Christian Fuchs - Technik als Ideologie bei Jürgen Habermas

Die Absage an Utopien und einen anderen Einsatz der Technik

Jürgen Habermas (1968) folgt der Einschätzung Gehlens, daß die Technik Organe ergänze, verstärke und entlaste. Zuerst seien die Funktionen des Bewegungsapparates (Hände und Beine) verstärkt und ersetzt worden, dann die des menschlichen Körpers (Energieerzeugung), dann die des Sinnesapparates (Augen, Ohren, Haut) und schließlich die des Gehirns.

Die Gesellschaft sei nun einmal durch die Arbeit geprägt und daher sei es nicht einsehbar, warum die bestehende Technik durch eine qualitativ Neue ersetzt werden sollte. Damit kritisiert Habermas Marxisten wie Marcuse, die ein Bild einer Gesellschaft ohne Arbeit durch den Einsatz von Technik entwerfen. Habermas kritisiert weiters, daß solche Utopien konkrete alternative Entwürfe zum Bestehenden bieten müßten, um ernsthaft in Betracht gezogen zu werden.

Habermas meint, daß es keine ernsthaften Alternativen zu Technik und Wissenschaft in der bestehenden Form gibt. Ein anderer Umgang mit der Natur, wie ihn sich auch Bloch oder Marcuse wünschen, sei erst vorstellbar, wenn die Menschen zwanglos miteinander kommunizieren könnten. Wenn die Kommunikation herrschaftsfrei geworden sei. Die herrschaftsfreie Kommunikation der Menschen ermögliche eine brüderliche Kommunikation mit der Natur (Tiere und Pflanzen). An dieser Ansicht Habermas’ wurde kritisiert, daß sie anthropomorphistisch sei. Der Anthropomorphismus negiert die Qualitäten, die den Menschen von darunterliegenden Stufen der Evolution (Tiere, Pflanzen, Zellen, Teilchen usw.) unterscheiden und überträgt spezifisch menschliche und soziale Kategorien (wie bei Habermas Kommunikation) undifferenziert aus der Sozialwissenschaft in andere Wissenschaften (Biologie, Physik, Chemie, usw.). Ein Anthropomorphismus ist z.B., wenn behauptet wird, daß im Rahmen ihrer Wechselwirkungen Teilchen miteinander kommunizieren. Eine entsprechende Kritik an Habermas lautet z.B., daß es nicht um eine "Kommunikation" mit der Natur gehe, sondern um eine Veränderung der personalen Herrschaftsverhältnisse, was einen anderen Umgang mit der Natur erlauben würde:

"[Ein anderer Technikeinsatz] ist aber keine Frage der Kommunikation mit der Natur, sondern der Kommunikation untereinander, die - entsprechend verändert - dann eine andere Naturaneignung möglich machen könnte" (Zweck, 1993, S. 351).

Arbeit/System, Interaktion/Lebenswelt

Habermas unterscheidet zwischen Arbeit und Interaktion: Arbeit sei zweckrationales Handeln (im Sinn Max Webers), das definierte Ziele verwirkliche. Sie sei entweder instrumentales Handeln, rationale Wahl oder eine Kombination von beiden. Instrumentales Handeln wiederum beruhe auf technischen Regeln, die Prognosen über Ereignisse mit Hilfe von empirischem Wissen ermöglichen. Das Verhalten rationaler Wahl richte sich hingegen nach Strategien, die auf analytischem Wissen beruhen. Diese Strategien ermöglichen eine Angabe von Präferenzen und damit das Etablieren eines Wertsystems. Das strategische Handeln der rationalen Wahl hänge von einer korrekten Bewertung von Verhaltensalternativen ab, das instrumentale Handeln organisiere Mittel, um Ziele zu erreichen.

Dem Bereich der Arbeit steht der des kommunikativen Handelns, der Interaktion, gegenüber: Unter kommunikativem Handeln versteht Habermas eine symbolisch vermittelte Interaktion. Zwei handelnde Subjekte stehen sich dabei gegenüber und beziehen ihr Handeln wechselseitig durch Symbolgebrauch aufeinander. Ein Subjekt handelt, das andere reagiert darauf in Form einer Rückmeldung. Die Kommunikationssituation, so Habermas, richtet sich nach geltenden Normen, auf Grund derer jede Person sich ein bestimmtes Verhalten der anderen erwartet.

Daran schließt Habermas eine Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System an: der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft sei die soziokulturelle Lebenswelt. Darin eingebettet seien die Sub-Systeme zweckrationalen Handelns.

Die Arbeit, das zweckrationale, strategische, instrumentale Handeln, ordnet Habermas den Systemen zu. Die Interaktion und das kommunikative Handeln hingegen der Lebenswelt. Es ergibt sich also folgendes Bild:

System               

zweckrational                          

Arbeit              

strategisches, instrumentales Handeln

Lebenswelt

institutionell

Interaktion

kommunikatives Handeln

Systeme sind für Habermas z.B. Wirtschaft und Staat. Auch in den Systemen finde Interaktion statt, aber es handle sich immer um zweckrationale Interaktion.

