Christian Fuchs - Technische Utopien bei Herbert Marcuse
Die Eindimensionalität der fortgeschrittenen Industriegesellschaft
Der marxistische Philosoph Herbert Marcuse (Marcuse, 1967) argumentiert, daß die Unterbindung sozialen Wandels durch eine durch Technik vermittelte politische und geistige Gleichschaltung der Menschen für die fortgeschrittene Industriegesellschaft charakteristisch sei. Ziel dabei sei, sozialen Protest zu unterbinden. Die Individualität der Menschen werde unterdrückt. Diese Gleichschaltung sei immer weniger mit direkter Gewalt und Zwang verbunden, sondern eine ökonomisch-technische. Andererseits geht Marcuse aber davon aus, daß es durchwegs Kräfte gibt, die "die Gesellschaft sprengen können" (Marcuse, 1967, S. 17).
Diese eindimensionale Welt sei das Gegenteil von einer freien, da eine solche eine Freiheit von ökonomischer und politischer Kontrolle umfassen müßte. Erst dann wäre die Wiederherstellung eines individuellen Denkens möglich. Freiheit im Sinn der freien Auswahl aus einem breiten Spektrum aus Waren und Dienstleistungen bedeute keine Freiheit, wenn diese Waren die soziale Kontrolle aufrechterhalten.
Die Menschen würden sich in den Waren wiedererkennen, sie würden für ihr Auto, ihren Hi-Fi-Empfänger oder ihr Küchengerät leben (Marcuse, 1967, S. 29). Durch die Manipulation des Geistes mit Hilfe der Technik, der Massenmedien und der Waren entsteht, so Marcuse, ein eindimensionales Denken und Verhalten:
"So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universum herabgesetzt werden" (Marcuse, 1967, S. 32).
Die "höhere Kultur" (Oper, Konzert, Theater), so Marcuse, enthalte oppositionelle Elemente. Sie sei "die große Weigerung - der Protest gegen das, was ist" (Marcuse, 1867, S. 83). Die gegenwärtige Gesellschaft versuche diese Elemente zu beseitigen. Dies bezeichnet er als Entsublimierung (Marcuse, 1867, S. 76). Die Massenkommunikationsmittel würden die Transformation der Kultur zur Ware beschleunigen. Was zähle, sei die Verkaufstüchtigkeit und der Tauschwert. Die Popularisierung der hohen Kultur setze deren Möglichkeit zur Opposition durch die Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes außer Kraft.
Marcuse hat prinzipiell nichts gegen die massenhafte Verbreitung von Kultur über Kanäle wie Fernsehen, Kino oder Radio einzuwenden, er betont jedoch, daß diese "Kulturmaschine" eine ideologische Funktion im Kapitalismus erfülle: "Es ist gut, daß heute fast jeder die schönen Künste in den Fingerspitzen haben kann, indem er einfach an einem Knopf seines Radios dreht oder ins nächste Kaufhaus geht. Bei dieser Verbreitung werden sie jedoch zu Zahnrädern einer Kulturmaschine, die ihren Inhalt ummodelt" (Marcuse, 1867, S. 85).
Ähnlich wie Adorno argumentiert also Marcuse, daß die Kulturindustrie die Menschen manipuliere, ihr Bewußtsein einschränke und sie ohnmächtig hält. Sie schränke das Denken der Menschen in dem Sinn ein, daß die Spannung zwischen Ersehntem und Erlaubtem verloren gehe. Das Ersehnte sei das Erlaubte, also der Konsum kulturindustriell aufbereiteter Waren. Das Bedürfnis nach Sublimierung werde so verringert, das kritische und oppositionelle Denken außer Kraft gesetzt. Der Mensch werde darauf präpariert, das Gebotene passiv hinzunehmen. Sublimierung könne das wahre Bewußtsein und das Bedürfnis nach Befreiung erhalten. Was den Menschen durch die Kulturindustrie präsentiert werde, sei zwar manchmal wild, obszön, deftig, unmoralisch und männlich und genau deshalb harmlos.
