Christian Fuchs - Gesellschaft als kapitalistische Totalität bei Adorno

Gesellschaft

Theodor Adorno war ein führender Vertreter der Kritischen Theorie, die als sogenannte "Frankfurter Schule" durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung bekannt wurde. Adorno kann als Vertreter der marxistischen Gesellschaftstheorie und Philosophie betrachtet werden.

Gesellschaft definiert Adorno folgendermaßen:

"Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn meint man eine Art Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen: in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Maße bestimmt wird" (Adorno 1956, S. 22)

Mit "bestimmen" meint Adorno dabei, daß die Gesellschaft eine Institution sei, die den Menschen etwas aufzwingt. Diese seien also durch ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft nicht ausschließlich/vollständig, aber zu einem guten Teil ("in weitem Maße") in ihrem Denken und Handeln durch die gesellschaftlichen Zwänge beeinflußt und eingeschränkt. Es gäbe nichts, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre (siehe Adorno, 1970, S. 138).

Mit "bestimmen" stellt Adorno auch einen Kontext zu Marx her: Der sprach nämlich von der "Entfremdung" im Kapitalismus und meinte damit, daß die Menschen in Kapitalismus ihnen entfremdeter Verhältnisse unterworfen sind. Genau auf diese Entfremdungszustände zielt Adorno mit seiner Definition von Gesellschaft ab. Marx meinte mit "Entfremdung", daß den Arbeitenden weder die Produktionsmittel, die sie benützen, um etwas herzustellen, noch die Produkte, die sie herstellen, selbst gehören. Sie arbeiten mehr als sie bezahlt bekommen und sind durch das kapitalistische System in dem Sinn bestimmt, daß sie sich dem Zwang zur Lohnarbeit nicht entziehen können. Sie sind "freie" Lohnarbeiter im doppelten Sinn: Einerseits durch die entfremdenden Zwangsverhältnisse frei von Besitz an Produktionsmitteln und Produkten. Und andererseits "frei", die einzige Ware die sie haben, nämlich ihre Arbeitskraft, auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Letztere Freiheit wird im Marxismus jedoch wiederum als Zwang begriffen, da die Entscheidung, Lohnarbeit zu leisten, eben keine freiwillge ist, sondern ein gesellschaftlich produzierter Zwang.

Ein weiterer Aspekt der Entfremdung ist, daß zwischen Mensch und Natur die Technik als Medium tritt. Damit wird die Maschine zum Mittel der Herrschaftsausübung des Menschen über den Menschen und die Natur.

Marx beschreibt die Entfremdung folgendermaßen:

"Das Material, das es [das lebendige Arbeitsvermögen, d.h. die Lohnarbeitenden] bearbeitet, ist fremdes Material; ebenso das Instrument fremdes Instrument; [...] Ja die lebendige Arbeit selbst erscheint fremd gegenüber dem lebendigen Arbeitsvermögen, dessen Arbeit sie ist, dessen eigne Lebensäußerung sie ist, denn sie ist abgetreten an das Kapital gegen vergegenständlichte Arbeit, gegen das Produkt der Arbeit selbst. [...] Daher ihm [dem lebendigen Arbeitsvermögen] denn auch das Produkt als eine Kombination fremden Materials, fremden Instruments und fremder Arbeit - als fremdes Eigentum erscheint" (Marx 1857/1858, S. 375).

Person, Individuum, Selbst

Durch den Zwangscharakter des Kapitalismus und die Bestimmung des Verhaltens und Denkens der Menschen in diesem und durch dieses System, werde das Einzelwesen zur "Person" gemacht. Mit Person meint Adorno den Marxschen Begriff der "Charaktermaske". Damit ist gemeint, daß Menschen im Kapitalismus spezifische Rollen und Funktionen haben, die durch die Gesellschaft selbst bestimmt werden. So z.B. die Rolle/Funktion des Kapitalisten, der dafür Sorge tragen muß, daß er durch den Akkumulationsprozeß des Kapitals (=Prozeß der Anhäufung von Kapital) und die Ausbeutung von Lohnarbeitenden seine eigenen Lebensbedingungen und damit jene des kapitalistischen Systems reproduziert. Die Charaktermaske ist nicht sich selbst, sondern erfüllt eine Funktion im Kapitalismus. Sie steht für eine durch äußere Umstände zugeschriebene und hergestellte Rolle, die eine Person erfüllen muß. Die Charaktermaske zeigt durch die kapitalistischen Strukturen bedingte Verhaltensweisen.

