Christian Fuchs - Technikgenese

Die Technikgenese beschäftigt sich mit Technikentwicklung und Technikgestaltung: "Arbeiten zur Technikgenese behandeln den Entstehungsprozeß von Technik, indem sie entweder ein Erklärungsmuster für die gesamte technische Entwicklung anbieten oder sich speziell auf die Phasen der Technikgestaltung, der Innovation und der Forschung beziehen oder exemplarisch einzelne Fälle von Technikentwicklung rekonstruieren" (Rammert, 1993, S. 19).

Eine wesentliche Grundthese der Technikgeneseforschung ist, daß Technikentwicklung ein Prozeß der sozialen Konstruktion durch soziale Akteure ist. Da diese Konstruktion in gesellschaftliche Strukturen eingebettet sei, wäre es möglich, die bereits in der Technikentwicklung angelegten Folgen frühzeitig zu erkennen. Ansätze, die von dieser These ausgehen, können als sozialkonstruktivistisch charakterisiert werden, da sie meinen, daß die Folgen in eine Technologie durch soziale Prozesse eingebaut werden. Rammert betont z.B., daß Technikgenese darauf abziele, "die soziale Erzeugung und Prägung einzelner Techniken und die sozialen Umgangsformen mit einer Technik zu rekonstruieren" (Rammert, 1994, S. 17)

Rammert vertritt die Ansicht, daß die Technikentwicklung in unterschiedlich strukturierten Teilbereichen der Gesellschaft abläuft und daß am Prozeß der Technikgenese unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Interessen und Machtpotentialen beteiligt sind. In jedem Teilbereich der Gesellschaft werde Technik mit einer anderen Orientierung entwickelt. So würden sich z.B. militärische, kommerzielle und öffentliche technische Systeme durch verschiedene Nutzungsweisen auszeichnen.

Technikentwicklung sei ein zeitintensiver Prozeß, bei dem es in den seltensten Fällen eine Instanz gebe, die ihn durch seine Orientierungen und Interessen steuert. Vielmehr würden sich viele verschiedene Orientierungen zeitlich nacheinander zeigen. Eine Technik sei nicht einfach da, sondern durchlaufe einen vielschichtigen Prozeß von der Erfindungsidee zu einer technischen Konstruktionsvorstellung, vom Prototyp bis zur marktgängigen Innovation. Gilfillan (1935) betont, daß Technikgenese ein vielfältiger und endloser Zuwachs von kleinen Modifikationen und Perfektionierungen sei. Normalerweise werden von der Öffentlichkeit nur große Neuerungen wahrgenommen, der komplexe Prozeß der Technikentwicklung und die vielen Stufen die dieser umfaßt, bleiben dabei ausgeblendet. Erst durch die Kombination von kleinen Innovationen und Entwicklungen sei eine technische Neuerung möglich.

Gilfillan betont auch, daß selten etwas wirklich Neues erfunden werde, sondern daß diese Neuerungen zumeist eine Neukombination bereits bestehender Elemente seien. Dies kommt z.B. dadurch zustande, daß sich IngenieurInnen und ErfinderInnen am bestehenden Wissen orientieren. WissenschaftlerInnen setzen sich mit dem State of the Art der Scientific Community auseinander. Daher hat dieser auch Einfluß auf die Entwicklungen und Ideen.

Phasen der Technikentwicklung

Zu Beginn, so Rammert, gibt es einen Pool technischer Ideen. Auf den hätten ältere technische Entwicklungen, Innovationen und soziale Interessen Einfluß.

In der zweiten Phase erfolgt eine Selektion aus diesem Pool, in dem der Staat durch Forschungs- und Entwicklungsprogramme bestimmte Ideen fördert und andere nicht.

Die dritte Phase ist jene der Forschung. Rammert vertritt die Ansicht, daß nicht gesagt werden könne, ForscherInnen handeln im Auftrag des Kapitals, da das Forschungshandeln einen hohen Grad an Selbstorganisation aufweise (Rammert, 1993, S. 41). Wer am Prozeß der Technikentwicklung bestimmend teilnimmt und wie dessen Resultat aussieht, ist für Rammert nicht im vorhinein festgelegt, dies sei der sozialen Dynamik der strategischen Akteure unterworfen. Dabei seien nicht nur die Machtchancen ausschlaggebend, sondern auch die Mobilisierungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Organisierung von argumentativen Diskursen. Vor allem sollte nicht davon ausgegangen werden, daß ein Akteur, z.B. ein Unternehmer, mit seinem Interesse den gesamten Prozeß der Technikentwicklung prägen könnte.

