Christian Fuchs - Gesellschaft

Da die Techniksoziologie an der Untersuchung des Verhältnisses von Technik und Gesellschaft interessiert ist, sind für sie die Grundlagen der Soziologie eine wesentliche Voraussetzung. Die Auswirkungen der Anwendung von Computern auf Teile der Gesellschaft können beispielsweise nur dann sinnvoll untersucht werden, wenn die Untersuchenden eine klare Vorstellung haben, was Gesellschaft sein kann und wie sie funktioniert.

In der Soziologie gibt es keine einheitliche Vorstellung darüber, worum es sich bei dem Begriff "Gesellschaft" handelt. Genauso wie der Informationsbegriff in der Informatik umstritten ist, gibt es wissenschaftliche Diskurse und Dispute darüber, was Gesellschaft ist bzw. nicht ist. Daher gibt es unterschiedliche Schulen und theoretische Ansätze in der Soziologie.

Der britische Soziologe Anthony Giddens unterscheidet vier grundsätzliche Richtungen der Soziologie (siehe Giddens, 1999, S. 606-613).

1. Funktionalismus:

Dieser Ansatz ist insbesonders daran interessiert, wie die Institutionen und Teile der Gesellschaft funktionieren und wie sie durch ihr Zusammenwirken soziale Prozesse ermöglichen. Es soll also analysiert werden, welchen Beitrag das Objekt der Untersuchung zur Reproduktion der Gesellschaft als Ganzes leistet. Ein Vorläufer des Funktionalismus war Emile Durkheim, wesentlich geprägt wurde diese theoretische Schule von Talcott Parsons und Robert Merton. Merton war an der Analyse sogenannter "manifester" und "latenter" Funktionen interessiert. Mit manifesten Funktionen sind dabei beabsichtigte Folgen des Handelns sozialer Akteure gemeint, mit latenten Funktionen die nicht bewußten und intendierten Folgen.

Auch hier zeigt sich schon ganz deutlich der Bezug der Soziologie zur Technikfolgenabschätzung, denn auch dort kann unterschieden werden zwischen den absehbaren, d.h. erwarteten, und den nicht absehbaren Folgen der Anwendung einer Technologie. Technikentwicklung ist ein sozialer Prozeß, d.h. handelnde Akteure nehmen dabei kommunikativ aufeinander Bezug, um etwas herzustellen, das Bedürfnisse befriedigen soll oder Mittel zur Erreichung bestimmter Interessen ist. Daher gibt es auch bei der Technikentwicklung latente und manifeste Funktionen. Es ist z.B. fraglich, ob für die EntwicklerInnen der ersten Atomkraftwerke die Gefahr eines Supergaus absehbar war oder ob es sich dabei um eine latente Funktion der Entwicklung dieser Technologie handelt. Eine latente Funktion war hingegen eindeutig, daß das herrschende Interesse, Energie möglichst billig und effizient herzustellen, durch die Nutzung der Nukleartechnologie befriedigt werden sollte.

2. Strukturalismus:

Diese Richtung hat ihre Ursprünge in der Linguistik (Sprachwissenschaft). Wesentlich war dabei die Arbeit von Ferdinand de Saussure, der die Ansicht vertrat, daß die sprachlichen Strukturen nicht vorwiegend von den Worten, sondern von den grammatikalischen Regeln geprägt werden. Daher sei es von Bedeutung, die sprachlichen Strukturen zu analysieren, um der Sprache zugrundeliegende Regeln zu extrahieren. Im Zusammenhang mit dem Strukturalismus und der Linguistik steht die Semiotik (Lehre von den Zeichen), die sich für Symbole sowie deren Bedeutung und Wirkung interessiert.

Als Vorvater der Semiotik gilt Charles S. Peirce: Kennzeichnend für Zeichen ("Repräsentamen") sieht er eine triadische Beziehung von Repräsentamen - Objekt - Interpretant. Ein Repräsentamen ist fähig einen Interpretanten dahingehend zu bestimmen, daß dieses in derselben triadischen Relation steht, in der es selbst steht. Der Interpretant kann also an die Stelle des Repräsentamen treten und wiederum als Repräsentamen agierend einen weiteren Interpretanten bestimmen. Dies ist ein potentiell endloser Prozeß, der als Semiose bezeichnet wird. In der triadischen Struktur und im semiotischen Netz entsteht die Bedeutung eines Zeichens. Drei Relationen werden in Betracht gezogen: Repräsentamen - Repräsentamen, Repräsentamen - Objekt, Repräsentamen - Interpretant. Aufbauend darauf, daß jede Relation in einer von drei Arten vorliegen kann (potentiell, tatsächlich - d.h. in einem gewissen Augenblick - oder in Gesetzesform - d.h. auch in Zukunft), identifiziert Peirce zehn Typen von Zeichen.