"Die Bestimmung des Menschen als Person impliziert, daß er sich innerhalb der sozialen Verhältnisse, in denen er lebt, ehe er sich weiß, immer schon in bestimmten mitmenschlichen Rollen befindet. Durch sie ist er, was er ist, im Verhältnis zu anderen: Kind einer Mutter, Schüler eines Lehrers, Mitglied eines Stammes, Träger eines Berufs" (Adorno, 1956, S. 43).

Eine Person, so Adorno, könne nie Individuum sein, denn ein Individuum könne sich selbst bestimmen und sei fähig, ein Selbstbewußtsein auszubilden. Unter kapitalistischen Verhältnissen könne sich der Mensch nicht zu sich selbst verhalten und ein Selbstbewußtsein entwickeln, der Menschen sei Person und damit "ein Moment der Verhältnisse, in denen er lebt, ehe er sich vielleicht einmal selbst bestimmen kann" (Adorno, 1956, S. 42). Adorno schließt also nicht prinzipiell aus, daß aus einer Person mit hergestelltem Bewußtsein ein Individuum mit Selbstbewußtsein werden kann.

"Das Selbst" steht bei Adorno für eine Einheit aus Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Die kapitalistische Totalität (Totalität=das Ganze, diesen Ausdruck verwendet Adorno, um darauf hinzuweisen, daß die kapitalistische Gesellschaft alle Beziehungen der Menschen erfasse) setze das Selbst immer mehr außer Kraft. Dadurch entstehe ein Gegensatz von Individuum/Selbst und Person/Charaktermaske.

Die Person könne sich im Spätkapitalismus nur mehr selbst erhalten, indem sie ihr Selbst immer weiter rückbilde (Regression). Die Selbst-Entfremdung und Selbst-Zerstörung im Kapitalismus betrachtet Adorno also als Basis der Selbsterhaltung ohne Selbst der Personen: "Die Selbsterhaltung glückt den Individuen nur noch, soweit ihnen die Bildung ihres Selbst mißglückt, durch selbstverordnete Regression" (Adorno, 1970, S. 37).

Die Funktions- und Rollenzuweisung sei also Selbsterhaltung, die das Selbst zerstöre: "Rollen haben die Menschen in einem Strukturzusammenhang der Gesellschaft. Der sie sowohl zur puren Selbsterhaltung dressiert wie die Erhaltung ihres Selbst ihnen verweigert" (Adorno, 1970, S. 141).

Für Adorno bedeutet die kapitalistische Totalität den drohenden "Übergang der Subjekte in passives und atomistisches, reflexähnliches Verhalten" (Adorno, 1966, S. 271). Der permanent mit der Einschränkung seines Selbst konfrontierte Mensch, degeneriere also zu einer sich passiv verhaltenden und nur mehr in konditionierter Art und Weise reflexartig handelnden Person, die nicht mehr Subjekt eines eigenständigen Handelns sein kann.

Vermittlung

Mit dem Begriff "Vermittlung" meint Adorno, daß sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft bis in den Alltag und das Bewußtsein der Menschen fortsetzen. Adorno meint, daß sich das Ganze, die kapitalistische Totalität, nur durch die Einheit der von den Einzelnen erfüllten Funktionen erhalten könne. Andererseits sehe die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Einzelnem so aus, daß der Einzelne von der Totalität abhängig sei (siehe Adorno, 1970, S. 138). "Abhängig" meint hier wieder: bestimmt werden, den Zwangsverhältnissen ausgesetzt sein. Die Personen werden vermittelt, sie sind "das Vermittelte", die gesellschaftliche Totalität des Kapitalismus betreibt die Vermittlung (Adorno, 1970, S. 139).

