Chancen antikapitalistischer Selbstorganisation

 

In: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 52, Dezember 2002, S. 185-192

 

Christian Fuchs, Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Gesellschaftliche Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger Transformationen, Wien & Norderstedt 2001 (Books on Demand), 246 Seiten, 18,92 Euro.

 

In diesem Buch verfolgt Christian Fuchs das Ziel, "eine kritische Bestandsaufnahme des postfordistischen Kapitalismus zu geben und Möglichkeiten von emanzipatorischer sozialer Selbstorganisation heute und in anderen Gesellschaftsformationen (als potentiellen Zukünften) zu verdeutlichen." (5) Eine Lösung der globalen Probleme erscheine "nur durch die Nutzung der Selbstorganisationspotenz der Menschheit möglich." (7) Vielleicht mag es als etwas übertrieben erscheinen, das Selbstorganisationsparadigma als einen "neuen" interdisziplinären Ansatz zu bezeichnen (9): Die betreffenden naturwissenschaftlichen Untersuchungen von Maturana und Varela zur Autopoiese und von Prigogine über dissipative Strukturen reichen ja in die 196Oer Jahre zurück und führten dann in den 70er und 80er Jahren zu einem intensiven Dialog zwischen Natur- und Sozialwissenschaften und Philosophie. Doch dieser Dialog ist eben unvermindert aktuell und geht weiter. Daran konnten auch zwiespältige Ausweitungen (etwa Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, 1979) nichts ändern, oder die Tatsache, dass man sich auch innerpostfordistisch und neoliberalistisch zunehmend auf 'Selbsttätigkeit' und 'Selbstorganisation' beruft. Fuchs sieht diese Vereinnahmungsversuche durch- aus, um so sinnvoller erscheint der Versuch, mit dialektischen Mitteln und ausgewogen, d.h. ohne übertriebenen Optimismus, aber auch ohne unproduktive Resignation, die Aussagekraft und Leistungsfähigkeit jenes Paradigmas für kapitalismuskritische Bewegungen und Standpunkte auszuloten.

Im ersten Kapitel, wo er auf Grundlagen der Selbstorganisationstheorie eingeht, betont Fuchs, dass man Konzepte nicht einfach aus einer Wissenschaft in eine andere übertragen kann: Sonst entstehen Fehlschlüsse durch Analogie, etwa Biologismus. Wichtig ist vielmehr, allgemeine und besondere (systemtypusspezifische) Aspekte der Selbstorganisation sorgfältig zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen, ohne Differenzen einzuebnen. Erkenntnistheoretisch wird gegen einen radikalen Konstruktivismus, der von den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiert, auf Widerspiegelungstheorie zurückgegriffen, aber so, dass damit kein totaler Determinismus durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden ist (später wird noch einmal betont, "dass Erkenntnis weder einen reinen Widerspiegelungs- noch einen reinen Konstruktionscharakter hat" 64). Konzepte wie Emergenz und deterministisches Chaos können dialektisch aufgegriffen werden: letzteres im Sinne einer Dialektik von Zufall und Notwendigkeit. Um die Grundlagen einer vereinheitlichten Theorie der Selbstorganisation zu schaffen, sei "eine Verbindung von Informations- und Selbstorganisationskonzept wesentlich." (30) Später ist denn auch von einer "Vereinheitlichten Theorie der Information und Selbstorganisation" die Rede (56), womit Dialektik freilich eher auf einen Primat der Einheit als einen der Differenz festgelegt scheint.

Kapitel zwei versucht zunächst den Gesellschaftsbegriff zu klären, um dann das Spezifische der kapitalistischen Gesellschaftsformation her- auszuarbeiten (Selbstzweckhaftigkeit des Werts, Mehrwertproduktion durch abstrakt-menschliche Arbeit, Klassenantagonismus, Ausbeutungsverhältnisse, Entwicklung der Produktivkräfte durch Konkurrenz der Kapitale). Das Ökonomische dominiert (oder beeinflusst dominierend) die beiden anderen gesellschaftlichen Subsysteme, Politik und Kultur, ohne sie völlig zu determinieren. "Die Annahme einer nichtdeterministischen Kausalität stützt sich auch auf die Erkenntnisse der Selbstorganisationstheorie, die (...) einfache reduktionistische Erklärungen ablehnt." (37) Zu berücksichtigen seien multidimensionale Formen der Abweichung und wechselseitige Beeinflussungen zwischen Ökonomie, Politik und Kultur.

