Christian Fuchs - Die Actor-Network-Theory

Als Beispiel für einen sozialkonstruktivistischen Ansatz werden wir nun die Aktor-Netzwerk-Theorie betrachten. Bedeutende Vertreter sind Bruno Latour (siehe Latour, 1987) und Michel Callon (siehe Callon, 1998). Diese Theorie sieht Menschen und Nichtmenschliches (wie z.B. die Technik) als gleichberechtigte Akteuere in Netzwerken, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. Latour meint, der Mensch müsse mit Maschinen verhandeln und sie als Verbündete rekrutieren. Man müsse Gesellschaft und Technik nicht getrennt betrachten, sondern gemeinsam als Soziotechnologie. Es gehe um eine Trennung der Aufhebungen zwischen Natur/Gesellschaft, Technik/Soziales und menschlichen/nichtmenschlichen Akteuren.

Es wird also eine Gleichwertigkeit menschlicher und nichtmenschlicher Akteure angenommen. Des weiteren will diese Theorie ein möglichst neutrales Vokabular benutzen, um die Konflikte und Interessen der unterschiedlichen Akteure besser beschreiben zu können.

Definitionen

Unter einem Aktor versteht Latour "Entitäten, die Dinge machen". Damit ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch (wie z.B. Technik) in der Form von Aktoren aufgehoben. Eine Münze gilt in der Actor-Network-Theory (ANT) z.B. als Aktor, die ein Netzwerk von Verbündeten aufbaut, um einen Tausch zu bewerkstelligen. Als Vorteil dieses Ansatzes betrachtet Latour, daß die Soziologie für nichtmenschliche Akteure geöffnet werde. Ein Aktor dominiere entweder andere oder er werde domininert. Daran kann unabhängig davon, daß es fraglich ist, ob Dinge Macht ausüben können oder ob es nicht vielmehr nur der Mensch als soziales Wesen ist, der Macht ausübt, kritisiert werden, daß wie bei Foucault argumentiert werden kann, daß jedeR AusübendeR von Macht ist und Macht erfährt und sich daher ein Netzwerk der Macht ausbildet.

Unter einem Netzwerk wird in der ANT eine Serie von Transformationen und Übersetzungen verstanden. Es bezeichnet nicht die Gesellschaft, sondern eine Zusammenfassung der Interaktionen zwischen den Akteuren. Die ANT sieht also ein Netzwerk als eine Gruppe undefinierter Beziehungen zwischen Entitäten. Die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen seien durch ein Soziogramm und ein Technogramm beschreibbar. Auf Grund der hohen Anzahl von Verbindungen zwischen beiden, seien sie nicht getrennt betrachtbar. Jede Veränderung in einem der beiden bewirke eine Veränderung im anderen.

Die Größe eines Aktors hängt in der ANT von der Größe des Netzwerks ab, über das er verfügt/das er "kommandiert". Die Größe eines Netzwerks hängt von der Anzahl seiner Akteure ab, die von einem Aktor in dessen Sinn beeinflußt werden.

Unter einer Vermittlungsinstanz (Intermediary) wird alles verstanden, das während einer Übersetzung zwischen Akteuren ausgetauscht wird (z.B. Produkte, Geld, Leistungen, usw.).

Ein Aktor will Interessen durchsetzen. Um diese zu erreichen, wirbt er in der ANT Verbündete an, die bei der Stabilisierung des Netzwerks mithelfen sollen. Der Aktor versuche, andere Akteure gleichzuschalten, damit sie dieselben Interessen vertrete wie er. Dadurch wachse die Größe des Netzwerks und damit die Größe/Macht des bestimmenden Aktors. Als Übersetzung können also Verhandlungen, Intrigen, Berechnungen, Überzeugungen und Gewalt verstanden werden, die von einem Aktor eingesetzt werden, um andere Akteure im eigenen Sinn beeinflussen zu können und ihnen das eigene Interesse aufzuprägen.

Ein neues Netzwerk, so die ANT, entsteht aus bereits existierenden. Eine Vermittlungsinstanz (Geld etc.) wird in Zirkulation versetzt, um zusätzliche Akteure ins Netzwerk zu ziehen, um ihnen das Interesse des Netzwerks aufzuprägen.