Strukturgesetze

Die kapitalistische Gesellschaft, so Adorno, werde durch "Strukturgesetze" wie sie bei Marx beschrieben werden (z.B. Wertgesetz, allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation) geprägt:

"Die dialektische Theorie geht auf Strukturgesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnen sich manifestieren und von ihnen modifiziert werden. Unter Strukturgesetzen versteht sie Tendenzen, die mehr oder minder stringent aus historischen Konstituentien des Gesamtsystems folgen. Marxistische Modelle dafür waren Wertgesetz, Gesetz der Akkumulation, Zusammenbruchsgesetz" (Adorno, 1970, S. 151)

Es zeigt sich hier also, daß Adorno sich auf die Marxschen Kategorien der Gesellschaftsanalyse bezieht und für die dialektischen Gesellschaftstheorie plädiert. Adorno ist wie Marx Materialist in dem Sinn, daß er die Ansicht zum Ausdruck bringt, daß für die Gesellschaftsanalyse die Machtverhältnisse, die Verfügung der Unternehmer über den Produktionsapparat, also ein Teil des materiellen Seins, ausschlaggebend ist (Adorno, 1970, S. 138f).

Der Wert ist bei Marx eine grundsätzliche Formbestimmung des Kapitalismus. Das Wertgesetz besagt, daß der Wert der Waren der darin vergegenständlichten Arbeit entspricht (Marx 1867, S. 53-55). Das allgemeine Gesetz der Akkumulation, das Marx am Ende des ersten Bandes des Kapitals beschreibt, sagt aus, daß der Zwang zur Akkumulation (Anhäufung) von Kapital und Reichtum durch die Kapitalisten zum Ansteigen des Elends und der Armut führt (Marx 1867, S. 673f). Ein "Zusammenbruchsgesetz" im Sinn eines Automatismus des Zusammenbruchs des Kapitalismus gibt es bei Marx nicht. Allerdings beschreibt er im dritten Band des Kapitals eine Tendenz zum Fallen der Profitraten (Marx 1894, S. 221ff), die als eine periodische Zusammenbruchstendenz des kapitalistischen Systems beschrieben werden kann. Vielfach unberücksichtigt blieben in der marxistischen Diskussion dieser Tendenz jedoch die ebenfalls von Marx beschriebenen Gegentendenzen (Marx 1894, S. 242ff), die einen absoluten Zusammenbruch des Kapitalismus immer wieder verhindern. In den 70ern konstatierte Ernst Mandel immer wieder eine Automatik des Zusammenbruchs, heute geht die Arbeit der "Krisis"-Gruppe um Robert Kurz und Ernst Lohoff in eine ähnliche Richtung.

Das Wesen des Kapitalismus, so Adorno, sei der Tausch: "Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches" (Adorno, 1970, S. 100). Marx sprach davon, daß im Kapitalismus nicht der zur Bedürfnisbefriedigung relevante Gebrauchswert der hergestellten Güter ausschlaggebend ist, sondern der Tauschwert der Ware. Dieser besteht darin, daß sich Waren in einem quantitativen Verhältnis austauschen. Das Geld als verallgemeinertes Tauschprodukt vereinfacht den Tausch. Nur durch den Tausch von Waren gegen Geld, den Kauf und den Verkauf, ist es überhaupt möglich, daß unsere moderne Ökonomie bestehen kann. Für die Arbeitenden bedeutet die Übermacht des Tauschwertes über den Gebrauchswert, daß sie zur Lohnarbeit gezwungen sind und dabei ihre Ware Arbeitskraft gegen Geld tauschen müssen. Interessant ist beim Warentausch im Kapitalismus nicht die Nützlichkeit des Gutes, sondern seine Profitträchtigkeit. Vom Gebrauchswert wird abgesehen, es dominiert der Tauschwert:

Es wird im Kapitalismus "abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als Sekundäres befriedigt. Primär ist der Profit. (Adorno, 1970, S. 142)".

