiedlichen die Frage nach den Gemeinsamkeiten unterdrückt, wo seine Dichotomisierung die menschliche Lebenswelt entzweit und gegeneinander verselbständigt und wo seine Anthropozentrierung die Abhängigkeit gesellschaftlicher Zielsetzungen von natürlichen Rahmenbedingungen leugnet, und er ist ungeeignet, eine bestimmte Naturpolitik vor allen anderen zu fundieren, weil er Beliebiges begründen kann.

 

1.1.2. Reduktion/Projektion

Anders als im Kulturalismus wird bei der zweiten Alternative, also bei der Definition der beiden Begriffe, bei welcher der eine Begriff vom anderen eingeschlossen wird, der eingeschlossene Begriff unter den einschließenden subsumiert, als Teilklasse auf die umfassendere Gesamtheit zurückgeführt, reduziert, bzw. als Teilklasse auf die umfassendere Gesamtheit ausgedehnt, projiziert. Beide Male wird eine Gleichheit in der Bedeutung der beiden Begriffe hergestellt, indem die Eigenschaften, die den Objekten der Teilklasse zugeschrieben werden, auch den Objekten der Gesamtheit assigniert werden – die Reduktion führt dabei auf Eigenschaften der Grundklasse hin, die Projektion nimmt dagegen von Eigenschaften des Teils ihren Ausgang.

Da gesellschaftliches Handeln in natürliche Zusammenhänge eingebunden sei, wird entweder behauptet, daß die letzteren nach Art eines Sachzwanges Einschränkungen darstellen, die bestimmte Anweisungen für die ersteren zur Folge haben, oder aber es wird auch für das Reich der Natur das Gelten von Werten postuliert, dem die Handlungen in der Gesellschaft zu unterliegen haben. Im einen Fall wird gesellschaftliches Sollen aus natürlichem Sein zu folgern versucht, im andern Fall werden zunächst Wertvorstellungen aus der Gesellschaft in die Natur übertragen, um sie daraufhin aus ihr gewinnen zu können. Die reduktive wie die projektive Ethikvariante sind naturzentriert, ökozentrisch, wie ich sie nennen will (wobei die Spannweite der Öko-Ethiken von pathozentrisch über biozentrisch bis physiozentrisch reicht) – eine genuine Ökozentrik bzw. eine anthropomorphe Ökozentrik. Wiederum sind beide mit den für Mensch und Natur unterschiedlichsten Schlußfolgerungen verträglich, sei es ein Kampf ums Überleben, in den die Menschen eingespannt wären, sei es eine wohlgeordnete Harmonie, in die sich die Menschen zu fügen hätten.

Die ökozentrische Ethik ist ontologisch unterlegt. Die Gesellschaft sei Teil der Natur. Als solcher sei sie den selben Gesetzmäßigkeiten unterworfen und zeige die selben Erscheinungen, wie sie auch sonst in der Natur anzutreffen seien. Das bedeutet eine Identität der Gesellschaft mit der Natur durch die Reduktion des Gesellschaftlichen auf nichts als eine Unterart des Natürlichen, durch das Wegschneiden von Eigenschaften, die nur für den gesellschaftlichen Bereich der Wirklichkeit typisch sind. Und dies kann auch als eine Identität der Natur mit der Gesellschaft verstanden werden, wenn das Gesellschaftliche ins Natürliche hineininterpretiert wird und Eigenschaften dort gefunden werden, wo sie gar nicht vorhanden sind.

In der ontologischen Identifizierung steckt schließlich die Vereinseitigung, methodologisch genommen. Denn das reduktionistische Denken stellt diejenigen Seiten von Natur und Gesellschaft heraus, die beide gemeinsam haben – das ist die Hypostase der Einheit in der Natur –, während das projektionistische Denken Seiten als gemeinsam vorspiegelt, die tatsächlich nur in der Gesellschaft vorkommen – das ist die Hypostase der Einheit in der Gesellschaft.

Gegenüber dem Kulturalismus, der auf die Eigenständigkeit der Gesellschaft abhebt, betonen die Reduktion wie die Projektion die Untrennbarkeit von der Natur und die unentrinnbare Angewiesenheit auf diese, was sie entweder als Naturalismus ausweist, der alles mit Naturgegebenheiten erklärt, oder als Anthropomorphismus kennzeichnen läßt, der menschliche Besorgnisse in naturalem Gewand ausdrückt.

