Christian Fuchs: Technik als Organersatz bei Arnold Gehlen
Organersatz, Organentlastung, Organverstärkung
Der Anthropologe Arnold Gehlen geht davon aus, daß der Mensch von Natur aus unperfekt ist, ein sogenanntes "Mängelwesen", "sinnesarm, waffenlos, nackt, in seinem gesamten Habitus embryonisch, in seinen Instinkten verunsichert" (Gehlen, 1958, S. 8).
Da der Mensch mit seinen Organen die Natur nicht bewältigen könne, benötige er die Technik, da er ansonsten nicht überleben könne. Der Mensch sei kein natürlich lebensfähiges Wesen. Die Notwendigkeit der Technik ergebe sich also aus den Organmängeln des Menschen. Technik sei Organersatz, sie ersetze dem Menschen organisch versagte Leistungen. Ein weiteres Prinzip sei das der Organverstärkung: Technik verstärke jene Organleistungen, die beim Menschen zwar ausgebildet seien, aber in einem zu schwachen Ausmaß (Muskelkraft etc.). Hinzu kommen noch die Aspekte der Organentlastung und der Organausschaltung, die, so Gehlen, dafür sorgen, daß der Mensch die Natur für sich arbeiten lasse.
Entlastung müsse sich der Mensch durch Veränderung der Natur verschaffen. Dadurch entstehe die Kultur, die eine "zweite Natur" sei. In der Kultur finde der Mensch Lebenshilfen wie die Technik und die Institutionen.
Technik wird also bei Gehlen verstanden als Organverstärkung, Organentlastung und Organausschaltung, mit Hilfe derer "der Mensch sich die Natur dienstbar macht, ausnützt und gegeneinander ausspielt" (Gehlen, 1958, S. 7).
Die Technik gehöre zum Wesen des Menschen und sei auf Grund der Mangelhaftigkeit des Menschen entstanden. Otto Ullrich kritisiert an dieser Ansicht, daß auch argumentiert werden kann, daß der Mensch als gehirnspezialisiertes Wesen wegen seiner Intelligenz und spezifisch menschlichen Qualitäten die Prinzipien der Organausschaltung und der Organverstärkung hervorbringen kann und daß daher der Mensch nicht als Mängelwesen angesehen werden kann (Ullrich, 1979, S. 27).
Perfekte Tiere, unperfekte Menschen?
Der Erfolg der Technik in der Moderne, so Gehlen, basiert auf der Kooperation der Naturwissenschaften und der Technik und auf der kapitalistischen Produktionsweise. Die Annahme, daß der Mensch ein Mängelwesen ist, erklärt noch nicht, warum es zu technischem Fortschritt kommt. Dazu meint Gehlen, daß der Mensch die "gottgegebene" Vollkommenheit der Verhaltenssicherheit der Tiere bewundere und daß er permanent versuche, sich dieser Sicherheit anzunähern. Die permanente Weiterentwicklung des technischen Organersatzes stelle das Streben des Menschen nach der von Gehlen angenommenen Perfektheit der Tiere dar. Der Mensch zeichne sich im Vergleich zu den Tieren durch Unangepaßtheit, Unspezialisiertheit der Organe und einen Mangel an Instinkten aus. Das Bedürfnis nach Annäherung an die Tierwelt sei auch der Grund für die magische Naturbeschwörung. Die Entwicklung von Magie und Technik hätten also dieselben Ursachen.
Eine Kritik an Gehlen könnte lauten, daß er Tiere über Menschen stellt, obwohl es die Ansicht gibt, daß sich Menschen durch neue Qualitäten von Tieren unterscheiden (Selbstbewußtsein, Rationalität, Kultur, der Mensch kann verschiedene Mittel identifizieren, um Ziele zu erreichen) und daher der Mensch eine qualitativ neue Stufe der Evolution darstelle.