Auch die Sprache sei im Spätkapitalismus eindimensional. Attribute wie "Freiheit", "Gleichheit" und "Demokratie" würden z.B. zur Charakterisierung des Kapitalismus herangezogen (freie Wirtschaft, Initiative, Wahlen, usw.). Das täusche jedoch über die Tatsachen hinweg, daß die herrschende Art der Freiheit Knechtschaft und die herrschende Art der Gleichheit Ungleichheit bedeute (Marcuse, 1867, S.107f). Das Neue sei, daß die öffentliche und private Meinung diese Manipulationen allgemein akzeptiere. Sprache und Kommunikation immunisiere sich zunehmend gegen den Ausdruck von Protest und Weigerung. Die Reklame bediene sich der Technik der Belegung von Waren mit Bedeutungen und Images, um die Güter zu verkaufen. Gefragt sei also nicht kritisches Denken der potentiellen KonsumentInnen, sondern die stupide, reflexartige Reaktion der Objekte der Reklame. Die Werbung bediene sich einer widersprüchlichen, manipulierenden Sprache, sie schafft neue Wortkreationen, die Waren lobpreisen, eben um jene an den Mann bzw. die Frau zu bringen.
Die Herrschaft stelle das Grausame als völlig normal hin. So würden z.B. Werbungen des Civil Defense Headquarters für einen "erstklassigen Bunker gegen atomaren Niederschlag", ausgestattet mit allem Luxus (Fernsehen, Brettspiele, Klubsesseln, usw.) und "entworfen als kombiniertes Zimmer für die Familie in Friedenszeiten und als Familienbunker gegen Atomniederschläge", als völlig normal betrachtet werden. Ziel dabei sei es, daß das Grausame als selbstverständlich hingenommen und nicht in Frage gestellt wird (Marcuse, 1867, S. 259).
Die heutige Sprache sei eine eindimensionale, eine, die ein Vehikel der Gleichschaltung darstelle und unkritisch sei. Gegenpol dazu sei eine dialektische Sprache, die die Widersprüche benennt. Marx spreche z.B. im Kommunistischen Manifest vom Proletariat, dem die Attribute der totalen Unterdrückung und der totalen Aufhebung der Unterdrückung zukämen (Marcuse, 1867, S.119).
Die philosophische Sprache müsse sich von der Alltagssprache abheben, da diese die herrschenden "Male spezifischer Arten von Herrschaft, Organisation und Manipulation" (Marcuse, 1867, S. 207) in sich trage.
Die Sprache der Menschen kann für Marcuse nicht für bare Münze genommen werden, da ihr Universum des Denkens eines manipulierter Widersprüche sei. Die Sprache der Objekte der manipulierten Menschen sei nicht deren eigene, sondern jene ihrer Beherrscher: "Indem sie ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre eigene Erkenntnis, ihre Gefühle und Bestrebungen, sondern auch etwas anderes als sich selbst" (Marcuse, 1867, S. 208).
Wahres und falsches Bewußtsein
Die Menschen würden im Kapitalismus dazu gebracht, die Gesellschaft hinzunehmen. Dies bedeute ein falsches Bewußtsein, das aber in ein wahres umgewandelt werden könne. Die falschen Bedürfnisse, so Marcuse, sind jene, die den Menschen von gesellschaftlichen Mächten auferlegt werden, die an ihrer Unterdrückung interessiert sind. Es handle sich daher auch um repressive Bedürfnisse.
"Die meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen, zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher Bedürfnisse" (Marcuse, 1967, S. 25)
Solange die Menschen manipuliert werden und kein eigenes autonomes Bewußtsein haben, können sie, so Marcuse, kann ihre Antwort auf die Frage, was wahre und falsche Bedürfnisse sind, nicht als ihre eigene verstanden werden.
Die von der Gesellschaft ausgeübte Kontrolle werden im Bewußten sein Menschen reproduziert. Dies bezeichnet Marcuse als "Introjektion" (Marcuse, 1967, S. 30). "Das Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimesis: eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem Ganzen" (ebd.).