Ein Netzwerk kann sich in zwei Richtungen entwickeln: zur Konvergenz oder Divergenz der Akteure. Durch neue Akteure im Netzwerk nimmt die Divergenz zu, es besteht, so die ANT, eine Heterogenität der Interessen. Übersetzungen seien notwendig, da die neuen Akteure möglicherweise auch Teile anderer Netzwerke seien und von dort beeinflußt würden. Werden derartige heterogene Elemente übersetzt, so steigt die Stabilität und Vorhersagbarkeit des Netzwerkes an. Ein stabiles Netzwerk wird zu einer Black Box: es kann als Tatsache behandelt werden, bei der nur mehr Input und Output zählt. Was dazwischen passiert, ist nicht mehr relevant. Die Stabilität im Netzwerk kann abnehmen, indem z.B. Maschinen kaputt werden, Menschen ihre Meinungen oder ihr Handeln verändern. Die Zirkulation von Vermittlungsinstanzen wird in so einem Fall immer schwieriger, die Übersetzung wird abgeschwächt, die Black Box verliert an Integrität und Divergenz sowie Heterogenität nehmen zu. Ein Netzwerk strebt in der ANT grundsätzlich nach Stabilität. Darunter ist ein Konsens der Akteure über die Bedeutung von Artefakten zu verstehen.

Wissenschaft und Technik

Die ANT geht davon aus, daß soziale Beziehungen in Artefakte wie Technologien durch Übersetzungen hineingeschmiedet werden. Bei der Übersetzung werden die Artefakte durch die Interessen des Netzwerks und seines bestimmenden Aktors geprägt und in Kontrolle gesetzt. Technik ist für Latour dauerhaft gemachte Gesellschaft. Hier zeigt sich der Sozialkonstruktivismus der ANT, da davon ausgegangen wird, daß Eigenschaften und Folgewirkungen in die Technologie durch Übersetzungen eingebaut werden.

Als ein konkretes Beispiel kann die Wissenschaft betrachtet werden: Die ANT geht davon aus, daß sich WissenschaftlerInnen in Akteursnetzen bewegen und eine Vielfalt an Materialien, Personen und Techniken nutzbar machen, um ihren Einfluß über das Labor hinaus zu erweitern. Sie wollen ihre Reputation erhöhen und ihre Macht erweitern, indem sie Verbündete in ihr Netzwerk holen, die übersetzt werden, um dasselbe Interesse zu verfolgen. IngenieurInnen und WissenschaftlerInnen etablieren demnach Netzwerke, um Projekte zu realisieren. Die ANT meint, daß sie dabei nicht alleine handeln, sondern die Beziehungen zwischen den Akteuren seien wesentlich. Die Infrastruktur, die von der Wissenschaft benützt wird, erscheint dabei als relevant. Latour geht z.B. davon aus, daß Newton seine Theorien nicht alleine erschaffen hat, sondern durch Hilfe der Royal Society, Geometrie, Astronomie, Mechanik, Arbeitsräume, Labors, Assistenten, dem Essen, usw.

Markt

Callon (1998) betrachtet den Markt als ein Akteursnetzwerk. Dieser kontrolliere die Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Der Markt sei ein Koordinationsmechanismus zwischen Menschen, Waren und Techniken, auf den folgendes zutrifft:

Die Akteure verfolgen eigene Interessen, sie führen ökonomische Kalkulationen zwecks Optimierung durch.

Akteure haben verschiedene Interessen

Es gibt Transaktionen/Übersetzungen, mit denen Akteure versuchen, andere Akteure auf ihre Seite zu ziehen

Akteure sind bei all dem also kalkulierende Agenten. Interessenkonflikte werden durch Transaktionen gelöst (d.h. Übersetzung, Stabilisierung über Transaktionen mit Vermittlungsinstanzen wie Geld).

Callon betont, daß Externalitäten von den Akteuren nicht in ihre Berechnungen einbezogen werden. Eine Firma berücksichtige z.B. nicht die Auswirkungen der hergestellten Waren auf die Umwelt. Die Akteure sind in Transaktionen auf dem Markt involviert. Die dabei getroffenen Entscheidungen haben positive oder negative Effekte auf unbeteiligte Akteure (wie in dem Beispiel die Natur). Transaktionen seien überhaupt nur möglich, indem Externalitäten unberücksichtigt bleiben. Werden bestimmte Externalitäten doch berücksichtigt, so entstehen dadurch neue Externalitäten ("overflowing"). Bei dem Verkauf eines Autos findet z.B. eine Übersetzung in dem Sinn statt, das der Verkäufer versucht, das Geld des Käufers in sein Netzwerk zu ziehen. Dabei zirkuliert das Auto, es ist Vermittlungsinstanz. Werden Eigentumsrechte durch ein Patent gesichert, so wird eine Externalität ausgeräumt, aber gleichzeitig eine neue geschaffen: Andere dürfen das Know-How nun zwar nicht ungestraft verwenden, es wird jedoch öffentlich und nachvollziehbar. Daher besteht die neue Externalität darin, daß andere Zugang zum zuvor geheimen Wissen erhalten und darauf aufbauen können.