Adorno betont, daß die Menschen im Kapitalismus zum Warentausch genötigt werden, ganz egal, ob sie Arbeitende seien oder nach Profit strebende Unternehmer: "In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentausches versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen [...] Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem "Profitmotiv" geleitet werden oder nicht" (Adorno, 1970, S. 217).

Das Tauschprinzip, so Adorno, sei auch die Basis für die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems: "Im gesellschaftlichen Tauschverhältnis als solchem wird der Antagonismus gesetzt und reproduziert, der organisierte Gesellschaft jeden Tag mit der totalen Katastrophe auslöschen könnte. Einzig durch das Profitinteresse hindurch und den immanent-gesamtgesellschaftlichen Bruch erhält sich, knirschend, stöhnend, mit unsäglichen Opfern bis heute das Getriebe" (Adorno, 1970, S. 143).

Die moderne Gesellschaft, so Adorno, sei noch immer Klassengesellschaft. Einige Soziologen meinen, daß der Prozeß der gesellschaftlichen Individualisierung führe zum Ende des Klassenbewußtseins der Arbeiterklasse und damit auch zum Ende der Klassengesellschaft. Die von Ulrich Beck vertretene Individualisierungsthese (siehe Beck, 1983) meint eine Entbindung der Menschen aus traditionellen Umfeldern, Milieus und sozialen Beziehungen. Bis in die 70er hatten Institutionen demnach vielfach sinnstiftenden, sicherheitsgebenden und handlungsanleitenden Charakter. Mit der verstärkten Herauslösung der Individuen aus Zusammenhängen wie Familie, Betrieb, Beruf, Nachbarschaft, Kultur, Region, Arbeitsmarkt, Kirche, Verbänden, Gewerkschaften oder Traditionen werde der/die Einzelne zunehmend für sich selbst verantwortlich und müsse verstärkt Handlungsinitiativen setzen. Einerseits bedeutet dies die Ausweitung individueller Handlungsspielräume, andererseits entstehen aber neue Risiken sowie Unsicherheiten und gilt das Individuum als alleiniger SchuldhabendeR am eigenen Scheitern sowie der eigenen Erfolglosigkeit.

Obwohl Adorno Jahrzehnte vor Beck tätig war, findet sich bei ihm ein Argument, das Beck entgegengehalten werden kann: Auch bei einem fehlenden Klassenbewußtsein könne nicht auf die Nichtexistenz von Klassen geschlossen werden. Das Klassenverhältnis zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitenden sei also vielmehr ein objektives denn ein subjektives Verhältnis. Es zeichne sich durch ein ökonomisches Verhältnis zwischen Ausbeutenden und Ausbeutern aus. Der Kapitalismus sei daher Klassengesellschaft wie eh und je. Die Produktionsverhältnisse würden den Gegensatz zwischen ausbeutenden Kapitalisten und ausgebeuteten Lohnarbeitenden "prekär konservieren" (Adorno, 1970, S. 144).

Adorno geht sogar noch weiter: Die Monopolisierung des Kapitals wachse immer weiter an und damit auch der Widerspruch zwischen den Klassen: "Subjektiv verschleiert, wächst objektiv der Klassenunterschied vermöge der unaufhaltsam fortschreitenden Konzentration des Kapitals an" (Adorno, 1970, S. 144).

Kontrolle

Daß sich der Kapitalismus immer wieder selbst erhalten kann, sei u.a. Kontrollmechanismen geschuldet. Technik sei nicht per se ein Dämon, im Kapitalismus werde sie aber vielfach als Mittel der Kontrolle eingesetzt. Durch Medien wie das Fernsehen werde Realität künstlich produziert, das, was die Menschen für Wirklichkeit halten, sei immer öfters eine inszenierte Veranstaltung von oben.

