Christian Fuchs: Daß nichts bleibt, wie es ist... Betrachtungen zu einer neuen Veröffentlichung im Bereich sozialer Selbstorganisation

Im zweiten Band der Veröffentlichungsserie "Daß nichts bleibt, wie es ist..." beschäftigt sich Annette Schlemm mit Prozessen sozialer Selbstorganisation. Dabei stellt sie bereits einleitend fest, daß die Selbstorganisationstheorie, deren Ursprung in der Physik und Chemie (Haken, Prigogine, von Foerster) zu sehen ist, nicht direkt durch Analogieschlüsse aus anderen wissenschaftlichen Bereichen abstrakt auf Gesellschaftskonzepte zu übertragen ist. Vielmehr sei eine Untersuchung realer, also konkreter sozialer Selbstorganisationsprozesse ergiebig. Was sie damit anspricht, ist eine wichtige Kritik an methodologischen Vorgehensweisen, die versuchen, Konzepte aus Physik, Chemie oder Biologie auf die Sozialwissenschaft ohne philosophische Verallgemeinerungen zu projizieren und in Fehlschlüssen durch Analogieübertragung enden. In der Systemtheorie gibt es z.B. immer wieder biologistische Fehlschlüsse, die versuchen, das darwinistische Prinzip der Selektion sozialwissenschaftlich zu fassen. In physikalisch-chemischen Systemen kann Selbstorganisation als die spontane Emergenz von Ordnung in Systemen, die sich fernab des thermischen Gleichgewichtes befinden, gesehen werden. Dabei werden kritische Werte von Kontrollparametern des Systems überschritten und es kommt zur Verstärkung von Fluktuationen. Wird versucht, theoretische Konzepte der Beschreibung von Selbstorganisation in nichtmenschlichen Bereichen (Versklavung durch Ordner, Entropie, Attraktoren, Fraktale, Phasenraum, usw.) durch Analogien sozial zu fassen, so kann dies, darauf weist Schlemm berechtigterweise hin, gefährlich enden, indem z.B. Diktaturen durch Hermann Hakens Versklavungsprinzip legitimiert werden.

Annette Schlemm analysiert in ihrer Arbeit, daß die kapitalistische Produktionsweise keinen Umgang mit den globalen Problemen bietet, sondern daß sich durch den Kapitalismus diese Probleme permanent verschärfen und daß er sie ursächlich bedingt. Das soziale Selbstorganisationskonzept könne behilflich sein, um Wege aus dem Kapitalismus in eine nachökonomische Gesellschaft zu finden, in der es kein Primat von Ökonomie, Wert und Profit mehr gibt. Unter sozialer Selbstorganisation versteht Schlemm eine gesellschaftliche Organisation von unten, die sich gegen Fremdbestimmung wendet, sowie die nichtherrschaftsförmige, föderal-vernetzte Assoziationen freier Menschen. Durch die Weiterentwicklung der modernen technischen Produktivkräfte sei in einer solchen Gesellschaftsformation die Möglichkeit gegeben, die gesellschaftlich notwendige durch den Menschen zu verrichtende Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren und ein "Recht auf Faulheit" (Paul LaFargue) sowie ein Mehr an selbstbestimmten Tätigkeiten zu realisieren. Notwendig sei sogar eine Pflicht zur Faulheit, um die Gesellschaft nachhaltig zu gestalten.

Ich stimme mit Annette Schlemm darin überein, daß eine postkapitalistische, nichtherrschaftsförmige Gesellschaft jenseits der Wertvergesellschaftung notwendig wäre. Kritik habe ich jedoch an den vorgeschlagenen Wegen dorthin. Richtig ist, daß die geschichtliche Evolution kein linearer, vorhersehbarer Prozeß ist, sondern daß es in Verzweigungspunkten verschiedene Möglichkeiten der historischen Entwicklung gibt. Dabei hat das gesellschaftliche Werden seine Basis im Sein, die Existenzmöglichkeit wird im Alten hervorgebracht. Das Neue entsteht dann als eine von mehreren Möglichkeiten durch dialektische Aufhebung aus dem bzw. des Alten. Die Realisierung, also die Ausgestaltung einer der im Alten angelegten Potenzen, entscheidet sich in Verzweigungspunkten (=Bifurkationen).

Es gibt daher nicht eine mögliche Zukunft, sondern mehrere potentielle Zukünfte. Die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung ist nicht vorhersehbar, da kleine Ursachen große Auswirkungen haben können. Nichtsdestotrotz sind aber konkretere Szenarien und Visionen einer befreiten Gesellschaft entwickelbar. Fatal ist nur der Anspruch ihrer 1:1-Realisierung, da dies in neuen Herrschaftsstrukturen enden muß. Die Geschichte der Revolutionen hat dies gezeigt.

Ich meine, daß soziale Bewegungen und emanzipatorische Befreiungsbewegungen, die sich an Selbstorganisation statt Interessensvertretung orientieren (z.B. die EZLN), ein potentielles emanzipatorisches Subjekt darstellen. Aber nicht in ihrer Singularität, sondern als rhizomatische (vgl. Deleuze/Guattari, Rhizom, Berlin, 1977) Widerstandsnetzwerke mit antikapitalistischer und emanzipatorischer Perspektive. Diese zeichnen sich durch eine Vernetzung im sozialen, kommunikativen und technischen Sinn aus und könnten durch eine dynamische Organisationsweise eine Aufhebungsbewegung des Kapitalismus im Sinne eines globalisierten Widerstandsprojektes darstellen. Essentiell dabei ist eine basisdemokratische, herrschaftsnegierende Organisationsweise, d.h. die Selbstorganisation sozialer Bewegungen als Basis und Antizipation einer selbstorganisierten, postkapitalistischen Gesellschaftsformation. Eine Negation dieser Antizipation wäre möglicherweise der Weg zu neuen Herrschaftsformen. Rhizomatische Widerstandsnetzwerke sehe ich als potentielle Keimform einer selbstorganisierten Gesellschaft.