Wesentlich bei diesem Ansatz ist, daß der Markt so gefaßt wird, daß die Produkte, Techniken, usw. genauso wichtig sind wie die Menschen. Er wird als ein Ergebnis von Übersetzungen zwischen Akteuren betrachtet, die Transaktionen ermöglichen.

Fazit und Kritik

Die ANT ist ein sozialkonstruktivistischer Ansatz, die betont, daß Artefakte wie Technologien in der Gesellschaft bedeutend sind. Sie geht davon aus, daß soziale Beziehungen in die Technik hineingeschmiedet werden und daher die Technikfolgen in die Technik eingebaut werden. Wie jedem sozialkonstruktivistischen Ansatz kann auch diesem entgegengehalten werden, daß ein und dieselbe Technik möglicherweise unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschieden eingesetzt werden können und daß die Eigendynamik, die komplexe technische System erlangen können, möglicherweise unterschätzt wird.

Es kann systemtheoretisch davon ausgegangen werden, daß es verschiedene Systemarten gibt, die sich durch verschiedene Komplexitätsniveaus unterscheiden. Bei einer Systemtransformation nimmt die Komplexität zu und es kommt zur Emergenz neuer Qualitäten, die nicht auf das darunterliegende System reduzierbar sind. Evolution kann man sich nach dieser Vorstellung als einen Prozeß vorstellen, bei dem es durch Transformationen zur Emergenz neuer Systeme und neuer Systemqualitäten kommt. Auf Grund der unterschiedlichen Qualitäten, die sich durch die Systemevolution ergeben haben, unterscheiden sich chemische/physikalische von biologischen und diese wiederum von sozialen ganz wesentlich. Diese Systeme bauen hierarchisch aufeinander auf, soziale Systeme sind dabei die komplexesten, da sie die oberste Stufe einer evolutionär entstandenen Hierarchie darstellen. Unterschiedliche Systemarten können nicht wie in der ANT angenommen "gleichberechtigt" sein und mit denselben Begrifflichkeiten beschrieben werden. Genau dieser Fehlschluß passiert aber in der ANT und als Ergebnis davon erscheint es seltsam, wenn davon gesprochen wird, daß mit Maschinen, Bakterien etc. geredet werden kann, daß ihnen etwas befohlen wird, daß sie ein eigenes Interesse haben. Nichtmenschliches wird hier vermenschlicht und mit gesellschaftlichen Begrifflichkeiten dargestellt. Dies kann als anthropomorphistischer Fehlschluß betrachtet werden: Kategorien aus der Sozialwissenschaft (Beziehung, Interesse, Macht, handeln, sprechen, kommunizieren, usw.) werden auf nichtsoziale Bereiche (Technik, Biologie, Physik, Chemie, usw.) übertragen. Der Sozialdarwinismus stellt einen ähnlichen Fehlschluß dar, allerdings von der Biologie in die Sozialwissenschaft.

Latour möchte verschiedene Disziplinen in Form einer "Sprache" in der Soziologie vereinen. Hier kann es aber keine Vereinbarung geben, da sich all diese Disziplinen durch emergente Eigenschaften wesentlich voneinander unterscheiden. Technik kann als ein Subsystem der Gesellschaft betrachtet werden, das vom Menschen geschaffen wird. Gesellschaft ist also der Technik immer vorgelagert (d.h. sie ist notwendig, damit es überhaupt Technik geben kann) und unterscheidet sich ganz wesentlich von ihr. Daher kann es keine "Gleichheit" von Mensch und Technik geben, Technik kann keine Interessen haben, kann nicht handeln, keine Macht ausüben, es kann ihnen nichts befohlen werden, usw.

 

Zu Beginn des 2. Abschnitts haben wir bereits gesehen, daß Technikgenese die Wirkung der Gesellschaft auf die Technik und Technikfolgenabschätzung die Wirkung der Technik auf die Gesellschaft behandelt. Technikentwicklung und Technikpolitik spielt sich in diesem Wechselverhältnis von Technik und Gesellschaft ab. Der nächste Abschnitt wirft einen noch genaueren Blick auf Technikgenese und Technikfolgenabschätzung.

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