Mit dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate habe Marx nur eine Zusammenbruchstendenz des Kapitalismus beschrieben, keinen Automatismus (dessen Unterstellung sei durch Engels Vorschub geleistet worden); Marx berücksichtige sehr wohl entgegenwirkende Faktoren (vgl. 43). Der Begriff der 'relativen Verelendung', den Fuchs hinzuzieht (wofür 'relative Verarmung' offenbar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung darstellt), ist bekanntlich umstritten. Zunehmende Mechanisierung der Arbeit lasse unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen den Ausbeutungsgrad der Arbeitenden immer mehr ansteigen, statt befrei- end zu wirken. Übersichtlich stellt Fuchs die Funktionen des Staates im Kapitalismus dar: z.B. Organisation von Gegentendenzen zum tendenziellen Fall der Profitraten und der krisenhaften Zusarnmenbruchstendenzen, Sicherung der Reprodukti- onsbedingungen des Kapitals als nationalstaatliches Konkurrieren um 'Standortsicherung', ideologische Konsensherstellung durch Massenintegration und Sozialpolitik, etc. Bei der Auflistung der wichtigsten Widersprüche des heutigen Kapitalismus erweist sich m.E. allerdings als Manko, dass der Widerspruchsbegriff nicht weiter geklärt wird (was dialektische Grundlagen angeht, gibt es Nachholbedarf, freilich nicht nur bei Christian Fuchs).

Der Autor bezieht nun das verbreitete Schlagwort von der 'Informationsgesellschaft' kritisch ein ('Kommunikationsgesellschaft' wird weniger aufgegriffen): "In unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaft, in der Wissen als eine systematisierte, organisierte und integrierte Form der Information eine wesentliche Produktivkraft darstellt und die als Informationsgesellschaft bezeichnet werden kann, ist vor allem die verdinglichte Information im Gespräch. Information als Ware wurde zu einem neuen Fetisch der bürgerlichen Gesellschaft." (56) Mit W. Hofkirchner versucht er eine objektivistisch-schematisierende Zuordnung semiotischer Dimensionen: der syntaktischen Ebene werden 'Daten' und 'Wahrnehmung' zugeordnet, darauf hierarchisch auffußend werden der semantischen Ebene 'Wissen' und 'Interpretation' zugeordnet sowie der pragmatischen Ebene 'Weisheit' und ´Evaluation´. Und zwar, so dass es in autopoietisch-lebendigen Systemen "eine syntaktische und eine semantische Dimension der Information" gibt: "Signale werden nicht nur wahrgenommen, sondern auch interpretiert. (62f.) In sozialen Systemen komme bei individueller Information eine pragmatische Dimension hinzu: "Signale werden wahrgenommen, woraus Daten emergieren, die in interpretierter Form die Basis des Wissens darstellen. Wird Wissen in Entscheidungssituationen evaluiert, so kann daraus Weisheit emergieren.“ (63) Dieses Schema scheint mir in mehrfacher Hinsicht fragwürdige Analogien herzustellen und bereichsübergreifend zu generalisieren, also genau das zu tun, wovor Fuchs einleitend mit Recht warnte. Z.B. laufen in lebenden Systemen zahlreiche Informationsprozesse ab, die von dem System bzw. den betreffenden Organismen nicht 'wahrgenommen' werden (sondern z.B. nur die biochemische Ebene betreffen, vgl. die rekursive Transformation eines Genotyps in einen Phänotyp). Und linguistisch ist die pragmatische Dimension grundlegend auch für die Konzeption und das Verständnis der syntaktischen und semantischen, kann also schwerlich so spezifisch eingeengt werden. Und reicht es auf sozialer Ebene wirklich aus, dass Information fixiert, tradiert, systematisiert und integriert wird, um damit schon 'Wissen' darzustellen? Muss sie dafür nicht zumindest gegründet und diskursiv begründbar sein (was das Schlagwort von der 'Wissensgesellschaft', wo kaum mehr zwischen oberflächlich kommunizierbarer 'Kenntnis' und 'Wissen' unterschieden wird, freilich gern unterschlägt)?

