Kapitalistische Technik und Herrschaft bei Otto Ullrich
Otto Ullrich (1979) sieht einen Zusammenhang zwischen Technik, Wissenschaft und Kapital. Dabei bezieht er sich stark auf die Werttheorie von Marx. Seine zentrale These lautet, "daß das System von Wissenschaft und Technik in vielfältiger Weise von Interessen durchsetzt ist und mit Interessen in Beziehung steht. Das System Wissenschaft und Technik erzeugt in den es reproduzierenden Menschen eine bestimmte Interessen- und Motivationsdisposition, und durch diese wiederum wird das System seinerseits geprägt und ‘weiterentwickelt’. Aus bestimmten Gründen separieren sich diese Interessen von ‘allgemeinen’ Interessen, stehen mit ihnen zum Teil im Widerspruch und ‘kooperieren’ mit den Interessen des Kapitals" (S. 434).
Der kapitalistische Produktionsprozeß müsse prinzipiell so organisiert werden, daß er von außen beherrscht werden kann. Eigene Bewegungen des Arbeitenden würden die Verwertungsinteressen des Kapitals gefährden. Diese Beherrschung von außen würde bzw. wurde im modernen Industriesystem so organisiert, daß Hand- und Kopfarbeit getrennt sind. Der Arbeiter dürfe der Meinung der Unternehmer nach nicht selbst denken, da er sonst möglicherweise eigennützig handle.
Eine zentrale These Ullrichs lautet, daß durch den Maschineneinsatz die Herrschaft zwischen Arbeiter und Kapitalist durch ein zwischengeschaltetes Medium entpersonalisiert werde:
"Der Herrschaftswille des Herrn wird durch die Maschinerie in der Tendenz entpersonalisiert, ‘versachlicht’. Zwischen Herr und Knecht tritt mediatisierend die Maschine, und im Horizont des Arbeiters erscheinen nur noch ihre Zwänge, die in ihrem Rhythmus zwingender werden als die personale Herrschaft" (Ullrich, 1979, S. 121).
Die mediatisierte Herrschaft im Fabriksystem stütze sich also auf die Maschine und die Trennung von Hand- und Kopfarbeit.
Die Arbeitszeit sei mit 8 Stunden geregelt, da dies kurz genug sei, um die Arbeit gerade noch erträglich zu finden und lang genug, um keine Zeit zu finden, über größere Systemzusammenhänge nachzudenken.
Die Wissenschaft der Herrschaft
Die Wissenschaft habe heute einen bedeutenden Stellenwert im Kapitalismus. Der Entwicklungsprozeß der Technologie, so Ullrich, wird immer größer und dieser Prozeß immer wissenschaftlicher. Wissenschaft sei eine wichtige Produktivkraft. Die Wissenschaft sei notwendig herrschaftsorientiert, da sie von der herrschenden Klasse abhänge (S. 133).
Typisch für Ingenieure sei eine "dienende" Haltung: Sie interessieren sich nicht dafür, daß ihre Erfindungen und ihre Arbeit wesentliche Basis der Kapitalakkumulation sei, sondern akzeptieren diese Struktur und ihre eigene Aufgabe kritiklos (S. 134f). Ullrich meint, er habe noch nie von einem organisierten Protest der Ingenieure gehört. Sie würden im Kapitalismus keine Gegner sehen, sondern ein Entwicklungsfeld für "ihre" Technik.
Das Kapital sei zur Produktion von relativem Mehrwert (siehe dazu das Kapitel über Marx) gezwungen. Zu dieser Steigerung der Produktivität seien Wissenschaft und Technik wesentliche Voraussetzungen. Daher habe sich die Produktion verwissenschaftlicht. Das Kapital fördere die Wissenschaft und die Technik, da es relativen Mehrwert nur mit deren Hilfe produzieren könne (S. 139f).
Technik und Herrschaft im Spätkapitalismus
Unter Herren-Macht versteht Ullrich ein asymmetrisches soziales Zwangsverhältnis zwischen Herr und Knecht, bei dem der Knecht seine Arbeitskraft mehr im Interesse und zum Vorteil des Herrn einsetzt als umgekehrt. Unter Asymmetrie ist dabei ein ungleich verteilter Gewinn und/oder eine ungleiche Verteilung von Kosten in der sozialen Beziehung zu verstehen. Im Kapitalismus sei der Gewinn der Transfer der Arbeitskraft des Knechtes zum Herrn, der den Mehrwert gratis konsumiert und in Profit verwandelt. Das Verhältnis zwischen Herr und Knecht, so Ullrich, wird vorwiegend vom Herrn bestimmt. Die Asymmetrie wird auch gegen den Willen des Knechts aufrechterhalten. Diese Macht sei keine Eigenschaft, sondern ein soziales Verhältnis zwischen Herr und Knecht. Der Herr habe nicht Macht, sondern Macht über den Knecht (S. 153). Unter Herren-Macht versteht Ullrich also im wesentlichen ein durch Zwang aufrechterhaltenes Ausbeutungsverhältnis. Unter Zwang versteht er die erfolgreiche Übertragung eines fremden Willens auch gegen den eigenen Willen (S. 159).