Auch die naturalistische (anthropomorphistische) Auflösung der Begriffe ineinander hilft nicht weiter. Das methodische Beiseiteschieben des gesellschaftlich Besonderen (durch seine Verwandlung in natürliches Allgemeines) bei der Hypostasierung der Einheit, die gewaltsame Subsumtion der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter die (gesellschaftlich unterstellte) Natur bei der Identifizierung der Seinsbereiche wie die fehlerhafte Herleitung des Sollens aus dem (gesollten) Sein bei der Ökozentrierung der Ethik laufen auf die Gleichmacherei der Gesellschaftswissenschaften mit den (gesellschaftswissenschaftlich infizierten) Naturwissenschaften hinaus und tragen nicht dazu bei, eine Einheit zu stiften, die zu Lasten keiner Seite geht. Die ordnungspolitischen Vorstellungen, die sich reduktionistisch (projektionistisch) abstützen lassen, reichen ebenfalls vom Wohlfahrtsstaat mit Wirtschaftswachstum bis zur Ökodiktatur und schließen keine der Naturpolitiken aus.

 

1.2. Echte Korrelation: Emergentismus

Idealtypisch zugespitzt, bewegen sich die kulturalistischen wie die naturalistischen und anthropomorphen Varianten der Naturpolitik auf einem Kontinuum, dessen Pole Naturnutzung im Sinne des Offenhaltens der Natur für alle beliebigen Interventionen (Vernutzung und Verschmutzung eingeschlossen) auf der einen Seite und Naturschutz gegen jegliche anthropogenen Eingriffe auf der anderen bilden. Nachhaltige Naturnutzung kommt so nicht in den Blick.

Kulturalismus wie Naturalismus/Anthropomorphismus bieten nicht nur keine Entscheidungshilfe in Sachen Umweltfrage, sie sind sogar kontraproduktiv, weil sie ideologisch desorientieren, nämlich von erfolgversprechenden Ansätzen der praktisch-theoretischen Behandlung der Umweltfrage ablenken, die beim gegebenen Erkenntnisstand bereits möglich sind.

Sowohl bei der dualistischen als auch bei der reduktionistischen/projektionistischen Denkfigur handelt es sich um keine echten Korrelationen der Begriffe „Natur“ und „Gesellschaft“, sondern entweder um deren fein säuberliche Trennung zum Zwecke der Abhebung des einen vom andern oder um die Überführung des einen in den andern zum Zwecke ihrer Gleichsetzung.

Erst jenseits von Dualitäts- und Identitätsdenken kann ein Zueinander-in-Beziehung-Setzen der Begriffe gelingen, das so differenziert wie möglich, aber so einheitlich wie nötig ist, um in guter alter dialektischer Manier den Grundbegriff der Natur- und den der Gesellschaftswissenschaften in ihrer gegenseitigen Bedingtheit auszuloten, deren Eigenständigkeit, ja Gegensätzlichkeit, anzuerkennen und zwischen den Gegensätzen zu vermitteln, ohne sie zu eliminieren, ganz so wie es die Transdisziplinarität vom Denken heute fordert.

Wenn es stimmt, daß, wo Gefahr ist, das Rettende auch wächst und die Menschheit sich immer erst Probleme stellt, sobald die Mittel für deren adäquate Behandlung bereit liegen, dann repräsentiert der Wandel im Weltbild, der von den Erkenntnissen angestoßen worden ist, die sich um die Forschungen zur sogenannten Selbstorganisation gruppieren, und die – anfänglich uneingestandenermaßen – dialektisches Denken revitalisieren, indem sie den Zusammenhang zwischen der strukturellen und der prozeßhaften Seite in Form des Systemcharakters und der evolutionären Aspekte bei jedweder Art von Erscheinungen thematisieren, einen Paradigmenwechsel, vor dessen Hintergrund die Komplexität und Globalität der Menschheitsfragen sich nunmehr als versteh- und aufnehmbar herausstellen. Die Grundlegung einer sich aus den vielen Selbstorganisationstheorien langsam herausschälenden Theorie evolutionärer Systeme in philosophischen Auffassungen des Emergentismus bietet ein einigendes Band für die sich weiter ausdifferenzierenden Einzelwissenschaften, das ein einheitliches Begreifen der vielen einbezogen werden wollenden Facetten der jeweiligen Erkenntnisgegenstände als Unterpfand für ein praktisches Wirksamwerden zu gewährleisten verspricht, das die gewünschten Ziele umsetzbar macht.