Dies nur als äußerst kurze Andeutung einiger möglicher Einwände. Auch Fuchs' Rede von "Erkenntnissen" (vgl. ebd.) droht hier zu oberflächlich zu geraten; unsinnig z.B. später die Unterstellung, dass durch bloße Veröffentlichung schon "aus den Erkenntnissen soziales Wissen" wird (128): weder ist sicher, dass es sich um 'Erkenntnisse' handelt, noch, dass bloße Zugänglichmachung 'Wissen' generiert. Nun klingt der deutsche Ausdruck 'Weisheit' ('weise') sicherlich pathetischer als das englische 'wisdom' (wise: verständig, klug, gescheit). Gemeint ist aber offenbar die Notwendigkeit und auch Möglichkeit, bei aller Selektivität und Partikularität kompetente Wertungen und Präferenzen vorzunehmen und insofern prinzipien- und regelgeleitet 'weise' (gut, richtig, angemessen, möglichst wirkungsvoll etc.) zu en scheiden und zu handeln (man könnte auch sagen: nicht nur verständig, sondern vernünftig, in dynamischer Verbindung von Selbstgesetzgebung und situationsbezogenem Von-Fall- zu-Fall-Abwägen).

Soziale Systeme, so Fuchs, agieren vorwiegend nach Modi der Inklusion und Exklusion, wobei Inklusionen kooperativ generiert und orientiert, Exklusionen hingegen hierarchiebetont, macht- und herrschaftsorientiert seien (vgl. 67). "Durch Konkurrenz geformte Beziehungen, die eine wesentliche Rolle in unserer kapitalistischen Gesellschaft spielen, sind ein Aus- druck asymmetrischer Machtverhältnisse." (69). Zulassung ist als eine Form der Inklusion die Kehrseite der Exklusion anderer (und umgekehrt), oft sind auch inklusive und exklusive Mechanismen intern dialektisch miteinander vermittelt (die Zulassung zu einer Maßnahme, einem Markt etc. kann unmittelbar Ausdruck von Ausschlussprozeduren sein); insofern wird man wohl sagen müssen, dass durchaus nicht jede Form von Inklusion kooperativ generiert und orientiert ist (so verstehe ich jedenfalls den Autor). In postfordistischen Betrieben gibt es Formen der Enthierarchisierung und 'Selbstorganisation', die an der restriktiven und konkurrenzbetonten Gesamtstruktur nichts ändern, im Gegenteil (darauf wird in Kap.3 eingegangen). So wird 'selbstorganisiert' nun bei Fuchs unvermeidlich zu einem normativen Prädikat, das etwa in folgender generalisierender Formulierung zahlreiche Probleme" aufwirft: "Eine selbstorganisierte Gesellschaft wäre eine, in der sämtliche Individuen, die von zu lösenden Problemen betroffen sind, durch Prozesse soziale Inklusionen hervorbringen, die mit sämtlichen individuellen Normen und Werten der Betroffenen vereinbar sind." (72). Es ging aber ja gerade darum, kompetente, sinnvolle, 'vernünftige' Normen und Werte pragmatisch herzustellen und anzuwenden. Grundlagentheoretisch wird in diesem Buch vieles eher in den Raum gestellt als, wie beansprucht, "entwickelt" (74).

In Kapitel drei wird die derzeitige postfordistische Phase des Kapitalismus näher beschrieben: als Einheit von Akkumulationsregime, Regulationsweise und Disziplinarrnodell, die auf nichtdeterministische und multidimensionale Weise miteinander vermittelt sind. Dieses Kapitel gehört mit seinem klaren Realismus sicherlich zu den aktuellsten und interessantesten. Als Reaktion auf die Krise des Fordismus habe sich der Postfordismus von der standardisierten Massenproduktion auf diversifizierte Qualitätsproduktion verlagert: Charakteristika wie Lean Production, Dezentralisierung, Partizipatives Management, Job Rotation, Job Enlargement, Job Enrichment werden kurz erläutert. Fuchs stellt klar, "dass die neuen Unternehmens- und Arbeitsorganisationsweisen keine Humanisierung der Arbeit bedeuten, vielmehr die Zunahme von Stress, Selbstdisziplinierung und gegenseitigen Disziplinierungen der Arbeitenden, deren Spaltung sowie eine sich daraus ergebende Zunahme der Ohnmacht und Zustimmung zur eigenen Ausbeutung." (80)