"Nichts [als das Fernsehen; Anm. CF] könnte eindringlicher symbolisieren, daß ihnen [den Menschen; Anm. CF] ihr Leben, das sie besitzen und zu erwerben wähnen und das sie für das Nächste und Wirklichste halten, seinem konkreten Inhalt nach in weitem Maß von oben her zuerteilt wird. Die einzelmenschliche Existenz ist, über alle Imaginationen hinaus, bloße Reprivatisierung; das Wirklichste, woran die Menschen sich klammern, zugleich ein Unwirkliches" (Adorno, 1970, S. 145).

Der Mensch in der Moderne identifiziere sich immer stärker mit seiner Ausbeutung und Unterdrückung (Adorno, 1970, S. 147). Die Möglichkeiten der Flucht vor der Erfassung und Bestimmung des Bewußtseins durch Kontrollmechanismen, so Adorno, schrumpfen immer mehr.

Die herrschenden Zustände hätten sich so weit in die Menschen eingeprägt, daß diese kaum mehr fähig seine, jene zu verändern: "Der Zirkel schließt sich. Es bedürfte der lebendigen Menschen, um die verhärteten Zustände zu verändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation, fortgesetzt, daß sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge" (Adorno, 1970, S. 147).

Die Verwaltung der Menschen mache die Menschen zu Objekten von normierten Verfahren (Adorno, 1970, S. 145). Der Mensch könne durch die soziale Kontrolle des Geistigen nicht mehr Subjekt seiner Selbst sein. Eine besondere Rolle spielt dabei für Adorno die Kulturindustrie:

"Automatisch sowohl wie planvoll sind die Subjekte daran verhindert, sich als Subjekte zu wissen. Das Warenangebot, das sie überflutet, trägt dazu ebenso bei wie die Kulturindustrie und indirekte Mechanismen geistiger Kontrolle. Die Kulturindustrie ging aus der Verwertungstendenz des Kapitals hervor" (Adorno, 1970, S. 146).

In der "Dialektik der Aufklärung" widmen Adorno und Max Horkheimer der Kulturindustrie unter dem Titel "Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug" ein eigenes Kapitel: Die Kultur im Kapitalismus werde immer mehr Massenkultur und zeichne sich durch eine Eindimensionalität aus. Alle Kultur sei unter dem Monopol des Kapitals identisch (Adorno/Horkheimer, 1969, S. 128). Fernsehen, Rundfunk, Kino und Unterhaltungsmusik seien nichts als "Schund", "nichts [...] als Geschäft" (Adorno/Horkheimer, 1969, S. 129).

Durch die so aufgebauten Kanäle der Herrschaft würde nichts durchgelassen, das dem Begriff des Konsumenten widerspräche. Adorno und Horkheimer sehen also die Kulturindustrie als ein Medium für die Herstellung der Einschränkung des Bewußtseins der Menschen, für die Degradierung der Individuen zu Personen durch Manipulation und Kontrolle und für die Zerstörung des Selbst.

Die Kulturindustrie halte die Menschen ohnmächtig. Bei diesem Verfahren sei für jeden etwas vorgesehen, das ihn begeistern kann. Die kulturindustriellen Erzeugnisse, so Adorno und Horkheimer, erscheinen dadurch differenziert, seien aber immer das ewig Gleiche in Form von Waren.

In Anspielung auf den Akkumulationsprozeß des Kapitals bei Marx beschreiben Adorno und Horkheimer den kulturindustriellen Prozeß der Herstellung von Ohnmacht der Personen folgendermaßen:

"Unweigerlich reproduziert jede einzelne Manifestation der Kulturindustrie die Menschen als das, wozu die ganz sie gemacht hat. Darüber, daß der Prozeß der einfachen Reproduktion des Geistes [=Ohnmacht; Anm. CF] ja nicht in die erweiterte [=das reflexive, kritische Denken; Anm. CF] hineinführe, wachen all seine Agenten, vom producer bis zu den Frauenvereinen" (Adorno/Horkheimer, 1969,135).