Kurz, eine Emergenzphilosophie scheint mir das Mittel der Wahl, um „Natur“ und „Gesellschaft“ zu korrelieren.

Entgegen den Betrachtungsmethoden, die zwar das Einende übersehen, aber das Trennende nicht, oder die umgekehrt just das Gemeinsame sehen, bloß den Unterschied nicht, soll in diesem Ansatz die Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen geschehen: Das Besondere hat das Allgemeine zu seiner Grundlage, zu seiner Voraussetzung, das Allgemeine existiert daher im Besonderen, weil es aus dem Besonderen erschlossen werden kann, es hat aber auch seine eigene Existenz außerhalb des Besonderen, wo es kein Allgemeines ist, nicht das Allgemeine dieses Besonderen, sondern sich selber wie ein anderes Besonderes verhält. Das Gesellschaftliche hat das Natürliche zu seiner Grundlage, zu seiner Voraussetzung – keine Gesellschaft ohne Natur, ja keine Gesellschaft ohne ihre Natur, denn diese Natur ist die Folge dieser Gesellschaft. Das Natürliche hat aber auch seine eigene Existenz außerhalb des Gesellschaftlichen – Natur, wo sie sich selbst genügt, auch ohne Gesellschaft. Das Besondere kommt zu einem anderen Besonderen hinzu und macht jenes erst durch sein Dazutreten zu einem Allgemeinen und drückt ihm seinen besonderen Stempel auf. Das Gesellschaftliche ist eine besondere Eigenschaft, die zum Natürlichen hinzukommt, und die jenes zum Allgemeinen des außerhalb des Gesellschaftlichen existierenden Natürlichen und des vom Gesellschaftlichen geprägten Natürlichen macht. Das Allgemeine ist das Abstrakte, das Konkrete ist das zusammmengewachsene Besondere und Allgemeine, das Besondere mit seinem besonders modifizierten Allgemeinen. Das Natürliche als das in Natur und Gesellschaft Gemeinsame allein ist abstrakt, konkret ist die Gesellschaft als das Gesellschaftliche und das gesellschaftlich modifizierte Natürliche. Das Wesentliche am Besonderen ist nicht das Allgemeine. Das Wesen der Gesellschaft ist das Gesellschaftliche und nicht die Natur.

Diese Sichtweise soll, auf die Ontik angewandt, die Seinsbereiche Natur und Gesellschaft historisch-genetisch und logisch-strukturell in einem begreifen: die Gesellschaft als das neue Ganze, das aus der Natur auftaucht – statt Dichotomie und Identität Emergenz. Emergenz ist das Auftauchen von Eigenschaften oder Dingen, die sich von denjenigen Eigenschaften und Dingen, aus denen sie auftauchen, unterscheiden, gleichwohl aber nach ihrem Auftauchen mit jenen innerlich verbunden bleiben. Die Realität wird als diachron und synchron zugleich unterstellt, wobei beide Seiten, die Dynamik und die Statik, ineinander übergehen und sich gegenseitig bedingen. Zusammen konstituieren sie den Entwicklungszusammenhang, der sich in einer Dialektik von Altem und Neuem zeigt, was den Prozeß der Hervorbringung der sich unterscheidenden Eigenschaften oder Dinge betrifft, und einer Dialektik von Teil und Ganzem, was die Struktur der hervorgebrachten Eigenschaften und Dinge anbelangt.

Im Gegensatz zur dualistischen Ontologie, aber in Übereinstimmung mit der reduktionistischen reißt die dialektische die Qualitäten verschiedener Entwicklungsphasen nicht auseinander, sondern läßt das Neue aus dem Alten hervorgehen, aber entgegen Reduktionismus und Projektionismus, die das Neue aus dem Alten herleiten wollen, als ob es in diesem schon enthalten wäre und durch Ent-wicklung nur mehr aus diesem herausgerollt zu werden bräuchte, und dabei die Qualität des Neuen in Abrede stellen, betont sie übereinstimmend mit dem Dualismus die eigenständige Qualität der höheren Stufe. Sie erklärt das Alte zur notwendigen Voraussetzung des Neuen, ohne es hinreichen zu lassen.