Ebenso klar wird in Sachen Globalisierungsdiskussion hervorgehoben, dass der Kapitalismus "ein grundsätzlich globales System" ist, "das nur über den Weltmarkt funktionieren kann" (82), und dass es obsolet ist, unter kapitalistischen Bedingungen auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu hoffen. Der Neoliberalismus als Regulationsweise bedeutet "die Deregulierung von Schranken wie Schutzzöllen und Steuern sowie von sozialen Sicherungssystemen" (85), freilich nicht notwendigerweise die von Subventionen, Bevorzugungen im Wettbewerb, Absprachen usw. (so ist sicherlich hinzuzufügen). Im internationalen Wettbewerb bedeutet Globalisierung nicht nur Delokalisierung, sondern auch Relokalisierung (Standortvorteile und -nachteile). Entsprechend müssen auch die Neuen Sozialen Bewegungen sowohl global als auch lokal denken und handeln. Besonders herausgearbeitet wird, dass die neuen Inforrnations- und Kommunikationstechnologien "unter den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen weder unkritisch fortschrittsoptimistisch noch technikpessimistisch betrachtet werden sollten" (93); entsprechend wird auch die Rolle des Internets sehr ausgewogen analysiert. Ebenso realistisch wird nachgezeichnet, wie der Staat zum Statthalter der Kapitalakkumulation wird: Konzerne werden hofiert, Arme werden ver- waltet, überwacht, bei Laune gehalten, während ihre Lebensbedingun- gen sich weiter verschlechtern. Wie Pierre Bourdieu betonte: "Die neoliberale Botschaft ist konservativ: Arbeitet viel, ohne Garantie und Sicherheit!" In puncto 'Kontrollgesellschaft' greift Fuchs auf Foucault und Deleuze zurück: Kontrollen präsentieren sich im Gegensatz zu Disziplinen "ultra-schnell und freiheitlich aussehend" (102), es wird gemenschelt, klimatisiert und geteamt, dabei total verzweckt. Lohnarbeitende "werden zu Ausbeutern, um fähig zu sein, selbst ausgebeutet zu werden." (115) Erinnert wird an Rosa Luxemburgs These, der Kapitalismus produziere immer wieder nichtkapitalistische Milieus ursprünglicher Akkumulation, damit die Akkumulation des Kapitals überhaupt funktionieren könne. Teile der Dritten Welt werden heute zum Müllplatz des Westens: überhaupt ausgebeutet zu werden, wird gleichsam zum Privileg.

Angesichts solch neuerer Entwicklungen versucht Fuchs auch den Klassenbegriff neu zu interpretieren (wie berechtigt das ist, kann und will ich hier nicht diskutieren), sodass der Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital grundlegend bleibt, aber auf der Seite der Arbeit "KernarbeiterInnen, periphere Arbeiterinnen, Reproduktionsarbeitende und Arbeitende in rassistischen Produktionsverhältnissen" sowohl eigene Klassen als auch eine "Überklasse" bilden, zu der auch noch "Arbeitslose, in Armut Lebende und die Menschen in der Peripherie" gehören (122).

Kapitel vier untersucht unter dem Titel 'Selbstorganisation gegen den Kapitalismus' die Herausbildung emanzipatorischer sozialer Netzwerke. Fuchs versteht diese mit Deleuze und Guattari (Tausend Plateaus) als Rhizome und stellt dafür mehrere Bedingungen auf: Rhizome sind antihierarchisch und dezentral strukturiert. Jeder Punkt kann und/oder muss mit jedem anderen verbunden werden (Prinzip der Konnexion). Normenwahl und Entscheidungen müssen in sozialer Interaktion basisdemokratisch und kooperativ getroffen wer- den, die Machtverteilung ist symmetrisch. (Wie bei hoher Mitgliederzahl aktive Partizipation aller und hinreichende, nicht manipulativ sondern möglichst selbsttätig erworbene Sachkompetenz gesichert werden sollen, bleibt natürlich problematisch.) Einzelne soziale Bewegungen, die Teil des Gesamtnetzwerkes sind, werden als Plateaus angesehen (Elemente eines Rhizoms) und über kommunikative Linien verbunden (global mittels des Internets - indes hat ein Drittel der Menschheit keinen Zugang zu Elektrizität). Bei gemeinsamen Aktionen dominiert Vielfalt, die Herausbil- dung und Verlagerung gemeinsamer Fluchtlinien erfolgen flexibel, ebenso die Zusammensetzung der Mitglieder. Neue Rhizome können aus dem alten hervorgehen und spontan auf- treten; Überwachung und Beherrschung von außen wird so erschwert. Wenn man eine intellektuelle Avantgarde braucht, die Aufklärungs- arbeit leistet, muss man vermeiden, dass sie zu einem clanhaften Ausgangsbecken exklusiver sozialer Information wird, sich in inneren Machtkämpfen und endlosen Diskussionen erschöpft usw.