Anderswo:

"Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor [...] Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden" (Adorno/Horkheimer, 1969, S. 145).

Die Kulturindustrie konfrontiere die Arbeitenden in ihrer Freizeit mit den von ihnen selbst hergestellten Waren, um deren geistige Tätigkeiten zu besetzen, d.h. zu bestimmen. Die Kulturindustrie verfüge über ihre Konsumenten.

Die Vergnügungsindustrie verordne Lachen. Dies sei ein Betrug am Glück, eine Befriedung, denn wahres Glück sei im Kapitalismus nicht möglich, da dieser immer mit Unfreiheit verbunden sei. Die Kulturindustrie verspreche, alle Bedürfnisse zu befriedigen, tatsächlich unterbinde sie jedoch die Möglichkeit der Regung von Widerstand. "Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat" (Adorno/Horkheimer, 1969, S. 153).

Vergesellschaftung

Heute, so Adorno, gibt es immer mehr Gesellschaft. Der Prozeß der Vergesellschaftung habe einen quantitativen und einen qualitativen Aspekt: Der quantitative bestehe darin, daß immer mehr Menschen in den kapitalistischen Funktionszusammenhang hineingerissen würden (Adorno, 1956, S. 34f). D.h., daß sich die kapitalistische Produktionsweise global gesehen immer mehr ausdehnt. Die moderne Technologie im Bereich des Verkehrs (Transportwesen) und die technologisch vermittelte Dezentralisierung der Industrie führe dazu, daß der letzte Winkel des Globus durchkapitalisiert werde.

Was Adorno hier vor fast 35 Jahren beschrieb, ist nichts anderes als die heute tagtäglich durch die Medien geisternde ökonomische Globalisierung. Er erkannte auch bereits, daß moderne Technologien den Globalisierungsprozeß begünstigen und vermitteln. Informations- und Kommunikationstechnologien sowie moderne Transportmethoden ermöglichen eine Delokalisierung sozialer Beziehungen: Es wird immer unbedeutender, wo auf der Welt sich jemand befindet, um konkrete Arbeitsschritte durchzuführen. Die "technologisch vermittelte Dezentralisierung der Industrie" ist heute nicht zuletzt durch das Wirken von I&K-Systemen als Medium realisiert: Die "Lean Production" (schlanke Produktion) ist inzwischen wesentlicher Bestandteil des Produktionsprozesses. Letzterer wird in kleine Teile zerlegt, die unabhängig voneinander erledigt werden können. Dadurch kann jeder dieser Teilschritte in einer Region abgewickelt werden, in der die institutionellen Rahmenbedingungen dafür optimal sind (Löhne, Sozialgesetzgebung, Besteuerung, Rolle und Einfluß der Gewerkschaften, Abwesenheit von Arbeitskämpfen usw.).

Adornos Argumentation zeigt, daß der Prozeß der Globalisierung des Kapitals eigentlich nichts Neues ist. Bereits in der marxistischen Imperialismustheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde davon gesprochen, daß sich der Kapitalismus immer weiter ausdehnen müsse, um bestehen zu können. Rosa Luxemburg ging z.B. davon aus, daß der Kapitalismus nichtkapitalistische Milieus als Kolonien brauche. Auf Grund der permanenten Ausdehnung der kapitalistischen Produktionweise im globalen Maßstab stoße der Kapitalismus jedoch auf natürliche Schranken und müsse daher letzten Endes dann zusammenbrechen, wenn die letzte verbleibende Region durchkapitalisiert und daher die Existenz von Milieus unmöglich werde.