Mit der These der Introjektion steht Marcuse der marxistischen Widerspiegelungstheorie nahe: Die marxistische Epistemologie betont den Widerspiegelungscharakter der Erkenntnis: Erkenntnis wird als ein Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, denen der Mensch als Objekt ausgesetzt ist, aufgefaßt. Sozialisierung und die Möglichkeit, daß Menschen Meinungen, Ideologien und Weltbilder aufgezwungen werden, spielen dabei eine wichtige Rolle. Widerspiegelung hat in der marxistischen Philosophie im wesentlichen drei Bedeutungsebenen: W. als Abbild von Wechselwirkungen auf die Materie, als Übereinstimmung von Bewußtsein mit realen Sachverhalten und im DIAMAT als die Abhängigkeit des gesellschaftlichen Überbaus von der ökonomischen Basis in Form der Produktionsverhältnisse (Vgl. Sandkühler, 1990, Band 4, S. 825f).
Das, was die Menschen tun und sagen, gehört Marcuses Ansicht nach nicht ihnen selbst an, da ihr Geist von der Gesellschaft manipuliert werde.
Zum Begriff der "Wahrheit" meint er, daß ein alternativer Gesellschaftsentwurf dann wahr ist, wenn er mit den realen Möglichkeiten übereinstimmt, die die bestehende Gesellschaft als Basis bietet und wenn er die bestehende Totalität als falsch erweisen kann, indem er die Aussicht bietet, die Errungenschaften der Zivilisation zu erhalten und zu verbessern, das Wesen der bestehenden Gesellschaft erfaßt und der Verwirklichung einer Befriedung des Daseins größere Chancen bietet (Marcuse, 1967, S. 232). Marcuse bezeichnet diesen Wahrheitsbegriff auch als "historische Rationalität". Der Faschismus bleibe immer falsch, die Marxsche Theorie sei wahr.
Marcuse geht keineswegs davon aus, daß das Bewußtsein durch die Gesellschaft unwiderruflich in seiner Falschheit bestimmt wird. Er betont immer wieder, daß die Möglichkeit besteht, daß Menschen ein Bewußtsein entwickeln, das die Schranken durchbricht, das die bestehende Gesellschaft dem Denken auferlegen will. Eine Transzendenz der bestehenden Bedingungen sei durchwegs möglich. Dazu müßten die Menschen jedoch ihrer selbst bewußt werden. Dieses Bewußtsein sei Voraussetzung und Element einer den Kapitalismus negierenden Praxis.
Marcuse ist nicht optimistisch hinsichtlich der Entwicklung eines wahren Bewußtseins der Massen. Nichtsdestotrotz sei dies möglich. Die traditionellen Formen des Protestes würden immer unwirksamer, notwendig sei die "absolute Weigerung", die den Beginn des Endes des Kapitalismus bedeuten könne. Die kritische Theorie der Gesellschaft könne nichts versprechen und keinen Erfolg garantieren, daher bleibe sie bei der Negierung der bestehenden Verhältnisse. Damit wolle sie jenen die Treue halten, die sich der Großen Weigerung hingeben (Marcuse, 1867, S. 266ff).
Die Aufgabe der Technik im Kapitalismus sei es, neue Formen sozialer Kontrolle zu etablieren. Diese Kontrollen hätten eine totalitäre Tendenz. Daher könne keine Neutralität der Technik behauptet werden. Die Massenmedien, der Rundfunk und das Fernsehen hätten im Kapitalismus eine bewußtseinsprägende Rolle der Manipulation. Im Kapitalismus ist also Technologie für Marcuse eine Form sozialer Kontrolle und Herrschaft.
"In der gegenwärtigen Lage herrschen die negativen Züge der Automation vor: Antreiberei, technologische Arbeitslosigkeit, Stärkung der Position der Betriebsführung, zunehmende Ohnmacht und Resignation auf seiten der Arbeiter. Die Aufstiegschancen nehmen ab, da die Betriebsführung Ingenieure und Hochschulabsolventen vorzieht" (Marcuse, 1967, S. 50).