Auf Sprach- und Verständigungsproblematik und die ihr immanenten Formen von Überkomplexität, Unbestimmtheit, Unentscheidbarkeit, (z. T. daraus resultierender) Gewalt usw. wird insgesamt wenig (bzw. wenig speziell) eingegangen. Die spezifisch dialektische Form emanzipatorischer Politik, die es herzustellen gilt, sieht Fuchs offenbar wesentlich in der Sicherung einer "Einheit in der Viel- falt." (164) Unterschieden wird zwischen Temporären Autonomen Rhizomen (T AR) und Permanenten Autonomen Rhizomen (PAR); Rhizome von Rhizomen erfordern ein Meta- Rhizom, dessen Struktur aufgrund ihrer hohen Komplexität "nicht wirklich fassbar" ist (166). Vieles in diesem Kapitel bleibt (trotz einiger Beispie- le, die besonders den möglichen progressiven Gebrauch des Intemets illustrieren sollen) sehr allgemein, könnte aber in Anschlussarbeiten weiter ausgeführt werden. Dieses Buch muss insofern als Teil eines Gesamtprogramms betrachtet werden, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Kapitel fünf setzt sich mit dem sozialen Selbstorganisationscharakter diverser Demokratiemodelle auseinan- der: Behandelt werden die Repräsentationsdemokratie, direktdemokratische Modelle und die anarchistische Basisdemokratie. Fuchs' Ausführungen dazu sind detailliert und interessant, besonders der anarchistischen Basisdemokratie wird breiter Raum gewidmet, wobei mit zahlreichen Vorurteilen aufgeräumt wird. In der Repräsentationsdemokratie geben WählerInnen ihre Stimme ab, "um auf tatsächliche politische Mitgestaltung zu verzichten" (178). Der Unterschied (sogar Gegensatz) von Plebiszit (das auch in totalitären Herrschaftsformen eingesetzt wird) und Basisdemokratie wird erhellend herausgearbeitet. Direktdemokratische Modelle sind in einer Massengesellschaft schwer zu verwirklichen. TheoretikerInnen des Anarchismus nun behaupten, "eine Organisationsweise ohne Staat, Zwang, Disziplin, Unterwerfung, Gehorsam, Gewalt, Hierarchie, Autorität, Repräsentation und Herrschaft sei (...) sehr wohl möglich." (191) Dabei scheinen sie allerdings, was Fuchs hier weniger thematisiert, oft auf ein unrealistisch optimistisches Menschenbild zurückzugreifen, das, wie es manchmal immunisierend oder experimentell-appellierend heißt, nicht näher begründet werden kann, solange die durch die Verhältnisse bewirkten Verzeuungen noch bestehen. "Anarchismus ist mit Herrschaftslosigkeit und Antistaatlichkeit negativ bestimmt, es ist allerdings auch eine positive Bestimmung im Sinne der Selbstbestimmung auf Basis freier Vereinbarungen und gegenseitiger Hilfe möglich." (193)

Fuchs thematisiert nun drei Konzeptionen oder Typen des Anarchismus: "Der Kommunistische Anarchismus betont die Eliminierung des Tauschwertes und die bedürfnisorientierte Produktion, in der jedeR gratis das bekommt, was er/sie zum Leben braucht. Dies gilt unabhängig davon, ob er/sie einer gesellschaftlich not- wendigen Arbeit nachgeht oder nicht. Der Mutualismus (vgl. engl. mutual: gegenseitig, wechselseitig, T.C.) will nicht den Tauschwert ab- schaffen, sondern das Geld in der Form eliminieren, dass eine Tausch- bank geschaffen wird, aus der jedeR Produkte in dem Wert bekommt, den er/sie abliefert. Dem Anarchosyndikalismus geht es vorwiegend um die Arbeiterselbstverwaltung, d.h. er befürwortet die Übernahme von Be- trieben durch Arbeitende in der bestehenden Gesellschaft als Basis für eine Gesellschaft, in der die Arbeitenden die Betriebe und die Produktion selbst kontrollieren und alle Entscheidungen, die in ihrer jeweiligen Produktionsstätte anfallen, kollektiv treffen." (195f.)