Der Mensch sei fasziniert von der äußeren Natur und erkenne sich darin wieder. Das Innere des Menschen finde Resonanz in der äußeren Welt. Daher habe der Mensch eine tiefe psychische Bindung an die Technik. Die Entwicklung von Technik sei quasi ein Urtrieb des Menschen, die Sehnsucht nach Vollkommenheit, um sich an die Tiere anzunähern. Die Technik selbst rufe wiederum neue Bedürfnisse des Menschen hervor.
Der Computer als Organprojektion?
Ernst Bloch kritisiert die These der Organprojektion: Zwar seien früher Maschinen durch die Nachahmung von Leibgliedern entstanden (der Hammer steht für die Faust, der Meißel für den Nagel usw.), heute treffe dies jedoch gar nicht mehr zu: "Die Nähmaschine arbeitet nicht wie Handnaht, die Setzmaschine nicht wie Handsatz; das Flugzeug ist kein nachgeahmter Vogel, seine Tragfläche steht im Gegenteil unbeweglich, und sein Propeller ist kein Flügel. Nur in der Dampfmaschine und Lokomotive wirkt noch ein Anschein aus der alten organischen Reihe weiter. Zischend, kochend, atmend, mit Pleuelstangen wie Armen an der Seite; spielende Kinder sind so noch veranlaßt, Lokomotiven nachzuahmen. [...] Aber die Technik, die im jetztigen Jahrhundert sich entwickelt hat, weist immer geringere Ähnlichkeit mit menschlichen Gliedern und Maßen auf [...] die Großmaschine stößt die letzte Orgahnähnlichkeit ab" (Bloch, 1958, S. 771f).
Das Phänomen, das die Maschinen den Organen immer unähnlicher werden, nennt Bloch "Entorganisierung".
Es stellt sich die Frage, ob der Computer eine Organprojektion ist oder nicht. Wenn ja und Gehlen mit seinen Thesen Recht hat, dann müßte die Funktionsweise des Computers jener des Gehirns ähneln. Trifft jedoch Blochs Annahme der "Entorganisierung" zu, so dürfte zwischen Gehirn und Computer keinerlei Zusammenhang bestehen.
In den Anfängen der Kognitionswissenschaft (40er und 50er-Jahre) gab es eine Vorliebe für den Gebrauch mathematischer Logik, Neuronen mit zwei Zuständen wurden dabei mittels Operatoren logisch verknüpft (z.B. bei McCulloch/Pitts). Die Systemtheorie/Kybernetik wurde als eine Metadisziplin, die allgemeine Prinzipien formuliert, die für alle komplexen Systeme gelten, etabliert. Dabei spielte Norbert Wiener eine wichtige Rolle.
Das Gehirn wurde quasi als Maschine aufgefaßt, was auch der Ausgangspunkt für den Kognitivismus war: Bedeutende Vertreter sind beispielsweise Herbert Simon, Noam Chomsky, Marvin Minsky und John McCarthy. Kognition wird von ihnen als ein Rechnen mit symbolischen Repräsentationen aufgefaßt. Diese Symbole seien quasi physikalisch im Gehirn gespeichert, eine semantische Komponente bestünde in der Form von Repräsentationen der Welt von Außen. Das Gehirn gilt den Kognitivisten als Computer, Denken als ein Rechnen mit physikalischen Symbolen. Handeln ist dabei nur auf der Grundlage von Symbolen möglich. Die Computermetapher des Gehirns geht also davon aus, daß sich Aufbau und Funktionsweise des Gehirns und des Computers ähneln.
Diese Metapher wurde in der fortgeschrittenen Kognitionswissenschaft immer stärker in Zweifel gezogen: Im Gehirn finde sich keine regelgesteuerte Verarbeitungseinheit wie im Computer. Die Informationsvermittlung im Computer erfolgt auf rein elektronische Art und Weise, im Gehirn erfolgt sie hingegen durch chemische Reaktionen und die Fortpflanzung eines Zusammenbruchs der Potentialdifferenz eines Neurons und seiner Umgebung von einer Zelle zur nächsten. Ein Computer speichert ohne Problem und i.d.R. ohne Datenverlust große Mengen an Information. Der Mensch hingegen lernt durch Wiederholung und er vergißt Gelerntes. John Searle machte mit seinem Gedankenexperiment des "Chinesischen Zimmers" deutlich, daß ein Computer und ein Gehirn nicht miteinander verglichen werden können, da ein Computer nur logische Anweisungen und Verzweigungen befolgt, denen eine mechanistische Logik zu Grunde liegt. Der Mensch hingegen ist fähig zur Reflexion, hat ein Selbstbewußtsein und kann zweckrational handeln.