Die Produktionstechnik des Kapitalismus verändere das Bewußtsein der Arbeitenden auch in folgendem Sinn: Die Fixierung der Arbeit auf automatische und halbautomatische Reaktionen sei eine "anstrengende, abstumpfende, unmenschliche Sklaverei" (Marcuse, 1967, S. 45).
Marcuse beschreibt auch bereits eine Tendenz dazu, daß in einigen Betrieben die Arbeitenden ein ernsthaftes Interesse am Betrieb zeigen. 30 Jahre später ist diese "Mitbeteiligung der Arbeiter" unter dem Stichwort "partizipatives Management" einer der bedeutendsten aktuellen Bestandteile der Managementtheorie und neuer Strategien der Unternehmensführung.
Durch die Automatisierung, so Marcuse, werde immer weniger lebendige Arbeitskraft notwendig, die sich in tote Arbeit (in Form der Vergegenständlichung in der Ware) verwandelt. Dies bedeute eine tendenzielle Aufhebung des Wertgesetzes und der Marxschen Begriffe des Mehrwerts und der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Damit ist gemeint, daß, wenn die industrielle Arbeit immer weniger wird, die klassischen Kategorien, mit denen sie in der Theorie beschrieben wurde, ebenfalls immer weniger anwendbar werden.
Einerseits zeige sich im Kapitalismus eine Tendenz der Aufhebung der Arbeit, andererseits aber solle die Arbeit als Profitquelle erhalten bleiben. Aus diesem Widerspruch entstünden Probleme wie technologisch bedingte Arbeitslosigkeit und Armut.
Technik sei nicht, so wie von Max Weber und Arnold Gehlen angenommen, wertfrei. In der kapitalistischen Gesellschaft, die totalitäre Züge angenommen habe, könne Technik nicht von ihrem Gebrauch abgelöst werden. Die technologische Gesellschaft sei ein Herrschaftssystem, dieses sei bereits bei der Konstruktion der Techniken wirksam (Marcuse, 1967, S. 18).
An manchen Stellen kann bei Marcuse der Eindruck entstehen, daß er die Technik in technikdeterministischer Manier selbst als Herrschaft betrachtet und nicht ausreichend berücksichtigt, daß die kapitalistische Herrschaft als eine personale Herrschaft betrachtet werden kann, in der die Technik Mittel zur Ausübung von Herrschaft ist:
"Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über den Menschen)" (Marcuse, 1965, S. 179).
Solche Stellen sind aber nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Im Allgemeinen geht Marcuse davon aus, daß Technik ein dialektischer Begriff ist in dem Sinn, daß sie, abhängig von ihrer Einbettung in die Gesellschaft und der Gestaltung der Rahmenbedingungen des Einsatzes, durchwegs unterschiedlich verwendet werden kann. Wegen solchen vereinzelten Passagen wurde Marcuse aber immer wieder in dieselbe Reihe mit Technikdeterministen wie Schelsky, Gehlen und Freyer gestellt. Die manchmal widersprüchlichen Aussagen Marcuses ermöglichten es Kritikern, ihn falsch zu interpretieren, und ihn als "bürgerlichen" Denker hinzustellen. Tatsächlich ist Marcuses Technikbegriff aber als ein dialektischer betrachtet werden.
Wenn Marcuse meint, die Herrschaft sei eine Technologie (Marcuse, 1967, S. 173), so ist dies nicht technikdeterministisch in dem Sinn zu verstehen, daß die Technik selbst Herrschaft bedeute, sondern so, daß neben der Herrschaftsausübung mittels Technik im Kapitalismus noch zu beachten ist, daß die Ausübung von Herrschaft selbst als eine spezielle Form des allgemeinen Begriffes Technik verstanden werden kann: als Sozialtechnologie.
Marcuses Ablehnung des Technikdeterminismus wird auch in folgendem Zitat deutlich: "Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist" (Marcuse, 1967, S. 18).
