Christian Fuchs - Die passivierende Technik des Fernsehens bei Günther Anders

Günther Anders setzte sich in "Die Antiquiertheit des Menschen" (1961) mit modernen Medien, insbesondere dem Fernsehen, auseinander. Er entwirft eine "Phänomenologie des Fernsehens". Anders geht von der Frage "Wie verändern Medien die Wahrnehmung der Menschen" aus. Als These formuliert er, daß der Mensch hinter der Technik verschwindet. Das Herstellen des Menschen verlagere dessen Vorstellungsfähigkeit.

Das Fernsehen produziere einen völlig neuen Menschentyp, da es nicht die Wahrheit vermittle, sondern nur Wirklichkeitsersatz. Die vom Fernsehen erzeugte Welt sei gleichzeitig Phantom und Matrize: Sie sei weder die Realität, noch ein Abbild davon (Phantom) und das Pseudo-Abbild werde zu einer neuen Wirklichkeit (Matrize). Die von den Medien präsentierte Wirklichkeit liege zwischen Sein und Schein. Der Mensch verwechsle Sein und Schein.

"Wie wir ausgefunden hatten, bleibt das dem Menschen ins Haus ‘gesendete’ Etwas ontologisch so zweideutig, daß wir die Frage, ob wir es als anwesend oder abwesend, als Wirkliches oder Bildliches ansprechen sollten, nicht entscheiden konnten. Wir hatten dem Zweideutigen deshalb einen eigenen Namen gegeben und es "Phantom" genannt" (Anders, 1961, §14).

"das Eigentümliche und eigentümlich Beunruhigende der Sendungen (besteht) eben gerade darin (...), daß sie sich um die Alternative "Sein oder Schein" drücken" (ebd.)

"was hergestellt werden soll, ist unernster Ernst oder ernster Unernst, d.h. ein Oszillations- und Schwebezustand, in dem die Unterscheidung zwischen Ernst und Unernst nicht mehr gilt, und in dem der Hörer die Fragen: in welcher Weise das Gesendete ihn angehe (ob als Sein oder Schein, ob als Information oder als ‘fun’) oder als wer er die ihm eingehändigte Lieferung in Empfang nehmen solle (ob als moralisch-politisches Wesen oder als Musenkonsument) nicht mehr beantworten, ja sich nicht einmal mehr vorlegen kann" (ebd.)

Als Beispiel für die Verwechslung von Sein und Schein nennt Anders die Radioübertragung von Orson Welles "Krieg der Welten" in den 30ern, bei der die ZuhörerInnen an ein tatsächliches Kommen von "Marsmenschen" glaubten. Als ein weiteres Beispiel nennt er die Fortsetzungsserien im Fernsehen:

"Ich spreche von jenen, gewiß nicht blutrünstigen, oft sogar larmoyanten, Fortsetzungssendungen, in denen sich Jahre Hindurch das gespielte Alltagsleben fingierter Familien abrollt, und die alles andere als harmlos sind. Mir sind in den Vereinigten Staaten eine Anzahl vereinsamter alter Damen bekannt, deren Kreis, also deren "Welt", sich ausschließlich aus solchen nicht existenten Wesen zusammensetzt. [...] Nun kommen diese betriebsamen alten Damen manchem vielleicht nur komisch oder rührend vor. Mir erscheinen sie gespensterhaft; mir erscheinen sie als die parzenhaften Häklerinnen unserer Phantomwelt" (ebd.).

Das Fernsehen, so Anders, ist eine Maschine zur Produktion von Analogien zur Wirklichkeit. Diese sind für Anders wirklicher als die Wirklichkeit. Fernsehen führe zum Sprachverlust, zum Analphabetentum und die Subjektivität der Menschen würde zerstört. Das Fernsehen mache sie zu Objekten und "passiviere" sie.

Ähnlich wie Marcuse betont Anders die Manipulation der Menschen durch die Massenmedien. Marcuse ging jedoch niemals davon aus, daß das Bewußtsein der Menschen vollständig durch die Technik bestimmt wird. Anders tut dies schon. Sein radikaler Technikpessimismus läßt keinen Platz für alternative Verwendungen der Technik. Warum aber sollte es nicht so sein, daß ein alternativer Einsatz des Fernsehens, des Radios, der Zeitung oder des Kinofilms dazu beitragen kann, ein im Sinn Marcuses "wahres Bewußtsein" herzustellen?

In einem späteren Vorwort gestand Anders zu, daß er mit seinem radikalen Pessimismus im Aufsatz "Die Welt als Phantom und Matrize" falsch gelegen habe. Das Fernsehen habe nicht nur schlechte Auswirkungen, sondern auch positive: "Unterdessen hat sich nämlich herausgestellt, daß Fernsehbilder doch in gewissen Situationen die Wirklichkeit, deren wir sonst überhaupt nicht teilhaftig würden, ins Haus liefern und uns erschüttern und zu geschichtlich wichtigen Schritten motivieren können. Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts" (aus dem Vorwort der 5. Auflage des Antiquierten Menschen, 1979).

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