Einfluß der Technik auf das Denken des Menschen
In Kombination mit Naturwissenschaft und Industrie beeinflusse Technik, so Gehlen, die "Seele" des Menschen im negativen Sinn. Es zeige sich daher eine Tendenz der "Verbegrifflichung und Entsinnlichung" (Gehlen, 1958, S. 25). Diese breite sich in alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Die Tendenz der Entsinnlichung bewirke, daß nur mehr wenige Zugang zu Wissenschaft und Kunst haben. Diese werden, so Gehlen, immer komplizierter. Die große Mehrheit der Menschen könne sich nur mehr passiv verhalten, durch ihre Anpassung an vorgegebene Arbeitsrhythmen und die Massenmedien zeige sich eine "Primitivisierung" ihres Geistes (siehe Gehlen, 1958, S. 33-35).
Die moderne Technik bedeute Zwänge und Entfremdung für den Menschen. In der Welt der modernen technologischen Rationalität würden Institutionen zu Organisationen, in denen die Persönlichkeit des Menschen durch die technisch-industrielle "Superstruktur" zerstört wird. Der Mensch, so Gehlen, verhält sich daher unpolitisch und sieht den Sinn seines Lebens in der freien Zeit. Institutionen sind für Gehlen zur Stabilisierung der Gesellschaft notwendig. Durch die Institutionalisierung von Techniken sei es möglich, das Bedürfnisse auf einfache Weise dauerhaft befriedigt werden. Die Institutionen entlasten, so Gehlen, dadurch den Menschen und er kann seine Bedürfnisstruktur weiterentwicklen. Durch die Institutionalisierung werden Bedürfnisse gesättigt, das bezeichnet Gehlen als "Hintergrunderfüllung". Unter dem "Daseinswert" eines Dinges versteht Gehlen, daß Dinge (Technik und Institutionen) Bedürfnisse befriedigen können, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Trifft dies zu, so haben sie einen hohen Daseinswert, sie können Bedürfnisse im Hintergrund erfüllen.
"Der Daseinswert eines Dinges ist um so größer, je mehr sein objektives Dasein jede aktuelle Bedürfnisbefriedigung überdauert, d.h. je weniger es in dieser ‘verbraucht’ wird; also für jede weitere potentielle Bedürfnislagen zur Verfügung steht" (Gehlen, 1958, S. 15).
Ein Kunstwerk hat z.B. den Daseinswert, daß es bei jeder Betrachtung ein ästhetisches Bedürfnis befriedigt. Es verbraucht sich dabei aber nicht, muß nicht jedes mal neu hergestellt werden. Es dient also der Hintergrunderfüllung von Bedürfnissen.
Was Gehlen hiermit zum Ausdruck bringen will, ist, daß Technik und Institutionen Bedürfnisse befriedigen und das dadurch, daß sie alte Bedürfnisse auf Abruf befriedigen helfen, neue Bedürfnisse entstehen können.
Technikdeterminismus und Technikpessimismus
Gehlen betont, daß die Technik konstruktiv und destruktiv wirken kann: "schon der roheste Faustkeil trägt dieselbe Zweideutigkeit in sich, die heute der Atomenergie zukommt: er war ein brauchbares Werkzeug und zugleich eine tödliche Waffe" (Gehlen, 1958, S. 7). Es sein also eine Eigenschaft der Technik selbst, daß sie positiv und negativ verwendet werden kann. Gehlen übersieht hier, daß, falls diese Annahme zutreffen sollte, sich Konstruktivität und Destruktivität verschiedener Technologien in hohem Maße unterscheiden: "Ein Windkraftwerk ist nicht in gleicher Weise ambivalent destruktiv wie ein Atomkraftwerk" (Zweck, 1993, S. 330).