Dasselbe gilt für die Dialektik von Teil und Ganzem: Daß das Ganze mehr ist als seine Teile, soll heißen, es kommt zustande durch das Zusammenwirken der Teile, gewinnt eine relative Selbständigkeit ihnen gegenüber und übt auf sie eine Rückwirkung aus, aber es emanzipiert sich nicht vollständig von ihnen. Die Aktivität der Teile bildet die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Ganze.

Das Wechselspiel von Alt/Neu und das von Teil/Ganzem greifen ineinander. Der dialektische Prozeß der Entstehung von Neuem gerinnt in seinem Resultat zur dialektischen Struktur von Ganzheiten, die Phasenfolge spiegelt sich im Schichtenbau wider. Das Neue entsteht zuerst als Teil des alten Ganzen und schreitet fort bis zu einem gewissen Punkt, an dem die Dominanz des Alten über das Neue in die Dominanz des Neuen über das Alte umschlägt und die neue Ganzheit sich die Teile des Alten unterordnet.

In bezug auf Natur und Gesellschaft bedeutet dies: Die Natur bringt im Lauf ihrer Entfaltung die Gesellschaft hervor, die Gesellschaftsgeschichte ist also zwar einerseits die Fortsetzung der Naturgeschichte, aber andererseits die Fortsetzung auf einem anderen Niveau, und die Gesellschaft, nachdem sie einmal entstanden ist und nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, durchdringt und überformt die Natur nach ihrem Bilde, obschon sie zeit ihrer Existenz an die Natur gebunden bleibt.

Eine Emergenz-Ontologie wie diese soll, bezogen auf die Frage der Handlungsorientierung, weder willkürliche Setzungen anerkennen wie die dualistische Ethik noch vorgegebene Sachzwänge bzw. Werte wie die reduktionistische bzw. die projektionistische Ethik. Normen werden zwar dort belassen, wo sie entstehen, nämlich im gesellschaftlichen Lebensprozeß, und wo sie auf das Gute und Schöne orientieren, aber sie werden nicht von ihren Wurzeln losgelöst – die Sicherung eines guten und schönen Lebens in einem kulturellen Sinn heißt allemal zuerst die Sicherung des Überlebens in einem elementaren physischen Sinn. Insofern kann diese Position eine moderate Anthropozentrik genannt werden, als sie im wohlverstandenen Eigeninteresse der Menschen Rücksicht auf die natürlichen Umstände nimmt, insoweit diese an Bedeutung für das Überleben und ein besseres menschliches Leben gewinnen. Die ethische Schlußform des ökologisch moderaten Anthropozentrismus vermittelt die Normen, die für Menschen gelten, die ein gutes und schönes Leben wollen, und die Sachaussagen, die sich letztlich auf natürliche Zusammenhänge beziehen, die dem Verfolg der betreffenden Ziele behilflich sind oder entgegenstehen, zu Handlungsanweisungen, die auf die Funktionalisierung dieser Zusammenhänge oder die Beseitigung der Hindernisse gerichtet sind. Die Normen steuern die Handlungen, die die vergesellschaftete Natur beeinflussen, sie emergieren jedoch im Detail unvorhersehbar – was als ein gutes und schönes Leben gewertet wird, variiert innerhalb einer Bandbreite, die sich historisch verändert. Dieser praktische Syllogismus des Aristoteles ist auch die einzig korrekte Form, auf das Sollen zu schließen.

Die emergentistische Denkfigur einer Dialektik Natur-Gesellschaft, die im Erkennen zwischen den allgemeinen und den besonderen Seiten der natürlichen und gesellschaftlichen Welt vermittelt, in der Auffassung vom Sein zwischen dem Reich der Natur und dem der Gesellschaft, im Bewerten zwischen natürlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Zielen, ist nicht nur fähig, den Sprung von den Natur- zu den Gesellschaftswissenschaften anzustellen, sondern richtet die Naturpolitik auch quer zur Alternative Natur(ver)nutzung (und -verschmutzung) versus Naturschutz auf die Herstellung von Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung von Natur und Gesellschaft aus.

