Christian Fuchs - Technik als das Ende der Politik bei Helmut Schelsky
Ähnlich wie Bloch meint Helmut Schelsky, daß Gehlens Ansatz veraltet sei, da die moderne Technik nicht mehr als Organersatz beschreibbar sei (Schelsky, 1965, S. 442).
Schelsky vertritt die Ansicht, daß in der Moderne die
Herrschaft von Menschen über Menschen unbedeutend wird. An ihre Stelle
treten für Schelsky die technischen Sachzwänge:
"Wir behaupten nun, daß durch die Konstruktion der
wissenschaftlichen-technischen Zvilisation ein neues Grundverhältnis von
Mensch zu Mensch geschaffen wird, in welchem das Herrschaftsverhältnis
seine alte persönliche Beziehung der Macht von Personen über Personen
verliert, an die Stelle der politischen Normen und Gesetze aber
Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation treten, die
nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder
Weltanschauungen nicht verstehbar sind. Damit verliert auch die Idee der
Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz: an die Stelle des politischen
Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und
Arbeit selbst produziert" (Schelsky, 1965, S. 453).
Die Hochleistungstechnik (z.B. Rüstungsindustrie, Atomindustrie, Raumfahrtindustrie), so Schelsky, werde immer mehr zu einer Angelegenheit des Staates. Aus dem Staat werde dadurch ein "technischer Staat". Nicht mehr die Demokratie oder die Politik bestimme die Richtung, in die der Staat geht, sondern die Sachzwanglogik und Sachgesetzlichkeit der Technik. Der technische Staat habe der Demokratie den Boden entzogen, die Öffentlichkeit sei manipuliert und manipulierbar. Mit dem technischen Fortschritt schwinde also der Spielraum der Politik im Staat. Die Politik sei nur mehr da notwendig, wo das technische Wissen noch unperfekt sei.
In der Moderne, so Schelsky, bestimmt die Eigendynamik der Technik das Geschehen, nicht der Wille der Herrschenden. Es gäbe auch, wie vermutet werden könnte, keine Herrschaft der Techniker und Spezialisten: "Hier ‘herrscht’ gar niemand mehr, sondern hier läuft eine Apparatur, die sachgemäß bedient sein will. Gerade weil es keine ‘Herrschaft der Techniker’ gibt, können die alten ‘Herrschenden’ ruhig bleiben, wo sie sind, und werden durch keine neue herrschende Klasse ersetzt. Der technische Staat beseitigt das traditionale Verhältnis der ‘Herrschaft’ selbst" (Schelsky, 1965, S. 457).
Es könne aber auch nicht von einer Herrschaft der Technik gesprochen werden, da die Technik nichts anderes sei als der "Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst [...] Der Mensch ist den Zwängen unterworfen, die er selbst als seine Welt und sein Wesen produziert" (Schelsky 1965, S. 450).
Das Ende der Herrschaft der Menschen bedeute, daß Kontrolle und Befehl als Mittel der Disziplinierung im Industriebetrieb immer unbedeutender werden würden, da "die Ratio der Apparate und Maschinen dem Arbeiter immer einsehbarer wird und als technischer Leistungsanspruch unmittelbar sozial von ihm gedeutet werden kann" .
Technik und ihre Auswirkungen seien also durch den Menschen quasi nicht überdenkbar und auch nicht manipulierbar, da der Mensch den technischen Sachzwängen hilflos unterworfen sei.
Die Technik, so Schelsky, weite sich immer mehr auf ehemals nichttechnische Gebiete aus. Neue Techniken, die so entstanden seien, seien die "Technik der Organisation", die "Methode der Beherrschung und Erzeugung der sozialen Beziehungen" (betrieben durch Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaft), und die Psychotechnik der "Veränderung, Beherrschung und Erzeugung des seelischen und geistigen Innenlebens der Menschen" (betrieben durch Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik, Publizistik) (Schelsky, 1965, S. 444). Technik sei also auch Sozialtechnik.
Das Charakteristikum und Neue der Technik in der Moderne sei, daß sie Dinge zerlege und mit höchster Wirksamkeit neu zusammensetze. Dadurch werde die Welt zu einer Konstruktion.
Auch Schelskys Technikbegriff ist technikpessimistisch und technikdeterministisch: Er entwirft ein Negativszenario, in der die Gesellschaft weitgehend durch die Eigendynamik der Technik bestimmt wird. Er betont nur die Wirkungen der Technik auf die Gesellschaft, die Gestaltung von Technologien durch den Menschen, also das Setzen der sozialen Rahmenbedingungen ihrer Anwendungen, erscheint ihm in der Moderne unmöglich. Die technische Logik verunmögliche ein selbständiges politisches Handeln der Menschen, die Sachgesetze der Technik würden die Menschen beherrschen und manipulieren. Im Gegensatz zu Marx, der so interpretiert werden kann, daß Technik im Kapitalismus ein Mittel zur Herrschaft der Kapitalisten über die Lohnarbeitenden ist, sieht Schelsky in der Moderne keine menschliche Herrschaft mehr, sondern nur eine der Sachgesetzlichkeit der Maschinen.
Gehlen, Freyer und Schelsky sprechen der Technik jede Möglichkeit zu einem Einsatz mit positiven Auswirkungen ab. Derartige Utopien verweisen sie ins Reich nicht zu haltender Träume. Sie betonen einzig die Wirkung von Technik auf Gesellschaft, Technik bestimme prinzipiell das Bewußtsein der Menschen im negativen Sinn: Gehlen spricht von der "Entsinnlichung", Freyer geht davon aus, daß Technik die Persönlichkeit ("Personalität") des Menschen einschränkt und Schelsky meint, daß die technischen Sachgesetzlichkeiten die Menschen manipulieren und das Ende der Politik bedeuten.
Von marxistischer Seite wird sogenannten "bürgerlichen" Denkern wie Gehlen, Freyer, Schelsky oder Oswald Spengler (der betonte, daß der Mensch in der Moderne zum "Sklaven der Maschine" werde, siehe Spengler, 1931, S. 75) vorgeworfen, daß die Dämonisierung der Technik eine ideologische Funktion erfülle: Die sozialen Probleme, deren eigentliche Ursache der Kapitalismus sei, würden der Technik selbst angelastet, um von den tatsächlichen Ursachen abzulenken. Wir werden sehen, daß marxistische Denker wie Herbert Marcuse, Otto Ullrich oder Ernst Bloch diesem "bürgerlichen" Technikbegriff und Technikfetischismus eine Auffassung der Technik entgegensetzen, die einerseits im Sinne von Marx Gesellschaftsprobleme, die in einem Zusammenhang mit Technik stehen, aus der kapitalistischen Anwendung der Technik erklärt und die andererseits die Realisierung von gesellschaftlichen Utopien, die als Freiheit von Herrschaft und Zwang begriffen werden, mit der Hilfe von Technologien in Betracht zieht, ohne in einen unkritischen Fortschrittsoptimismus zu verfallen.