Marcuse hat einen dialektischen Technikbegriff: Er geht zwar davon aus, daß die Technik im Kapitalismus so verwendet wird, daß sie ein Mittel ist, um die Menschen gleichzuschalten und ohnmächtig zu halten. Ein freiheitlicher Gebrauch der Technik scheint ihm unter diesen Umständen nicht möglich. Unter postkapitalistischen Verhältnissen, so Marcuse, kann Technik so eingesetzt werden, daß sie die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die durch den Menschen zu verrichten ist, auf ein Minimum reduziert und ihm ein höchstes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung garantiert. Der Einsatz von Technik bedeute dann nicht Gleichschaltung, Manipulation und Ende der Individualität, sondern die Möglichkeit eines Wohlstandes für alle, eines "Daseins in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse" (Marcuse, 1867, S. 242).
"Die technologischen Prozesse der Mechanisierung und Standardisierung könnten individuelle Energie für ein noch unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit freigeben. [...] das Individuum würde von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben, das sein eigenes wäre" (Marcuse, 1967, S. 22).
"Vollständige Automation im Reich der Notwendigkeit würde die Dimension freier Zeit als diejenige eröffnen, in der das private und gesellschaftliche Dasein sich ausbilden würde. Das wäre die geschichtliche Transzendenz zu einer neuen Zivilisation" (Marcuse, 1967, S. 57).
Der eigentliche Zweck der Technik, der aber im Kapitalismus nicht realisierbar sei, ist für Marcuse die Ermöglichung eines "befriedeten Daseins", das einen Sieg über den Mangel herstelle. Dieses würde auch qualitativ andere Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur eröffnen (Marcuse, 1967, S. 246). Die technische Unterwerfung der Natur sei bisher einhergegangen mit einer Zunahme der Herrschaft des Menschen über den Menschen (Marcuse, 1867, S. 264).
Die geschichtliche Alternative sei "die geplante Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, die Befriedung des Kampfes ums Dasein".
Die moderne Technik sei so weit entwickelt, daß sie einen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig mache. Dann sei eine "Aufhebung der Arbeit" durch Automatisierung möglich:
"Die fortgeschrittene Industriegesellschaft nähert sich dem Stadium, wo weiterer Fortschritt den radikalen Umsturz der herrschenden Richtung und Organisation des Fortschritts erfordern würde. Dieses Stadium wäre erreicht, wenn die materielle Produktion (einschließlich der notwendigen Dienstleistungen) dermaßen automatisiert wird, daß alle Lebensbedürfnisse befriedigt werden und sich die notwendige Arbeitszeit zu einem Bruchteil der Gesamtzeit verringert. Von diesem Punkt an würde der technische Fortschritt das Reich der Notwendigkeit transzendieren, in dem er als Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument diente, was wiederum seine Rationalität eingeschränkt hat; die Technik würde dem freien Spiel der Anlagen im Kampf um die Befriedigung von Natur und Gesellschaft unterworfen" (Marcuse, 1967, S. 36).
Auch in diesem Zitat wird Marcuses dialektischer Technikbegriff verdeutlicht: Im Kapitalismus sei Technik ein Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument, in einer freien Gesellschaft Möglichkeit zur Reduktion der Arbeitszeit aller.
Die Automation sei jedoch mit der "auf der privaten Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft im Produktionsprozeß" (Marcuse, 1867, S. 55) beruhenden Gesellschaft nicht vereinbar. Im Kapitalismus sei ihre Anwendung also widersprüchlich und produziere gesellschaftliche Probleme.