Nelson und Winter (1977) identifizieren folgende Phase der Technikentwicklung: In der ersten Phase seien die innovativen Ideen der handelnden Akteure besonders wichtig. Sie könne der Pool der Varianten vergrößert werden. In der zweiten Phase würden Selektionsmechanismen wie Staat, Markt und kultureller Wandel eine Auswahl aus dem Pool treffen. In der dritten Phase würden dann die Techniken durch Institutionalisierung in die Gesellschaft eingeführt.

Werner Rammert vertritt die Ansicht, daß ohne Betrachtung des Prozesses der Technikgenese Technikfolgenabschätzung nicht ernsthaft zu betreiben sei. Diese würde nämlich durch das immer höhere Tempo technischer Innovationen, die Vielfalt der Technisierungsprozesse (dadurch entsteht eine Unübersichtlichkeit über die komplexen Wirkungen innerhalb eines technischen Systems und zwischen gekoppelten Systemen) und die Gestaltung der Technik durch organisierte Interessen und kulturelle Visionen erschwert (Rammert, 1993, S. 48). Eine wesentliche These Rammerts lautet daher:

"Wer gegenwärtig kompetent die Folgen neuer Techniken abschätzen will, kann dies nicht ohne genauere Kenntnis über die sozialen Bedingungen der Erzeugung und Gestaltung technischer Produkte angehen. Denn in den organisierten Prozessen der Technikentwicklung, in den Forschungsinstituten und Industrielabors, fallen schon die Vorentscheidungen über Gestalt und Verwendung neuer Produkte und damit auch für einen Teil der Folgen. Der restliche Teil der Folgen wird durch die institutionellen Bedingungen und kulturellen Muster der Aneignung und des Umgangs mit den Dingen in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen hervorgerufen" (Rammert, 1993, S. 49).

Daher sei die Technikgeneseforschung von wesentlicher Bedeutung und müßte stärker forciert werden. Die Trennung von Technikerzeugung und Technikfolgenabschätzung sei fatal. Um unerwünschte soziale Folgen des Technikeinsatzes zu vermeiden, müßten in Zukunft soziale Kompetenzen zur Diagnose von sozialen Folgen und zum Dialog mit sozialen Akteuren über Alternativen in den Prozeß der Technikentwicklung selbst eingebaut werden. Man müsse sich von der Fixierung auf die Technikfolgenabschätzung lösen und sich verstärkt dem Entstehungsprozeß neuer Techniken und ihrem sozialen Kontext zuwenden.

Pluralität der Interessen oder Dominanz ökonomischer Interessen bei der Technikentwicklung?

Rammert betont die Pluralität der Interessen bei der Entwicklung einer Technologie. Das Ergebnis sei nicht im voraus absehbar und eine Akteursgruppe könne den Entwicklungsprozeß nicht alleine bestimmen, da die Technikgenese keiner einfachen Logik folge. Es ist sicherlich zutreffend, daß Entwicklung und Einsatz einer Technik von den verschiedensten Interessen bestimmt werden: UnternehmerInnen, ForscherInnen, Staat, Bürgerinitiativen, Konsumenten, NutzerInnen, KritikerInnen usw. Was Rammert aber möglicherweise übersieht, ist, daß die Macht dieser Akteursgruppen unausgeglichen ist und daß daher der Einfluß, den diese Gruppen auf die Technikgenese ausüben, unterschiedlich ist. Insbesonders läßt er außer acht, daß die ökonomische Macht einer Asymmetrie unterliegt und daß der Profitabilität einer Technologie auf Grund der Dominanz des Interesses organisierter ökonomischer Akteure eine wesentliche Bedeutung zukommt. Eine Technologie, von der erwartet wird, daß sie sich nicht verkauft und die daher wenig Profit einbringt, wird kaum die Unterstützung von Unternehmen und Staat erlangen. Und auch das Bild des autonom nach Eigeninteressen agierenden Forschers, das Rammert vermittelt, wird etwas getrübt, wenn bedacht wird, daß WissenschaftlerInnen und ForscherInnen nach Reputation in der Öffentlichkeit und innerhalb der Scientific Community streben. Daher kann angenommen werden, daß die Mehrheit der IngenieurInnen sich bei der Entwicklung neuer Ideen an den Marktchancen orientieren. Die Marktfähigkeit und das Verwertungsinteresse stellen also übergeordnete Interessen dar, auf die sich mehrere Akteure, die in die Technikgenese involviert sind, beziehen. Rammert unterschätzt die übergeordneten ökonomischen Zusammenhänge. Die Interessen von Staat, Forschung und Kapital sind nicht so divergent, wie oftmals angenommen wird. Genau diese Akteure sind es jedoch, die die Technikgenese im weiten Ausmaß bestimmen. Es sollte auch beachtet werden, daß es immer weniger der Fall ist, daß die Wissenschaft von der Ökonomie autonom agieren kann. Unternehmen finanzieren immer stärker die Wissenschaft im Rahmen von Forschungskooperationen und Auftragsarbeiten. Die laufenden Diskussionen über Universitätsreformen gehen in die Richtung, daß den organisierten Unternehmerinteressen mehr Mitsprache gegeben werden sollten. Forschung ist kein autonomes Tätigkeitsfeld, sondern eines, das ganz wesentlich mit den herrschenden ökonomischen Interessen verknüpft ist. Jedes größere Unternehmen hat heute z.B. seine eigene Forschungsabteilung, in der WissenschaftlerInnen im Auftrag des Kapitals an den Grundlagen möglichst profitabler Waren arbeiten.