„Nachhaltigkeit“ kann im evolutionär-systemtheoretischen Kontext verstanden werden als eine spezifische gesellschaftliche Fähigkeit, nämlich als Fähigkeit gesellschaftlicher Systeme, sich selbst auf Dauer aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, indem sie ihre natürlichen Subsysteme in einer Weise beeinflussen, daß diese ihrer Qualität als Unterstützung und Grundlage für das Systemganze nicht durch systeminterne und, soweit möglich, -externe Störungen verlustig gehen. Dies ist auf kultureller Ebene die spezielle Ausprägung der Tendenz selbstorganisierender Systeme, die Bedingungen der Stabilität aus sich heraus zu produzieren. Die Teil-Ganzes-Dialektik soll nicht außer Kraft gesetzt werden, die Teile müssen vom Ganzen dazu befähigt werden, das Ganze zu reproduzieren.

Zusammengefaßt zeigt sich, daß eine Politik der nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft eines Naturbegriffs bedarf, der vor dem Hintergrund einer Theorie evolutionärer Systeme gewonnen wird.

 

2. Jenseits von Fortschritt und Rückschritt

Die korrelative Bestimmung der Begriffe „Natur“ und „Gesellschaft“ auf der Basis der emergentistischen Denkfigur ist selbst Teil eines umfassenderen Prozesses, in dem die Hinterfragung und Neubestimmung von Sinn und Zweck des wissenschaftlich-technischen Fortschritts anstehen. Die Antwort, die mit der Dialektik von Natur und Gesellschaft auf die Frage nach der wissenschaftlichen Begründung einer Naturpolitik der nachhaltigen Entwicklung gegeben wird, kann als Teil einer Antwort auf die globale Problematik überhaupt gesehen werden und darauf, was die Ursachen und die Inhalte der wissenschaftlichen Umbrüche der Gegenwart sind.

So wie sich Naturvernutzungspolitik und Naturschutzpolitik als zwei Extreme erwiesen haben, jenseits derer die gangbare Alternative liegt, stellt sich die Frage der adäquaten Beantwortung der globalen Herausforderungen ähnlich. Die zwei Pole der Naturpolitik sind die ökologisch gewendeten Sonderfälle zweier entgegengesetzter Haltungen bezüglich der Beeinflussung der Techno-, der Öko- und der Soziosphäre überhaupt, die beide ebenfalls fruchtlose Bemühungen zur Bewältigung der Probleme versprechen. Gefragt ist, ob es jenseits der impraktikablen idealtypischen Alternative der Fortsetzung des eingeschlagenen Weges oder der Umkehr einen Ausweg gibt.

Die Antwort aus dem Blickwinkel einer evolutionären Systemtheorie mit emergenzphilosophischer Grundlage lautet Ja. Aus ihrer Sicht ist die angebotene Alternative zu eindimensional.

Die Argumentation für eine Fortsetzung des eingeschlagenen Weges kann nicht plausibel machen, wie ein bloßes Mehr an Wissenschaft und Technik unter Beibehaltung der gegenwärtigen ökonomischen Triebfedern und politischen Rahmenbedingungen eine qualitativ veränderte Situation heraufführen könnte, wenn die jetzige Lage bereits einer geringeren Quantität derselben Entwicklung geschuldet ist. In dieser konservativen Variante wird die Kontinuität verabsolutiert und die Notwendigkeit oder Möglichkeit eines Qualitätssprungs geleugnet. Es handelt sich der Denkfigur nach um Reduktion bzw. Projektion. Entweder wird die Lösung der globalen Probleme als etwas angesehen, womit im Rahmen der Moderne zu Rande gekommen werden kann, ohne daß es irgendwelcher einschneidenden Modifikationen der zivilisatorischen Entwicklung bedürfe, oder es wird den bestehenden Verhältnissen eine um Größenordnungen andere Problemlösungskapazität attestiert, weil Hemmschuhe von diesen Phantasien nicht zur Kenntnis genommen werden. Handlungsbedarf besteht eigentlich in keinem Fall.

Der Ruf nach einer Umkehr will das Kind mit dem Bad ausschütten, wenn er das ganz Andere hier und heute postuliert ohne Rücksicht auf die bisherige Entwicklung. Auf die Wissenschaft und die Technik der Moderne glaubt er ebenso pauschal verzichten zu müssen wie auf deren Wirtschaft und Politik. Diese utopistisch-radikale Spielart gesellschaftspolitischer Leitlinien verabsolutiert die Diskontinuität und leugnet die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Fortbestehenlassens gewisser Verläufe und Beziehungsgefüge in der gesellschaftlichen Enwicklung, sie dualisiert die schlechte Wirklichkeit und das erwünschte Gute bis zu dem Punkt, daß eigentlich keine Handlungsmöglichkeit mehr übrig bleibt.