Im Marxismus wurde oftmals die Ansicht geäußert, daß die Technik in unveränderter Weise einfach aus dem Kapitalismus in den Sozialismus übernommen werden könnte. Marcuse vertritt jedoch die Ansicht, daß sich eine qualitative Änderung der Gesellschaft nicht nur in Ökonomie und Politik einstellen müsse, sondern daß auch die "technische Basis" umgeformt werden müsse. Weder Verstaatlichung noch Sozialisierung ändere von sich aus die Rationalität, die der Technik zu Grunde liege. Eine neue Richtung des technischen Fortschritts sei nötig, nicht eine quantitative Fortentwicklung der herrschenden technologischen und wissenschaftlichen Rationalität, sondern deren radikale Umwandlung (Marcuse, 1867, S. 239)
Wenn sich die Arbeiterklasse selbst durch eine Revolution befreit, so Marcuse, dann sei eine Gesellschaft möglich, in der ein Übergang vom Prinzip "Jedem nach seiner Arbeit" zu "Jedem nach seinen Bedürfnissen" stattfindet (Marcuse, 1867, S. 61f). Dabei argumentiert Marcuse wie Marx, daß in einer ersten Phase die neue Gesellschaft noch mit den Muttermalen der alten behaftet sein würde, also der Zwang zur Entäußerung in der Lohnarbeit noch nicht vollständig aufgehoben wäre. Erst nach einer Aufbauphase sei in einer zweiten Phase ein "Reich der Freiheit" zu erreichen. Erst dann würde die quantitative Änderung (weniger Lohnarbeit, weniger Herrschaft, usw.) in eine qualitative umschlagen (keine Lohnarbeit, keine Herrschaft, usw.). Im "Reich der Freiheit" sei die Verteilung lebenswichtiger Güter ohne Rücksicht auf Arbeitsleistung und die Reduktion der Arbeitszeit auf ein Minimum möglich (Marcuse, 1867, S. 64).
Die bestehende Technik, so Marcuse, sei ein Instrument destruktiver Politik, daher müßte eine qualitative Veränderung der Politik mit der Änderung der Richtung des technischen Fortschritts einhergehen. Die Politik müßte eine neue Technik entwickeln (Marcuse, 1867, S. 238). Die Technik müßte aber nicht vollständig erneuert werden, da sie auch schon heute Bedürfnisbefriedigung und die Verringerung harter Arbeit ermögliche (ebd., S. 242f). Ein Umbau der Technik sei daher notwendig.
Bei Gehlen, Freyer und Schelsky erscheint Technik als eine Herrschaft der Sachzwänge und der technischen Logik über die Menschen. Marcuse setzt diesen Ansichten eine Gegenthese entgegen: Die Technik ist Herrschaftsmittel der herrschenden Klasse, sie ist ein Mittel zur Manipulation des Bewußtseins, zur Herstellung falscher Bedürfnisse und der Eindimensionalität des Denkens sowie Handelns.
Nach dieser These stellen die Ansichten Gehlen, Freyers und Schelsky Versuche dar, Herrschaftsverhältnisse zu entpersonalisieren und die Technik prinzipiell zu dämonisieren. Bei Marcuse ist hingegen die Herrschaft ein personalisiertes Verhältnis und die Technik unterstützendes Mittel zu ihrer Ausübung. Marcuses Technikbegriff ist weder technikpessimistisch, noch -optimistisch, da er davon ausgeht, daß die Auswirkungen der Technik von ihrer gesellschaftlichen Einbettung und den institutionellen Rahmenbedingungen abhängen. Im Kapitalismus bedeute Technik Manipulation und die Herstellung einer eindimensionalen Gesellschaft, im Sozialismus könne sie aber völlig anders angewendet werden, als ein Mittel zur Aufhebung der Arbeit, das ein "Daseins in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse", einen Sieg über den Mangen und ein "befriedigtes Sein" ermögliche. Marcuses Technikbegriff kann daher als dialektisch eingestuft werden. Wesentlich ist für ihn ein utopisches Denken und ein visionärer Einsatz von Technologien.
Es wurde bereits im Kapitel über Jürgen Habermas erwähnt, daß dieser genau diesen Punkt an Marcuse kritisiert: Die Gesellschaft sei nun einmal durch die Arbeit geprägt und daher sei es nicht einsehbar, warum die bestehende Technik durch eine qualitativ Neue ersetzt werden sollte. Habermas kritisiert weiters, daß solche Utopien konkrete alternative Entwürfe zum Bestehenden bieten müßten, um ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Marcuse liefere aber keine derartigen Entwürfe. Das Gegenargument zu Habermas lautete wiederum, daß dieser jede Hoffnung auf Alternativen aufgegeben habe und im Bestehenden verharre. Ein möglicher positiver Einsatz von Technik komme Habermas durch seinen Technikpessimismus gar nicht in den Sinn.