Näher eingegangen wird z.B. auf Murray Bookchins (Die Neugestaltung der Gesellschaft) Libertären Kommunalismus, der die Notwendigkeit, aber auch Schwierigkeit der Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstkritik und Selbstregierung betont und zeigt, dass das Konsensprinzip leicht in eine 'Tyrannei des Konsenses' umschlagen kann. Beginnt man auf kommunaler Ebene, kann die Macht des Staates nach oben hin geschwächt werden. Man muss experimentell mit antihierarchischen Strukturen beginnen, da hierarchische Strukturen und Strategien (ein innerer Widerspruch des Parteikommunismus) keine antihierarchischen Verhältnisse schaffen können.

"Unter sozialer Selbstorganisation", so erläutert Fuchs noch einmal generell, "wird in dieser Arbeit verstanden, daß Individuen, die von Strukturen betroffen sind, Eintreten, Form, Verlauf und Ergebnis des Prozesses der Strukturetablierung selbst bestimmen und gestalten können, indem sie durch Wechselwirkungen auf der Mikroebene Strukturen auf der Makroebene hervorbringen." (208) Dass es nur bedingt sinnvoll ist, allgemeine Empfehlungen zu geben, wo es um konkrete Situationen geht, muss hingenommen werden (vgl., dass etwa Bloch und Adorno das 'Auspinseln' von Utopien ebenso ablehnten wie Marx). "Einerseits zeigt uns die Selbstorganisationstheorie, dass die Planbarkeit der geschichtlichen Entwicklung deutlichen Grenzen unterliegt. Andererseits bedeutet der Anspruch der Realisierung eines bestimmten Gesellschaftsentwurfs eine neue Elitenbildung, die nicht auf neuen Prinzipien basiert, sondern alte konserviert." (213) Eben das gilt es zu vermeiden.

In einer abschließenden Betrachtung (Kapitel sechs) knüpft Fuchs an Marcuses Technikbegriff an: Während Technik im Kapitalismus ein Herrschafts-, Ausbeutungs- und Kontrollinstrument sei, könne sie in einer freien Gesellschaft bedürfnisorientiert eingesetzt werden und eine Reduktion der Arbeitszeit aller bewirken. Eine alternative technologische Rationalität (so auch Bloch und Bookchin) müsse sowohl das Verhältnis zur Natur als auch das der Menschen untereinander verändern; dass die dafür notwendigen veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einerseits (zumindest als Realpotential) schon vorausgesetzt, andererseits erst geschaffen werden müssen, kann sich je nach Enthusiasmus und Kooperationsfähigkeit der Menschen als hemmender oder als produktiver Zirkel (im Sinne dynamischer Rückkopplungseffekte) erweisen. Was als Realsozialismus figurierte, war "Arbeitsgesellschaft, nicht die Befreiung der Gesellschaft von der Lohnarbeit, sondern die Befreiung der Lohnarbeit aus ihren kapitalistischen Fesseln stand im Vordergrund." (222) Fuchs strebt eine Verabschiedung der Tausch- und Arbeitsgesellschaft gleichermaßen an; nicht zentrale Planwirtschaft, sondern freie individuelle Bedarfserhebung solle im Vordergrund stehen. Dazu müsste freilich jeder Mensch kompetent und selbstkritisch seine wahrhaften Bedürfnisse ermitteln und angeben können und dies auch wollen, und ebenso, was er für die Gesellschaft tun kann und will (und dies dann auch tun); ob das realistisch ist und für alle selbstbestimmt koordiniert werden kann, mag dahingestellt sein, es kann vorab ebensowenig bejaht wie abgetan werden.

Insgesamt ein lohnendes, anregendes Buch, mit dem man sich produktiv auseinandersetzen kann und zu dem der Autor sicherlich noch manches hinzufügen wird, bzw. er hat das inzwischen bereits getan: Eine Fortsetzung befasst sich mit den Zusammenhängen von evolutionärer Systemtheorie und marxistischer Krisentheorie.

Thomas Collmer