Über diese beiden Alternativen hinaus geht ein Ausweg, der die Möglichkeit und die Notwendigkeit sowohl der Diskontinuität als auch der Kontinuität der in der gesellschaftlichen eingeschlossenen wissenschaftlich-technischen Entwicklung herausstreicht. Ein Qualitätssprung ist gefordert, der die bisherige Qualität in ihrer Rolle als dominante Qualität beendet, aber als dominierte Qualität beibehält und gewisse ihrer Seiten im Zuge der Durcharbeitung nach der Übernahme durch die andere Qualität zu bewahrenswerten, weil entwicklungsfähigen, Seiten erhebt.

Eine solche Forderung drückt sich in der Formel von der Reflexion der Moderne wie des wissenschaftlich-technischen Fortschritts aus: Die Vernunft wird nicht zu Grabe getragen, weil sie zur instrumentellen Vernunft verkommen ist, sondern muß auf sich selbst gewendet werden. Einen anderen Maßstab zur Kritik der Vernunft als die Vernunft selber gibt es nicht.

Wissenschaftsgeschichtlich läßt sich so die gegenwärtige Tendenz zur problemorientierten, fächerübergreifenden Zusammenarbeit und der Suche nach umfassenderen Konzepten nicht als Abschied von der abendländischen Wissenschaft überhaupt, sondern als Anzeichen einer Erneuerungsbewegung deuten, die zu einer dritten Phase der Wissenschaftsentwicklung überleiten könnte, nachdem in einer ersten Phase – in der Wissenschaft der Antike und des Mittelalters – die undifferenzierte Kontemplation angesagt war, die, in einer ersten Negation – in der Wissenschaft der Neuzeit –, von einer Phase der Hinwendung zur praktischen Auseinandersetzung mit den Dingen und zur analytischen Zerlegung abgelöst worden ist. Die Negation der Negation bedeutet die von der globalen Problematik erheischte neuerliche Berücksichtigung ganzheitlicher Zusammenhänge durch ein holistisches Denken, das aber – im Unterschied zum Denken der ersten Phase – unter der Beibehaltung und auf der Grundlage des analytischen Denkens zum bestimmenden Faktor der wissenschaftlich-technischen Entwicklung werden soll.

 

Exkurs: Bacons „Umarmung“ der Natur

Francis Bacon wird oft als männlicher Ahnvater der neuzeitlich-abendländischen Wissenschaft gesehen. Seine Äußerungen verleiten gerne zur undifferenzierten Desavouierung der Wissenschafts- und Technikentwicklung, die zur heutigen Malaise geführt habe. Ganz im Sinne Lothar Schäfers Unterscheidung von Programm und Ideal möchte ich mit einigen Textstellen Bacons illustrieren, daß sein Ideal nicht in Bausch und Bogen verworfen zu werden braucht und seine Aussagen zumindest nicht uneindeutig sind und eine Vereinnahmung als Sündenbock durch die fundamentalistische Kritik fragwürdig bleibt. Revidiert werden muß das Programm.

Ich betrachte hier nacheinander Zitate, aus denen Bacons Einschätzungen des Verhältnisses Mensch-Mensch, des Verhältnisses Mensch-Natur und des Verhältnisses Mensch-Technik erschlossen werden können. Die Zitate entstammen allesamt seinem Werk „Weisheit der Alten“ („De sapientia veterum“), das 1609 in lateinischer Sprache erschienen und zu seinen Lebzeiten und dann später, im 19. Jahrhundert, noch einmal ins Englische übersetzt worden ist. Darin erzählt Bacon einunddreißig Mythen der Antike nach und interpretiert sie neu – in seinen Interpretationen scheinen seine philosophischen Auffassungen durch, wie Philipp Rippel in seinem Essay „Francis Bacons allegorische Revolution des Wissens“ schön herausarbeitet.