Als Herrschaft bezeichnet Ullrich ein zeitlich stabiles Machtverhältnis. Sie bedeute eine "asymmetrische Verfügung über fremde Arbeitskraft durch abgeschöpfte fremde Arbeitskraft" (S. 168). Der Zweck der Herrschaft im kapitalistischen Produktionsbetrieb sei die Verfügung der Kapitalisten über die Arbeitskraft auch gegen den Willen der betroffenen Arbeitenden. Den Arbeitenden, so Ullrich, werde im Kapitalismus eine Unterwerfungsbereitschaft eingeübt, sie lernen, zu gehorchen und Anweisungen ohne Hinterfragen zu befolgen (S. 163).
Die scientific community, so Ullrich, habe großen Einfluß auf technische Großprojekte und könne so eine maßgebende Herrschaftsstruktur mitbestimmen. Das Spezialwissen der Ingenieure habe sowohl für Kapital als auch für Staat eine wesentliche Bedeutung.
Ullrich ist trotz seiner Betonung, daß die Technik im Kapitalismus Herrschaftsinstrument sei, kein Technikpessimist, da er sieht, daß mit ihrer Hilfe in Zukunft eine humanere Welt zu gestalten sei. Sie sei heute eine unverzichtbare Lebensbasis (S. 142). Es gehe nicht darum, die Technik zu verdammen oder sie zu verklären, sondern um eine Analyse ihrer Rolle in der Gesellschaft und eine Abschätzung, was sie dem Menschen an Freiheit bringen könne.
Ullrichs Technikbegriff ist also durchaus dialektisch: "Die Realisierungschancen sind gerade durch die technisch real möglichen Hilfen nie so groß gewesen wie heute; die Utopie einer mündigen Gesellschaft ist eine konkrete Utopie, eine Utopie in der Reichweite unserer Möglichkeiten" (S. 148).
Ullrich ist der Meinung, daß eine Veränderung der Makrostruktur des Kapitalismus (z.B. die Aufhebung der privaten Verfügung über Produktionsmittel) eine notwendige, aber keine hinreichende, Bedingung für die Veränderung der Herrschaftsstrukturen im Betrieb und der technischen Entwicklung sei (S. 138).
In einer postkapitalistischen Gesellschaft, so Ullrich, müßten Wesen und Funktionsweise der Technik grundsätzlich verändert werden. Es ginge nicht darum, die Technik abzuschaffen, sie aber in veränderter Weise anzuwenden. Eine qualitative Änderung der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen sei dazu eine notwendige Basis. Die Alternative sei nicht ein Zurück zum Urwald ohne Technik, sondern eine andere Technik als Synthese aus Elementen der "alten" Technik und aus Elementen einer erst noch zu entwickelnden "neuen" Technik. Notwendig sei auch eine dezentrale Technik im Rahmen von kleinen Produktionsstätten. Diese müßten ohne Hierarchien, Befehl und Gehorsam auskommen. Eine solche angepaßte Technologie könne eine schonende Nutzung der Natur bieten und die Bedürfnisse der Menschen adäquat befriedigen. Eine solche Technik müsse überschaubar bleiben, um die Notwendigkeit von Herrschaft auszuschließen. Die Realisierung großtechnologischer Projekte sei vor allem ein Profitinteresse des Kapitals und ein Herrschaftsinteresse von Kapital, Staat und Wissenschaft. In einer postkapitalistischen Gesellschaft, wo diese Interessen wegfallen, wäre, so Ullrich, die Technik notwendigerweise weniger groß.
Technik ist für Ullrich im Kapitalismus ein Mittel der Herrschaft der Unternehmer über die Arbeitenden. Die Herrschaft habe sich durch die Maschine als Medium entpersonalisiert. Ullrich betont die Rolle von Wissenschaft und Technik im Kapitalismus. Die Akteure in beiden Bereichen wären in gewissen Maß abhängig vom Kapital. Daher komme es zu einer Verklammerung ihrer Interessen mit derer des Staates. Die kapitalistische Herrschaft werde ganz wesentlich von Technik und Wissenschaft ermöglicht und gestützt.
Ullrichs Technikbegriff ist weder technikoptimistisch noch -pessimistisch. Er betont, daß die Auswirkungen des Technikeinsatzes von dessen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängen. Für den Kapitalismus sieht er dabei schwarz: Technik sei hier vorwiegend Mittel der Herrschaftsausübung. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sei eine andere Technik möglich (also durch eine Umgestaltung der Wirkung der Gesellschaft auf die Technik), die die Befürfnisse des Menschen befriedige und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur ermögliche. Ullrichs Technikbegriff kann in diesem Sinn als dialektisch verstanden werden.
Otto Ullrich hält an der Utopie einer anderen Technik fest. Genau davon handelt auch das nächste Kapitel. Eine besondere Rolle spielen darin die Arbeiten von Ernst Bloch und Murray Bookchin.