Gehlens Technikkonzeption kann als technikdeterministisch aufgefaßt werden, da er davon ausgeht, daß die Technik ihre Verwendungsweise und damit ihre Auswirkungen schon "in sich" trage. Die Technikfolgen, egal ob positive oder negative, seien also quasi bereits Eigenschaften der Technik selbst. Dieser Technikdeterminismus zeigt sich auch daran, daß Gehlen behauptet, daß es ein Trieb des Menschen sei, Techniken zu entwickeln, und daß die Technik Bedürfnisse erzeuge. Es verhält sich also seiner Meinung nach nicht so, daß Techniken zur Bedürfnisbefriedigung erzeugt werden und sich durch den Dynamik ihres Einsatzes neue Bedürfnisse entwickeln können, sondern so, daß die technische Ebene die Bedürfnisstruktur des Menschen determiniert (Technik bestimmt dabei also das Individuum). Es sei auch daran erinnert, daß Marx eine völlig andere Ansicht vertrat: Im Kapitalismus würde Technik nicht vorwiegend Mittel zur Bedürfnisbefriedigung sein, sondern Mittel zur Realisierung des Profits.
Im Unterschied zu der dialektischen Technikposition bei Marx, der sich eine "bessere Welt" ohne Zwänge und unnötige Verausgabung mit Hilfe des Einsatzes von Technik vorstellt, erteilt Gehlen jeder derartigen Utopie eine Absage. Es gehe heute nur mehr ums Überleben, jeder Utopist sei ein Phantast. Gehlen betont fast ausschließlich negative Auswirkungen des Technikeinsatzes. Gehlen "verweigert sich [...] dem Gedanken einer möglichen Alternative, [er] verharrt in tiefem Pessimismus und desavouiert die Utopie, ja erklärt diese [...] zum eigentlichen Feind" (Zweck, 1993, S. 337).
Eine positive Anwendung von Technologien, unabhängig davon, ob dazu die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend verändert werden müßten oder nicht, erscheint ihm nicht möglich. Er kann daher als ein Technikpessimist angesehen werden. Der Mensch, so Gehlen, müsse sich einfach seinem Schicksal ergeben.
Ähnlich wie Gehlen betont auch Hans Freyer (siehe Freyer, 1960, 1987), der seine Arbeit stark auf Gehlen bezog, daß sich technisches Denken in alle Lebensbereiche ausbreite und ihnen ihre Logik aufpräge. Am deutlichsten zeige sich dies durch die Wandlung des Bedeutungsinhaltes von sprachlichen Kategorien. Dies zeige sich z.B. in Wörtern wie "belasten", "beanspruchen", "schalten" oder "ankommen". Ein anderes Beispiel sei der Begriff "Fortschritt": Im 18. Jahrhundert sei damit noch das Gedankengut der Aufklärung verbunden worden, inzwischen würden die Leute nur mehr an technischen Fortschritt denken.
In der Moderne, so Freyer, sei Technik nicht mehr damit verbunden, daß Zwecke identifiziert werden, zu deren Erreichung technische Mittel gefunden werden sollen. Vielmehr sei der Sinn der Technik nicht mehr der Nutzen, sondern die Macht. Die Gefährdung des Menschen durch die Technik besteht für Freyer darin, daß die "Personalität" der Menschen von Sachzwängen verschüttet werde. Freyer sieht Technik als vom Menschen nicht zu beherrschende Macht, die die Persönlichkeit der Individuen einschränkt. Ähnlich wie bei Gehlen ist Freyers Position technikpessimistisch und technikdeterministisch, da er wie Gehlen und Schelsky (siehe das folgende Kapitel) davon ausgeht, daß Technik das Bewußtsein und das Handeln der Menschen bestimmen.