Auch Marx selbst beschrieb den Globalisierungsprozeß: Die Etablierung des Kapitalismus beruhe einerseits auf der Verwandlung des auf Arbeit des Einzelnen beruhenden Privateigentums in Privateigentum einiger weniger Kapitalisten. Andererseits kann der Kapitalismus nur durch Konkurrenz zwischen den Kapitalisten bestehen. Dieser Zwang zur Konkurrenz zwischen den Unternehmen führe dazu, daß Kapitalisten den Bankrott anderer herbeiführen. Dieser Prozeß verlaufe tendenziell so, daß sich ein Kapitalmonopol bilde. Hand in Hand mit der Zentralisation des Kapitals ginge die Ausdehnung des Weltmarkts:

"Die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte, daher des zwergenhaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger, [...] bildet die Vorgeschichte des Kapitals. [...] Diese Expropriation [=Enteignung, gemeint ist der Bankrott von Unternehmen durch die Konkurrenz; Anm. CF] vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich [...] die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes" (Marx, 1867, S. 789f).

Marx erwähnte auch bereits die Rolle der Technik in der ökonomischen Globalisierung: Durch die Anwendung von Maschinerie werde ständig neues Rohmaterial benötigt, dies mache eine ständige Ausweitung des Weltmarktes und eine immer weitergehende Kolonisierung nötig, um die kapitalistische Reproduktionsweise aufrecht zu erhalten. Im Kapitalismus zeigt sich ein zyklischer Prozeß von ökonomischer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation (siehe Marx, 1867, S. 476).

Der qualitative Aspekt der Vergesellschaftung besteht für Adorno darin, daß immer mehr Gesellschaft dadurch produziert werde, daß das Netz der sozialen Kontrolle, das zur immer stärkeren Einschränkung des Selbst des Einzelnen führe, immer enger werde:

"Zum anderen gibt es auch insofern immer mehr Gesellschaft, als das Netz der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen immer enger gesponnen wird. In jedem Einzelnen wird immer weniger Unerfaßtes, von der sozialen Kontrolle Unabhängiges geduldet, und es ist fraglich, wie weit es sich überhaupt noch zu bilden vermag" (Adorno, 1956, S. 35).

Gerade auf Grund solcher Aussagen wurde der Frankfurter Schule immer wieder ein Pessimismus in dem Sinn nachgesagt, daß ein anderes Bewußtsein der Massen gar nicht möglich sei und daß die Möglichkeit der Entwicklung eines Selbstbewußtseins und von Selbstbestimmung nur wenigen Intellektuellen vorbehalten bliebe, die dies durch die intellektuelle Betätigung und die Auseinandersetzung mit anspruchsvoller/ernsthafter Kunst (in der Musik unterscheidet Adorno z.B. zwischen der anspruchsvollen/ernsthaften/avancierten Musik wie Klassik und der leichten Unterhaltungsmusik wie Jazz) realisieren könne. Dies ist aber insofern ein Trugschluß, da sich in Texten der Frankfurter Schule immer wieder auch die Möglichkeit betont wird, daß sich trotz aller Mechanismen der Kontrolle ein freies Bewußtsein durchsetzt. So betonte z.B. Herbert Marcuse in "Der eindimensionale Mensch", daß die Menschen nicht prinzipiell ohnmächtige Gefangene des kapitalistischen Systems sind, sondern daß vielmehr auch Kräfte existieren, die die Bestimmung des Bewußtseins durch die gesellschaftlichen Verhältnisse durchbrechen:

"Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. Daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. Daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann" (Marcuse, 1967, S. 17).

Fazit

In der soziologischen Grundfrage der Vermitteltheit von Struktur (Gesellschaft) und Handeln (Individuum) geht Adornos Gesellschaftstheorie von einer Dominanz der gesellschaftlichen Strukturen über das individuelle Handeln aus. Der Mensch werde vom Kapitalismus in seinem Denken und Handeln in weitem Maße bestimmt und eingeschränkt, denn es bestehe ein "Übergewicht der Verhältnisse über den Menschen" (Adorno, 1970, S. 137).

 

Die im 1. Abschnitt vorgestellten Gesellschaftsbegriffe können kurz folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Nach dieser Auseinandersetzung mit dem Wesensbegriff der Soziologie ist es nun sinnvoll, eine Annäherung an den zweiten wesentlichen Begriff der Techniksoziologie zu wagen. Der 2. Abschnitt behandelt daher verschiedene Theorien über Technik.

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