Umwälzende Wälzer. Zwei Bücher, die auf Masse, aber nicht auf die Massen setzen.

Von Martin Büsser

 

 

In: Junge Welt, 3. Juli 2002, Nr. 151, Literaturbeilage, S. 4

 

Christian Fuchs: »Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaft- lichen Kapitalismus« und »Krise und Kritik in der Informationsgesellschaft«. Books on demand GmbH 200 I und 2002, ISBN 3-8311- 1601-6 und 3-8311- 3332-8

 

Books on demand“ maccht es möglich: Ein gewisser Christian Fuchs hat ein zweibändiges Konvolut von zusammen etwa 650 eng bedruckten Seiten ein vorgelegt - ein Umfang, bei dem sich jedem Lektoren, der seinen Verlag nicht ruinieren möchte, die Haare sträuben. Die Verkaufschancen stehen schlecht. Der Autor selbst ist noch ziemlich unbekannt, hat bislang ausschließlich für kleine linke Organe wie Schwarzer Faden, Kalaschnikow und Zeitschrift Marxistische Erneuerung geschrieben. Und auch die Titel mitsamt Untertiteln, die Fuchs seinen zwei Bänden jeweils gegeben hat, zeugen vor allem von einem: der unter Linken weit verbreiteten Kunst, nichts auf den Punkt zu bringen. Statt einem knackigen »Anti-Ödipus« oder »Empire« heißt etwa der erste Band: »Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus«. Das reizt nicht gerade zum Lesen, oder?

Der Fehler liegt allerdings durchweg weniger im Inhalt als in der Form. Was hier unternommen wird, ist nichts weniger als der Versuch einer Neudefinition kapitalistischer Verhältnisse, ja an mehr noch, es werden Wege aus der Krise aufgezeigt, Vorschläge für zeitgemäße linke Strategien unterbreitet. Der erste Band definiert dabei erst einmal den Begriff der Selbstorganisation (beginnend mit sich selbstorganisierenden Systemen in Physik, Chemie und Biologie), um dies schließlich auf die Soziologie zu übertragen und zu zeigen, welche emanzipatorischen Möglichkeiten der Selbstorganisation im heutigen Kapitalismus genutzt werden können. Anhand von Deleuze-Begriffen wie »Rhizom« und »Disziplinargesellschaft« arbeitet Fuchs heraus, auf welche Weise sich der Kapitalismus innerhalb der letzten Jahrzehnte gewandelt hat. Analyse, Diagnose und Alternativvorschläge erinnern zum Teil frappierend an »Empire« von Negri/Hardt - und dies, obwohl Christian Fuchs' Arbeiten unabhängig davon zur etwa selben Zeit entstanden sind.

Aber damit nicht genug; Band zwei hat sich außerdem zur Aufgabe gemacht, die Aktualität des Denkens von Herbert Marcuse herauszuarbeiten. Marcuse, einst Philosophen-Guru der 68er, wird heute im Gegensatz zu Adorno nur noch selten zitiert. Umso interessanter, daß Fuchs hier dessen Philosophie zwischen Marxismus, Psychoanalyse und dem Recht zur revolutionären Selbstorganisation neu aufrollt, um am Ende zu betonen, daß Marcuse vor allem für die momentane Phase des Kapitalismus aktuell ist. Im Sinne einer »zivilisierten Barbarei« trifft vieles an Marcuses Kritik auf den Zustand der heutigen Kontrollgesellschaft zu, eine Gesellschaft mit für viele scheinbar humanen Arbeitsbedingungen, in der die Zwänge nicht mehr von außen her kommen, sondern von allen Beteiligten internalisiert worden sind. Fuchs hebt dabei jedoch vor allem die optimistische Seite von Marcuse hervor, seinen Glauben an kritische Selbstorganisation, und schließt damit an den ersten Teil seiner Studien an. Leider bleiben die optimistischen Aussichten bei Fuchs ebenso spekulativ und visionär wie in »Empire«, einem Buch, das immer dann, wenn es Hoffnung ausdrücken möchte, in einen fast schon religiös verzückten Ton kippt. Gibt es Anzeichen für eine solche emanzipatorische Selbstorganisation? Sind die wenigen genannten Beispiele wirklich wirkungsvoll im Sinne einer schrittweisen Umstrukturierung der Gesellschaft? Wenn Christian Fuchs die »rhizomatische Vemetzung linker Bewegungen im Internet nachzeichnet, bleibt leider unberücksichtigt. daß es dieselben Verflechtungen auch seitens der Rechten gibt, daß also Selbstorganisation nicht die Voraussetz.ung für Emanzipation ist, sondern erst einmal selbst eine emanzipatorische Haltung voraussetzt.

Fast selbstredend muß ein Buch, das sich so viel vorgenommen hat, auch viele Schönheitsfehler aufweisen. Hier jongliert einer mit marxistischer Ökonomiekritik, Frankfurter Schule, Systemtheorie und Poststrukturalismus gleichermaßen, bringt sogar noch die Naturwissenschaften mit ins Spiel und ein Kapitel über Independent-Musik, in dem mit reichlich Blurnfeld-Zitaten gegen Marcuses Ablehnung der Rockmusik argumentiert wird. In solchen Details steckt allerdings auch die Qualität. Weun Fuchs beispielsweise auf vier Seiten nonchalant ausführt, welche Bedeutung Niklas Luhmanns Systemtheorie für die Idee der Selbstorganisation hat, um ihn dann doch als affirmativen, semirassistischen Eurozentristen zu dissen, dann tritt eine Prägnanz zutage, die man sich von dem ganzen Buch gewünscht hätte. Es sind nicht die Inhalte, die hier stören, es ist einfach ein Problem der Ausführung und Präsentation. So gesehen sind diese beiden Bücher und mit ihnen das »Print on demand«-Verfahren selbst anschauliche Beispiele für das Prinzip der Selbstorganisation und dessen mögliche Schwächen. Ein gewisses Maß an Lektorat häte nicht geschadet. Und zwar nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne von Austausch, Kommunikation. So nämlich besteht die Gefahr, daß viele gute Gedanken einfach deshalb untergehen, weil solche selbstorganisiert hergestellten Wälzer von niemandem gelesen werden. Was schade ist.