C.W. Morris erarbeitete ein semiotisches Informationsmodell, bei dem er drei Zeichenebenen unterscheidet (vgl. Morris, 1972):

Information ist auch immer kontextabhängig, Zeichen (auch dieselben) können in unterschiedlichen technischen, sprachlichen, ästhetischen, sexuellen, kulturellen, ... Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben (vgl. Hartmann, 1998). Letztere sind auch immer von individuellen Auffassungen und Interpretationen abhängig.

In den 70ern erlangte der Strukturalismus innerhalb der marxistischen Theorie wesentliche Bedeutung. Prägend dabei war die Arbeit von Louis Althusser und Etienne Balibar. Es zeigt sich also hier, daß die von Giddens unterschiedenen vier Richtungen der Soziologie nicht überschneidungsfrei sind (da er den Marxismus als eigene Kategorie ansieht, siehe Punkt 4). Eine wesentliche Frage und ein oftmaliger Anlaß für innersoziologische Auseinandersetzungen ist die Frage nach dem Verhältnis von Struktur und Handeln. Es geht dabei darum, was stärker ist: Die Einschränkung des Handelns durch gesellschaftliche Strukturen oder die Veränderungen von sozialen Strukturen durch handelnde Subjekte. Der strukturalistische Marxismus hat diese Frage eindeutig zu Gunsten der Gesellschaftsstrukturen beantwortet.

Althusser sieht eine Struktur als eine Totalität (Gesamtheit) von Elementen. Gesellschaft unterteilt er in 3 autonome Niveaus, die jeweils eigene Widersprüche erzeugen: Politik, Ideologie und Theorie. Die Anhäufung verschiedenartiger Widersprüche in einer historischen Situation ("Überdeterminierung") führe zu einem Umbruch, dem Auftauchen eines neuen gesellschaftlichen Ganzen. Althusser geht davon aus, daß ein Widerspruch zum Hauptwiderspruch werden kann, der die anderen Widersprüche beherrscht, die dadurch zu Nebenwidersprüchen werden. Im Kapitalismus sei das Ökonomische bestimmend. Die von Marx beschriebenen ökonomischen Widersprüche seien die Hauptwidersprüche dieser Gesellschaftsformation. Die kapitalistische Logik und die dazugehörigen Strukturen (Klassenverhältnisse, Konkurrenz, Wert, Ware usw.) bestimmen demnach das Handeln der Menschen, das Ökonomische sei das in letzter Instanz Bestimmende der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung:

"Das also sind die beiden Enden der Kette: die ökonomische bestimmt, aber in letzter Instanz, auf lange Sicht sagt Engels gern, den Lauf der Geschichte" (Althusser, 1968, S. 80).

3. Symbolischer Interaktionismus:

Im Gegensatz zum Strukturalismus mißt diese soziologische Richtung in der Frage des Verhältnisses von Strukturen und Handeln dem Handeln größere Bedeutung bei. Betont wird insbesonders das kreative Handeln sozialer Akteure durch Symbole, die soziale Interaktionen ermöglichen. Unter sozialer Interaktion kann die wechselseitige Bezugnahme sozialer Akteure verstanden werden. D.h., daß ein Akteur sozial handelt und sich damit auf eine andere Person bezieht. Diese Person reagiert darauf in Form einer Rückmeldung (Antwort, Gesten, Mimik, usw.). Sprache, aber z.B. auch vernetzte Kommunikationstechnologien, ermöglichen als Medien soziale Interaktionen.

George Herbert Mead betonte die wesentliche Rolle, die Symbole beim sprachlich vermittelten Handeln spielen. Ein Symbol steht für etwas anderes. Ein Computer ist z.B. nicht nur Gebrauchsgegenstand, der behilflich ist, um diverse Probleme einfacher zu lösen, sondern er wird auch mit kulturellen Bedeutungen aufgeladen und ist daher auch Symbol. Ein einfaches Beispiel: Das Laptop mit Handy steht für einen besonders dynamischen, flexiblen Lebensstil. Insbesonders die Werbung bedient sich der Konstruktion und Zuschreibung von Bedeutungsinhalten.

Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, daß die soziale Interaktion von Menschen nur dadurch ermöglicht wird, daß sie Symbole austauschen. In der Interaktion seien insbesonders die Details von Bedeutung, da sie Auskunft über Hintergründe geben könnten. Das Achten auf Symbole ermögliche also quasi eine soziale Praxis der Dechiffrierung der Bedeutungsinhalte von Zeichen. Für den symbolischen Interaktionismus sind die mikrosoziologischen Verhältnisse und Zusammenhänge, also das soziale Handeln im Alltag und in Interaktionen, von wesentlicher Bedeutung. Die Makrosoziologie, also die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge z.B. in Ökonomie, Ideologie, Kultur oder Politik, spielen eine untergeordnete Rolle.

Wesentlichen Einfluß auf den symbolischen Interaktionismus übte die Handlungstheorie Max Webers aus. Beeinflußt vom symbolischen Interaktionismus war u.a. Jürgen Habermas, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Habermas geht davon aus, daß Menschen durch kommunikatives Handeln, bei dem gewisse Bedingungen/Geltungsbedingungen der Kommunikation erfüllt sind, einen herrschaftsfreien Dialog herstellen können.

4. Marxismus:

VertreterInnen dieser Richtung der Soziologie beziehen sich mit ihrer Arbeit auf Karl Marx, der die umfassendste und bedeutendste Analyse der kapitalistischen Gesellschaft verfaßt hat ("Das Kapital"). Die Marxsche Methode war die Dialektik, die von Widersprüchen ausgeht, die sich einerseits ausschließen, aber andererseits wechselseitig bedingen. Durch eine Synthese seien diese Antagonismen aufhebbar. Diese Aufhebung verstand Hegel, auf den sich Marx methodisch bezog, in einem dreifachen Sinn: bewahren, eliminieren und höher heben.

Marx ging davon aus, daß der Kapitalismus durch Widersprüche gekennzeichnet ist. Insbesonders der Widerspruch zwischen Kapitalisten und Arbeitenden sei charakteristisch für diese Epoche der Geschichte, da die Kapitalisten ihren materiellen Wohlstand und damit die Erhaltung des kapitalistischen Systems ("Reproduktion") nur durch die Ausbeutung der Lohnarbeitenden erhalten könnten. Marx sieht die kapitalistische Gesellschaft daher als Klassengesellschaft, die sich durch widersprüchliche Verhältnisse zwischen Herrschenden und Beherrschten sowie Ausbeutenden und Ausbeutern auszeichne. Ziel sei die Aufhebung dieser Widersprüche und die Synthese hin zu einer klassenlosen Gesellschaft durch das revolutionäre Subjekt des Proletariats.

Obwohl Giddens die Ansicht vertritt, daß der Marxismus "nicht als Ansatz innerhalb der Soziologie, sondern als parallel zur Soziologie existierendes Schrifttum" (Giddens, 1999, S. 613) betrachtet werden sollte, kann nichtsdestotrotz die Ansicht vertreten werden, daß der Marxismus eine eigenständige soziologische Richtung repräsentiert, da Karl Marx eine bedeutende und einflußreiche Analyse des Kapitalismus geschaffen hat, die auch noch heute das Denken vieler Soziologen prägt. Manche soziologische Arbeiten stehen heute noch immer in der Tradition der Werttheorie und der Klassenanalyse, obwohl viele Zeitgenossen nach dem Zusammenbruch der sogenannten "realsozialistischen" Systeme das Ende des marxistischen Denkens und den historischen Sieg des Kapitalismus ausriefen. Das "Ende der Geschichte" sei gekommen meinte beispielsweise Francis Fukuyama: der Kapitalismus habe sich endgültig als die bessere und einzig zulängliche Alternative erwiesen (Fukuyama, 1992).

Karl Marx hat insbesonders für die Techniksoziologie die Bedeutung, daß er sich nicht nur mit der Analyse der Gesellschaft beschäftigte, sondern sich auch damit auseinandersetzte, welche Rolle die Technik ("Maschinerie") als Produktionsmittel im Kapitalismus spielt.

Nach diesen einleitenden Worten, sollen nun einige Ansätze bedeutender Soziologen vorgestellt werden. Auch die folgende Diskussion zeigt, daß es in der Soziologie keinen einheitlichen Gesellschaftsbegriff gibt, sondern daß es unterschiedliche Vorstellungen gibt. Den Anfang macht Max Weber, einer der Begründer der Soziologie und einer ihrer wichtigsten Vertreter.

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