Die Infragestellung der vollständigen Divergenz der großen Interessen und der weitgehenden Autonomie der Akteure im Prozeß der Technikentwicklung bedeutet nicht, daß eine Homogenität der Interessen von Staat und Kapital unterstellt wird. Dies wäre angesichts der Pluralität der institutionalisierten politischen Interessen verfehlt. Es kann nicht einmal gesagt werden, daß "das Kapital" ein homogenes Interesse vertritt. Der Marxist Nicos Poulantzas vertritt z.B. die Ansicht, daß es mehrere konkurrierende Kapitalfraktionen gibt, die erst durch die übergeordnete Instanz des Staates ein gemeinsames Interesse bekommen (Poulantzas, 1978). Der Staat organisiere die Einheit der fraktionierten Bourgeoisie. Was aber sehr wohl gesagt werden kann, ist, daß eine wesentliche Aufgabe des Staates ist, die Rahmenbedingungen für möglichst optimales ökonomisches Handeln zu setzen. In dieser Hinsicht erscheinen die parlamentarisch institutionalisierten Interessen trotz ihrer Pluralität wiederum an der Eindimensionalität der Logik des Marktes und der Waren orientiert (eindimensionaler Pluralismus). Wird also die Bedeutung dieser Verbindungslinie zwischen ökonomischen Interessen und politischen Funktionen berücksichtigt, so kann gesagt werden, daß sich die Technikentwicklung in der Phase der Forschung und der Entstehung in letzter Instanz weitgehend nach den Kriterien der Marktfähigkeit bestimmt.

Nichtsdestotrotz kann nicht angenommen werden, daß kapitalistische Interessen die Technikentwicklung vollständig bestimmen. Es wird nur festgehalten, daß sie eine dominante Position in diesem Prozeß einnehmen. Technikgenese umfaßt jedoch nicht nur die Forschungsphase, sondern auch die Institutionalisierung der Techniken in der Gesellschaft, also den konkreten Einsatz. Und ob es zu so einem Einsatz kommt, ist nicht nur die Frage ökonomischer Interessen, sondern auch eine der organisierten politischen Interessen der von den Folgen des Einsatzes unmittelbar Betroffenen. Kommt es zu einem Konflikt hinsichtlich der Anwendung einer Technologie, so ist dabei zu unterscheiden, ob die eine Seite den Einsatz grundsätzlich in Frage stellt oder ob es vorwiegend um das Wie des Einsatzes geht. Welche Seite sich schlußendlich durchsetzen kann ist eine Frage der Aushandlung, Argumentationsfähigkeit, der Mobilisierung öffentlicher Meinung, Ausdauer, Organisierung von zusätzlichen mächtigen Akteuren für die eine oder die andere Seite, usw. Ergebnis kann dann letzten Endes ein Konsens, ein Kompromiß oder die weitgehende Durchsetzung des Interesses einer Seite des Konfliktes sein. Dies ist abhängig von den gewählten Vorgangsweisen, vom Geschick der Akteure und den Machtpositionen. Es ist immer weniger der Fall, daß die mächtigeren Akteure (in letzter Instanz jene, die über mehr ökonomische Macht verfügen) ihre Interessen gegen jeden Widerspruch durchsetzen. Unternehmer versuchen beim Einsatz neuer Technologien immer stärker mit den VertreterInnen des organisierten Gegeninteresses in einen Dialog zu treten, um Widerstand und Proteste zu verhindern. Von wesentlicher Bedeutung sind dabei Mediationsverfahren, die versuchen, durch Dialog zwischen den unterschiedlichen Lösung eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung herbeizuführen.