In bezug auf die Verhältnisse der Menschen untereinander betont Bacon die „charity“ als richtungsweisendes Prinzip. Übereinstimmend damit macht er es in der Interpretation der Orpheus-Sage, wo er den Gesang und das Lyraspiel des Orpheus mit der Philosophie gleichsetzt und was als das wichtigste Kapitel in der „Weisheit der Alten“ gilt, zur Aufgabe der Philosophie, „den Herzen der Menschen die Liebe zur Tugend, zur Gleichheit und zum Frieden einzuflößen und die Menschen zu lehren, sich zusammenzuschließen, sich das Joch der Gesetze aufzuerlegen, sich der Herrschaft unterzuordnen und ihre unbeherrschten Leidenschaften zu vergessen, indem sie ihren Lehren lauschen und ihnen Folge leisten“ (36). Das schließt einen politischen Ordnungsbegriff ein, der auf den Konsens baut. In seiner Darstellung des Typhon-Mythos warnt Bacon vor den Konsequenzen, „die sich von Zeit zu Zeit in Monarchien ereignen“, wenn „der König, verdorben durch die lange Gewohnheit zu herrschen, sich in einen Tyrannen verwandelt“. Der König müsse „durch Güte, weise Edikte und huldvolle Worte die Herzen seiner Untertanen versöhnen und in ihnen die Bereitschaft erwecken, ihm Unterstützung zuzusagen und so die Kraft seiner Autorität wiederzuerlangen“ (16).

Was die Verhältnisse der Menschen zur Natur betrifft, verdient festgehalten zu werden, daß Bacon Orpheus Herkules gegenüberstellt, dessen Taten auf einen Zustand physischer Unterjochung und gewaltsamer Befriedung der Natur hinauslaufen. Herkules nimmt Bacon in seine Allegoriensammlung gar nicht auf. Orpheus sei dagegen „ein anbetungswürdiger und wahrhaft göttlicher Mensch und Meister der Harmonie, der mit seinen Weisen alle überwältigte und hinriß“, und nach Bacon „übertreffen die Werke des Orpheus diejenigen des Herkules“, so „wie die Werke der Weisheit diejenigen der Stärke an Würde und Kraft übertreffen“ (34). Durch die „Werke der Weisheit“, wie sie die Darbietung des Orpheus repräsentierten, ergäben sich „die Errichtung von Häusern, die Gründung von Städten, die Bebauung von Feldern und das Anlegen von Obstgärten, so daß man mit Recht sagen kann, Steine und Bäume hätten ihre Plätze verlassen und sich um die Menschen versammelt“ (36), nachdem auch schon „alle Arten wilder Tiere ... ihre jeweilige Natur ablegten, all ihren Zorn und ihre Wildheit vergaßen, nicht länger vom Stachel und der Raserei der Wollust getrieben wurden, ... sondern sich zahm und friedlich ... um ihn (Orpheus, W.H.) versammelten“ (35).

In der Frage des Verhältnisses der Menschen zur Technik betrachtet Bacon diese nicht nur als Mittel der Erleichterung des täglichen Lebens, sondern als Mittel der Annäherung an den paradiesischen Urzustand, in dem die Menschen die Dinge der Natur beim Namen zu nennen gewußt hätten, worin das regnum hominis bestünde. Bacon ist m.W. der erste Denker, der die Notwendigkeit der Technikfolgenabschätzung und -bewertung betont, auch wenn er diese in seiner Utopie „Neu-Atlantis“ in der beschränkten Form etwa heutiger Ethikkommissionen verwirklicht sehen will. Am Beispiel der Daedalus-Sage hebt er hervor, „die mechanischen Künste sind von zwiespältigem Nutzen, da sie ebenso schädlich wie heilsam sind“. „Zweifellos verdankt ihnen das menschliche Leben sehr viel... Aus derselben Quelle entspringen aber auch Instrumente der Wollust und des Todes“, die „selbst die Grausamkeit des Minotaurus übertreffen“ (50). Für Bacon geht es aber nicht nur um die Beachtung der Zwecke, um deretwillen Technik eingesetzt werden soll, sondern auch um die Art und Weise, in der die Menschen mit der Technik der Natur begegnen. In der Erzählung von Erichthonius verwendet er das Verhalten Vulcans, der Minerva nachstellte und Gewalt antun wollte, und dessen Samen eine Gestalt mit wohlgefälligem Oberkörper, aber mißgebildeten Beinen entsprang, als Metapher für die Beziehung der Technik zur Natur: „Wenn die Handwerkskunst ... durch die Mißhandlung der Körper versucht, der Natur ihren Willen aufzuzwingen, sie zu erobern und zu unterwerfen ..., erreicht sie selten das von ihr angstrebte Ziel. Unter großem Aufwand und großen Mühen (gleichsam im Kampf) fallen jedoch verschiedene Mißgeburten und untaugliche Werke ab, die hübsch anzusehen sind, sich im Gebrauch aber als schwach und mangelhaft erweisen“. Weiter prangert Bacon die Gewohnheit der Menschen an, die „lieber an ihrem Ziel festhalten, als daß sie ihre Fehler zurücknehmen“, und – so m.E. die entscheidende Textstelle – ihre Einstellung und Herangehensweise, daß sie „eher mit der Natur kämpfen, als daß sie ihre Umarmung mit der gebührenden Hingabe und Verehrung zu erreichen suchen“ (51).