In der Moderne (die industrielle, waren- und geldförmige, auf Lohnarbeit, Fortschritt, Wert, Kapital und sozialstaatlicher Bürokratie basierende kapitalistische Gesellschaft) komme es zu einer Ausdehnung der Sub-Systeme zweckrationalen Handelns. Der Charakter der Politik verändere sich in dem Sinn, daß er darauf orientiert sei, Risiken, die die Ökonomie gefährden könnten, zu vermeiden. Politik ist also für Habermas nicht mehr ein Mittel, um Interessen durchzusetzen, sondern eines zur Lösung rein technischer Fragen. Eine Beteiligung der Öffentlichkeit wirke bei solchen Lösungen störend, daher würden Wissenschaft und Technik als Ideologien eingesetzt: Sie sollen den Menschen plausibel machen, daß die Institutionen politischer Herrschaft durch die Technik entpolitisiert werden und daß daher eine Beteiligung der Öffentlichkeit bei zu lösenden Fragen nicht möglich und wünschenswert sei. Öffentlichkeit bedeutet für Habermas ein Forum für herrschaftsfreie Kommunikation, sie gilt ihm als ein Ideal rationaler Kommunikation.

All dies stelle eine Technisierung der Kommunikation in dem Sinn dar, daß das zweckrationale Handeln der Subsysteme auf die Lebenswelt ausgeweitet wird. Durch das Wirken der Technik als Ideologie erfahren die Menschen ständig, sie seien nicht autonom und könnten ihr Leben nicht selbst bestimmen. Sie werden von den technischen Apparaten und deren Herren abhängig. Die Technisierung der Kommunikation bedeute u.a., daß die Kommunikation den Gesetzen des Marktes unterworfen wird (z.B.: Kommunikation wird zur Ware und kostet etwas).

Die technische Logik, so Habermas, hat die Sub-Systeme längst durchdrungen. In der Lebenswelt sei eine kommunikative Rationalität (diese stellt Habermas der Zweckrationalität der Sub-Systeme gegenüber) möglich, indem ein herrschaftsfreier Dialog durch kommunikatives Handeln realisiert wird. Dies bedeute wiederum eine Entschränkung der Kommunikation. Nur so sei eine Rettung der Politik möglich und der Willensbildungsprozeß erneut politisierbar.

Herrschaftsfreie Kommunikation sieht Habermas dann realisiert, wenn vier Geltungsansprüche der Kommunikation erfüllt sind: die Verständlichkeit, die Wahrheit (die tatsachentreue Darstellung), die Wahrhaftigkeit (gibt an, ob eine Aussage der Intention entspricht) und die Richtigkeit (der normative Kontext). Gérard Raulet (siehe Raulet, 1988, S. 296ff) betont, daß durch die codierte Kommunikation in Form der Schaltung eines technischen Mediums zwischen die Kommunizierenden der Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit und der Richtigkeit verlorengehen. Es gibt nicht codierbare Metanachrichten wie den Kontext der Kommunikation oder parasprachliche Ausdrücke. Es zeigt sich, daß durch vernetzte Kommunikation das Normative hinter das Expressive und das Kognitive zurücktritt. Ein gutes Beispiel dafür sind Chats, bei denen die Anonymität die Hemmschwellen der TeilnehmerInnen oftmals senkt. Allgemeine Normen des Umgangs treten zurück, an ihre Stelle tritt der bewußte Normenbruch.

Eine häufig gehörte Kritik an Habermas Konzept des herrschaftsfreien Dialogs ist, daß sich eine Herrschaftsfreiheit der Kommunikation nur in einer Gesellschaft möglich sei, die ohne Existenz von Herrschaft auskommt. Kommunikation sei nicht unabhängig von der Existenz ökonomischer Herrschaft, daher könne es eine herrschaftsfreie Kommunikation auch nur in einer klassenlosen Gesellschaft geben.

Die Entgrenzung von System und Lebenswelt

In der "Theorie des kommunikativen Handelns" (Habermas, 1981) betont Habermas (im Gegensatz zu Habermas, 1968) nicht mehr so stark die Rolle der Technik bei der Trennung von System und Lebenswelt, sondern jene der generalisierten Medien Geld und Macht:

Habermas geht von einer ursprünglichen Einheit von System und Lebenswelt aus. Ihre Entkopplung trete erst dann ein, wenn sich das Recht, also ein politisches Mittel der Sanktion, verselbständigt. Dies könne es in Form der staatlichen Organisation, die das Recht institutionalisiert. Erst mit dieser Institutionalisierung könne sich ein Markt, auf dem Waren getauscht werden, und damit das allgemeine Äquivalent des Tausches, das Geld, etablieren. Die Folge staatlicher Organisation und der Absonderung der Ökonomie sie die Entstehung sozioökonomischer Klassen. Diese haben, so Habermas, jeweils eigene Werte und daher bilden sich separierte Lebenswelten aus.