Mediation

Mediation (siehe Vorwerk 1999, Keller/Poferl 1994) ist an Verhandlung und Konsens orientiert. Konflikte sollen durch die Hilfe eines Dritten friedlich beigelegt werden. Der/Die MediatorIn regelt dabei den Kommunikationsfluß und soll insbesonders Blockaden aufbrechen und den Einigungsprozeß in Gang halten. Mediation kann als partizipatorisches Verfahren der Technikfolgenabschätzung eingestuft werden, das versucht, Betroffene in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen.

Besonders im Bereich der Umweltkonflikte wird Mediation häufig eingesetzt (z.B. beim Bau von Sondermülldeponien, Kraftwerken usw.). Die erste Mediation fand 1973 im amerikanischen Bundesstaat Washington statt, als es einen Konflikt um einen Dammbau am Fluß Snoqualmie gab.

Mediation kann als eine Form des kommunikativen Handelns im Sinn von Habermas interpretiert werden (siehe Keller/Poferl, 1994), da versucht wird, die Geltungsansprüche der Kommunikation (Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit; siehe das Kapitel über Habermas im 2. Abschnitt) zu realisieren und einen "herrschaftsfreien Dialog" (zur Kritik der angenommenen Herrschaftsfreiheit siehe ebenfalls die Ausführungen im 2. Abschnitt) herzustellen. Mediationsverfahren versuchen, durch kommunikatives Handeln einen Konsens zu erreichen.

Eine Mediation verläuft in drei Phasen (siehe Vorwerk 1999, S. 708):

1. Vorbereitungsphase:

Die mit der Mediation Beauftragten analysieren den Konflikt und die sich streitenden Parteien. Es wird versucht, die wesentlichen Interessen und Konfliktpotentiale zu identifizieren. In Gesprächen mit den Konfliktparteien wird abgeklärt, ob eine Mediation überhaupt sinnvoll ist oder ob der Konflikt in so einem Ausmaß eskaliert ist, daß jede Vermittlung zwecklos ist. In der ersten Phase werden auch finanzielle und zeitliche Aspekte geplant und Regeln für das Mediationsverfahren aufgestellt, denen alle Konfliktparteien zustimmen müssen.

2. Durchführung:

Ziel dabei ist, daß Lösungen herbeigeführt werden, die für alle akzeptabel sind (win-win-Lösung). Ziel sind verbindliche schriftliche Vereinbarungen, zu deren Einhaltung auch Sanktionen vorgesehen werden.

3. Umsetzung:

Verträge werden aufgesetzt und unterschrieben. Die darin vorgesehenen Maßnahmen werden verwirklicht.

Mediationsverfahren erzeugen zwar möglicherweise einen Konsens, bieten aber keinen Umgang mit unbeherrschbaren, da unvorhersagbaren, Risiken von Großtechnologien. Mediation geht häufig mit einem Sicherheitsoptimismus davon aus, daß das Katastrophenrisiko quantifiziert und daher auf ein Minimum reduziert werden kann. Durch die Garantie, daß die Technologie "sicher" gemacht wird, werden die vom Einsatz Betroffenen häufig beruhigt und leichter davon überzeugt, daß die entsprechende Technologie notwendig sei. Eine andere Position geht davon aus, daß eine Technologie niemals sicher sein kann und daß immer ein Restrisiko besteht. Dieser Risikobegriff betont die Bedeutung von Unsicherheit, Ambivalenz, Unbeherrschbarkeit und Nichtvorhersagbarkeit eines komplexen technischen Systems.

Eine andere Kritik an Mediationsverfahren lautet, daß deren Proponenten zwar die Vorteile der Partizipation anpreisen, aber nicht darauf hingewiesen wird, daß Mediationsverfahren erst dann ansetzen, wenn gesellschaftliche Widersprüche auftreten. Es erfolgt keine Beteiligung der Betroffenen an der Entscheidung, ob eine Technologie überhaupt benötigt wird und am Entstehungsprozeß der Technologie selbst. Es wird also nur die Art des Einsatzes verhandelt, aber nicht die Notwendigkeit und Legitimität einer Technologie an sich. Daher lautet auch ein immer wieder auftauchender Vorwurf, daß Mediation ein Mittel sei, mit dem mächtige Akteure Proteste noch vor ihrem Entstehen auffangen wollen, indem Betroffene von der Notwendigkeit des Einsatzes der entsprechenden Technologie überzeugt werden. Durch eine Einbindung sei eine Identifikation mit der neuen Situation leichter zu erreichen und Widerstand im vorhinein vermeidbar. Es handle sich, so diese Position der Kritik, um Widerstand zu verunmöglichen und zu neutralisieren.

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