Dasselbe Motiv wie bei Vulcan in der Erichthonius-Sage, nämlich der Angriff auf die Keuschheit Minervas, dient Bacon in der von ihm vorgetragenen Version der Prometheus-Erzählung zur Versinnbildlichung eines Aktes der Hybris, wofür Prometheus von den Göttern bestraft wurde. Rippel weist darauf hin, daß die Baconsche Formulierung der Selbstbeschränkung der Wissenschaft gegenüber der Theologie (die unbenommenerweise den Freiraum für theologiefreies Forschen aufspannt), die hier vorkommt, einen Vorgriff auf die Situation der wissenschaftlich-technischen Entwicklung im globalen Zeitalter darstellt. Rippel schreibt: „Im Vergleich mit der frevelhaften Neugier eines Pentheus bedeutet die hybride Begehrlichkeit des Prometheus einen weiteren Schritt auf der Bahn jenes noch unbeherrschten Verfügungswillens, der in der Herausforderung der grausam strafenden Götter allegorisch vorwegnimmt, was zur technologischen Selbstgefährdung einer künftigen Menschheit werden sollte und doch abwendbar wäre. Der für seine Vermessenheit zur Strafe angekettete Prometheus, dessen Leber von einem Adler zerfleischt wird, stellt eine mythologisch artikulierte Warnung vor der in blinden Machtrausch umschlagenden Vernunft dar“ (120).

 

Literatur

Francis Bacon: Weisheit der Alten. Herausgegeben und mit einem Essay von Philipp Rippel. Fischer, Frankfurt 1990

Fleissner, P., W. Hofkirchner a. D. Dimitrov: Groping for the Next Stage of Civilization. Philosophical Reflections on the Concept of Sustainability. In: Moser, F. (Hg.), Sustainability – Where do we stand?, Proceedings of the International Symposium, TU Graz 1993, 39–51

Hofkirchner, W.: Vom Homo oeconomicus zur Natura „Domina“? Perspektiven einer Umweltpolitik jenseits von Ökonomismus und Ökologismus. In: Kurswechsel 4/1993, 93–109

Hofkirchner, W.: Ein neues Weltbild für eine neue Weltordnung. Reflexionen über die Selbstorganisation der Menschheit. In: W. Hofkirchner (Hg.), Weltbild – Weltordnung, Perspektiven für eine zerbrechliche und endliche Erde, agenda, Münster 1994, 11–30

Hofkirchner, W.: Öko-Ethik: Von Spinoza zum New Age? In: Balibar, E., H. Seidel, M. Walther (Hg.), Freiheit und Notwendigkeit, Ethische und politische Aspekte bei Spinoza und in der Geschichte des (Anti–)Spinozismus, Königshausen & Neumann, Würzburg 1994, 241–249

Hofkirchner, W.: Das Technikbild der Gestaltungs- und Wirkungsforschung. In: Böhm, H.-P., Gebauer, H., Irrgang, B. (Hg.), Nachhaltigkeit als Leitbild für Technikgestaltung, Forum für interdisziplinäre Forschung 14/1996, 69–78

Hofkirchner, W. (Hg.): Vladimir I. Vernadskij, Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft. Peter Lang, Wien 1997, 250

Hofkirchner, W.: Information und Selbstorganisation – Zwei Seiten einer Medaille. In: Fenzl, N., W. Hofkirchner, G. Stockinger (Hg.): Information und Selbstorganisation. Annäherungen an eine vereinheitlichte Theorie der Information. Studienverlag, Innsbruck (in Vorbereitung)