Durch die Einführung des generalisierten Mediums Geld in der Ökonomie werde kommunikative Verständigung überflüssig. Das Geld ersetze die Kommunikation, das ökonomische System werde von der Lebenswelt unabhängig. In einem zweiten Schritt trenne sich das Subsystem des Staates von der Lebenswelt: Das dabei wirksame Medium, das kommunikatives Handeln ersetze, sei die Macht. Die Beziehungen, so Habermas, wurden durch die Etablierung bürokratischer Verfahren versachlicht. Beide Mediatisierungen schufen für Habermas eine Entgrenzung von System und Lebenswelt.

Wenn das Handeln nicht mehr durch Kommunikation koordiniert wird, sondern durch generalisierte Medien wie Geld und Macht, so spricht Habermas von der Technisierung der Lebenswelt. Die Systeme wirken auf die Lebenswelt negativ ein und zerstören das kommunikative Handeln.

Wie bereits erwähnt hat Technik für Habermas eine ideologische Funktion. Sie solle den Menschen quasi vortäuschen, daß die politische Mitbestimmung durch Kommunikation längst überflüssig sei, da die politischen Institutionen entpolitisiert seien und keinerlei Lösungskompetenz mehr besitzen. Dabei wirken die Subsysteme auf die Lebenswelt zurück. Die Einwirkungen der Systeme auf die Lebenswelt, die für Habermas eine Unterbindung der politischen Mitbestimmung der Menschen bedeuten, müßten verborgen werden. Dabei falle der Technik eine ideologische Funktion zu.

Trotz dieser ideologischen Funktion der Technik sei aber die Entwicklung eines kritischen Potentials möglich, denn Habermas sieht wissenschaftliche Reputation und moralische Autorität als nicht mediatisierbar. Die Kommunikation sei in diesen Bereichen quasi nicht durch Medien ersetzbar, eine Trennung in System und Lebenswelt nur schwer zu erreichen. Daher könne sich in diesen Bereichen Öffentlichkeit herstellen, die ein kritisches Potential hat.

Die Subsysteme würden versuchen, Öffentlichkeit zu zerstören. Dies bezeichnet Habermas als Kolonialisierung. Jede Forderung nach Mitbestimmung würde mit dem Hinweis auf Verfahren verwiesen und abgewiesen. Für Habermas sind die Träger der Kolonialisierung die Expertenkulturen, die praktische Fragen in technische Spezialfragen umdefinieren.

Den Prozessen der Zerstörung von Öffentlichkeit, der Kolonialisierung und der Technisierung der Lebenswelt könnten nicht die Erwartung einer Revolution im Sinne von Marx entgegengesetzt werden. Für Habermas ist der Sozialismus keine Alternative, Kapitalismus und Massendemokratie seien die stabilsten Institutionen der Moderne.

Fazit

Habermas setzt nicht nur System und Lebenswelt entgegen, sondern treibt diese Dichotomisierung noch weiter: Er ordnet dem System die Technik zu und der Lebenswelt die Kommunikation. Die Technik sei quasi "böse", bewirke eine Entpolitisierung und zerstöre die Politik im Sinn der demokratischen Mitbestimmung, eine Rettung könne nur die "gute" herrschaftsfreie Kommunikation anbieten. Er lehnt einen dialektischen Technikbegriff im Sinn von Marx oder Marcuse ab. Jedes Sprechen über Alternativen und Utopien erledigt sich für ihn. Daher gibt es für ihn auch nur eine mögliche Verwendungsweise der Technik als Ideologie und Täuschungsmittel. Ein möglicher positiver Einsatz von Technik (unter welchen Bedingungen auch immer) kommt Habermas gar nicht in den Sinn, er ist ein radikaler Technikpessimist. Das kritisiert auch Otto Ullrich: Die "Frage aber, ob Technik notwendig einen ‘ausbeutenden’ Charakter haben muß, der im Kapitalismus und wohl nicht nur hier auch zur Ausbeutung der Menschen beiträgt, und ob deswegen eine andere Technik ohne diesen Charakter denkbar ist, wird von Habermas gar nicht aufgegriffen" (Ulrich, 1979, S. 391f).

Habermas betont, daß Technik Öffentlichkeit zerstöre und unterdrücke. Durch die Technisierung der Kommunikation und der Lebenswelt werde das kommunikative Handeln zerstört und durch die generalisierten Medien Macht und Geld ersetzt. Auch Habermas betont in technikdeterministischer Manier nur von ihm angenommene Auswirkungen der Technik auf die Gesellschaft, nicht jedoch den Aspekt der Technikgenese.

Eine weitere Kritik an Habermas lautet, daß er nicht wie Marx die Rolle der Technik als Produktionsmittel betone, sondern außer Acht lasse: "Produktionstechnik als das die Struktur bestimmende Medium kommt gar nicht in den Blick. Daher sind auch keine Alternativen denkbar: Marx hat sich [für Habermas; Anm. CF] schlicht geirrt. Weil sich Habermas der Perspektive einer anderen Technik verschließt, kann er nicht umhin, Weber als bestätigt anzusehen. Damit aber übernimmt er auch dessen Position des bedauernden Intellektuellen, der den Kampf darum, daß ‘alles ganz anders sein könnte’, aufgegeben hat" (Zweck, 1993, S. 373).

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