Rezension von Christian Fuchs: Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen
Kapitalismus
Aus: Wechselwirkung, Nr. 113/Jg.
23, Jan/Feb 2002, S. 90f
Der Verfasser untersucht in diesem Buch einerseits die Veränderungen des Kapitalismus hin zu Postfordismus, Informationsgesellschaft und Neoliberalismus, andererseits diskutiert er die Bedingungen sozialer Kämpfe in diesen neuen Verhältnissen unter dem Schlagwort der Selbstorganisation. In Anlehnung an die französische Regulationstheorie wird vom postfordistischen Kapitalismus gesprochen. Die dort vorgeschlagene Einheit eines Entwicklungsmodells des Kapitalismus von Akkumulationsregime und Regulationsweise wird um hegemoniale Aspekte erweitert, indem zusätzlich von einem sogenannten Disziplinarmodell gesprochen wird. Darunter seien "ideologische Mechanismen, die für die hegemoniale Zustimmung der Beherrschten und Ausgebeuteten zum herrschenden Entwicklungsmodell beitragen sollen" (S. 54) zu verstehen.
Auf über 70 Seiten liefert der Verf. eine umfassende kritische Analyse der
Veränderungen in Akkumulationsregime (Ökonomie), Regulationsweise (Politik),
Disziplinarmodell (Ideologie), Lebensweise und Technik, die sich mit dem Übergang
zum postfordistischen Kapitalismus gezeigt haben. Besonders hervorhebenswert
erscheinen mir dabei die Diskussion der Frage, inwiefern Wissensarbeit als produktive;
mehrwertschaffende Arbeit gesehen werden kann (S. 125-151) und die Ausführungen
zu den für den Postfordismus konstitutiven Klassenverhältnissen (S. 111- 123).
Wir müssten heute nicht von einem singulären, sich durch die unmittelbare Produktion
von Mehrwert auszeichnendem Klassenverhältnis ausgehen, vielmehr seien für die
Wertproduktion mehrere Produktionsverhältnisse (so etwa auch periphere, häusliche
und rassistische) notwendig und zeichne sich der Postfordismus durch "viele
Klassen- und daher Ausbeutungsverhältnisse aus, die sich zum Teil auch überlagern"
(S. 122). Interessant auch die Konzeption der Veränderung des Disziplinarmodells
von der Disziplinargesellschaft (Foucault) zur Kontrollgesellschaft (Deleuze),
in der Elemente wie Eigenverantwortung und partizipatives Management bedeutend
werden. Dies bedeute jedoch, so der Verf., nicht die Humanisierung der Arbeit,
sondern eine Totalverzweckung des Menschen zwecks Durchsetzung ökonomischer
Interessen.
Auf dieser Analyse aufbauend, geht der Verf. näher auf die Bedingungen für soziale Kämpfe in diesen Verhältnissen ein. Ausgehend von den Erkenntnissen der Komplexitäts- und Selbstorganisationstheorien und dem Zusammenhang von Information und Selbstorganisation wird ein Begriff sozialer Selbstorganisation entworfen. Darunter wird ein basisdemokratischer bottom-up':Prozess verstanden, bei dem "die von entstehenden Strukturen betroffenen Individuen Eintreten, Form, Verlauf sowie das Ergebnis dieses Prozesses selbst bestimmen und gestalten können" (S. 67). Im Rahmen einer Untersuchung des Selbstorganisationsgrads der modemen Gesellschaft und ihrer repräsentativdemokratischen Institutionen kommt d. Verf. zu dem Ergebnis, dass Kapitalismus und Repräsentativdemokratie nicht als sozial selbstorganisierend bezeichnet werden können.
Eine Alternative sei eine nachhaltige Gestaltung der Gesellschaft, die auf Selbstorganisation an Stelle von Fremdorganisation in allen gesellschaftlichen Bereichen setze. Als potentielles Subjekt einer derartigen Transformation werden vom Verf. neue soziale Bewegungen betrachtet, die sich im Rahmen einer umfassenden Prekarisierung der Lebensverhältnisse im kapitalistischen Weltsystem konstituieren. Es fehle diesen Bewegungen aber (noch) an einer umfassenden emanzipatorischen Perspektive. Mit Anlehnung an Gilles Deleuze werden Netzwerke sich selbstorganisierender sozialer Bewegungen als Rhizome bezeichnet (S. 153ft). Ein solches Netzwerk setze jedoch kritisches Bewusstsein voraus. Eine umfassende gesellschaftliche Demokratisierung hin zu mehr Selbstbestimmung könne sich potentiell im Rahmen von gesellschaftlichen Kämpfen ergeben, in die solche selbstorganisierenden sozialen Netzwerke eingebunden sind. Ambivalent sei dabei auch die Rolle der neuen I&K-Technologien: Einerseits würden sich darin Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln, andererseits biete sich eine umfassende Aneignung durch rhizomatische soziale Netzwerke zwecks Unterstützung gesellschaftspolitischer Interventionen an.
So spannend eine Verknüpfung der Selbstorganisationstheorie mit. marxistischen Kategorien auch sein mag, fehlt es der Arbeit doch an kurzfristigem politischen Realitätssinn. Der Verf. lässt sich zu stark von utopistischem Denken leiten und formuliert eine zu totale Kritik, die von der Prämisse ausgeht, dass es innerhalb der bestehenden Institutionen keine Verbesserungen geben könne. So interessant Utopien einer anderen Gesellschaft doch erscheinen mögen, realistisch erscheinen doch heute eher kurzfristige Reformen der gesellschaftlichen Institutionen. Der Verf. vernachlässigt Aspekte kurzfristiger Möglichkeiten politischer Intervention (wie etwa eine Stärkung der gesellschaftlichen Regulationsmechanismen) und setzt zu sehr auf die unterstelle Möglichkeit eines unmittelbaren Übergang ins "Reich der Freiheit", auf Utopien in der Tradition von Bloch und Marcuse sowie auf einen Aufgriff von Marcuses Vorstellung einer nachhaltigen Gesellschaftsgestaltung durch die intensive Nutzung einer anderen Technik in einer anderen Gesellschaft.
Als ein Beitrag zur Verbesserung bestehender Verhältnisse erscheint mir die
Idee sozialer Selbstorganisation und die Betonung der potentiell demokratisierenden
Wirkungsweise Sozialer Bewegungen angebracht. Eine Selbstorganisation gegen
den Kapitalismus hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft bleibt jedoch
wohl eher ein Wunschtraum des Reichs der Phantasie. Insgesamt gesehen bietet
dieses Buch eine kritische Analyse der heutigen Gesellschaft und ihrer Veränderungen
und überzeugt durch eine Fassung der Idee sozialer Selbstorganisation, die im
Gegensatz zu Luhmanns Selbstreferentialität sozialer Systeme nicht als affirmativ,
sondern als kritisch zu betrachten ist.
Peter Mayer