Annette Schlemm geht darüberhinaus davon aus, und den diesbezüglichen Optimismus stelle ich etwas in Frage, daß es innerhalb des Kapitalismus ökonomische Keimformen wie etwa flexibilisierte Arbeitsstrukturen, Tauschringe, selbstverwaltete Betriebe, New Work-Projekte und kooperative Produktion im Internet gibt, die den Kommunismus antizipieren.

Die vom partizipativen Management propagierte Arbeitsweise, die Elemente wie Enthierarchisierung, Dezentralisierung, Spaß an der Arbeit, Erhöhung des Verantwortungs- und Entscheidungsspielraumes, Motivation, Kreativität, Flexibilität, innovatives Denken, hohe Einsatzfreude, Kooperationsfähigkeit, Belastbarkeit, Eigeninitiative, Engagement, Teamgeist und Identifikation mit dem Unternehmen, etc. betont, sei eine Keimform einer selbstorganisierten Wirtschaftsform. Gilles Deleuze bezeichnete diese neuen Arbeits- und Managementweisen als eine Tendenz zur "Kontrollgesellschaft". Daß diese eine postkapitalistische Keimform darstellt, stelle ich in Frage:

Höher qualifizierte Arbeitende wie Experten und Spezialisten haben in der Regel auch höhere Löhne als andere. Meiner Ansicht nach sind es vor allem sie, die auf kontrollgesellschaftliche Mechanismen reagieren, die verlangte Identifikation mit dem Betrieb, Motiviertheit, Selbstdisziplinierung, Mehrleistung durch Internalisierung der Corporate Identity, usw. tatsächlich umsetzen, da partizipatives Management für sie auch vielfach höhere Löhne bedeutet. Sie internalisieren die Interessen der Kapitalistenklasse, der eigene Sinn ihrer Arbeitgeber, der an sich antagonistischer Fremdsinn ist, wird zu ihrem Selbstsinn. Die Experten und Spezialisten meinen dann im eigenen Sinn zu handeln, der Sinn der Arbeiterklasse an und für sich kann jedoch nur ein kollektiver sein. Unter neoliberalen Verhältnissen zeigt sich aber, daß es einige hochqualifizierte Berufe wie Hard- und Softwareentwickler, Systembetreuung; Instandhaltung, Wartung und Konfiguration von Computersystemen, Multimediaexperte oder graphisches Design gibt, während die Anzahl unqualifizierter Arbeitskräfte mit niedrigen Löhnen, der Konsequenztragenden der Automatisierung, der prekären und atypischen Beschäftigungsverhältnisse sowie die Arbeitslosigkeit und die Armut (auf nationalen und internationalen Maßstäben) steigen. Sinn der Arbeiterklasse an und für sich kann also nicht die Besserstellung einiger Privilegierter unter sich permanent verschärfenden Bedingungen für große Teile der Weltbevölkerung sein. Es kann daher nicht von einer Ausweitung der Macht (verstanden als Verfügbarkeit über Mittel, um Prozesse und Entscheidungen im eigenen Sinn beeinflussen zu können) von Hochqualifizierten in einer neoliberalen Gesellschaft gesprochen werden. Ihr Machtpotential ist ein Ohnmachtspotential durch die Internalisierung herrschender Interessen und Ziele, die einen spaltenden Charakter hat. Die bestehenden Klassenverhältnisse und -widersprüche werden so verdeckt und geleugnet (und es gibt nicht nur die 2 Klassen der Lohnarbeiter und Kapitalisten, unsere Gesellschaft zeichnet sich durch eine Pluralisierung des bipolaren Klassenverhältnisses und die gesellschaftliche Zerteilung und Territorialisierung durch eine Vielzahl von Linien, die sich überschneiden, aus). Die Arbeiterklasse als immer ohnmächtigeres Subjekt in der Kontrollgesellschaft kann immer unwahrscheinlicher von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden. Die höher Qualifizierten haben durchwegs ein Potential zu ihrer eigenen individuellen Besserstellung, diese steht jedoch im Widerspruch zur Besserstellung der gesamten Arbeiterklasse.

Es ist noch nicht absehbar, inwiefern kontrollgesellschaftliche Mechanismen wie neue, dezentralisierte und enthierarchisierte Organisationsformen oder partizipatorisches Management, das sich oftmals in seiner europäischen und amerikanischen Variante am japanischen Disziplinarmodell orientiert, "erfolgreich" im Sinne von tatsächlicher Identifikation und Mehrleistung sind bzw. sein werden/können. Meine Vermutung lautet, daß es in höher qualifizierten Berufen, die dementsprechend besser bezahlt sind, vielfach zu einer solchen tatsächlichen Identifikation kommt, während in niedrig qualifizierten oder prekären Arbeitsverhältnissen dies maximal eine Scheinidentifikation, die aber die Wahrnehmung des Arbeitsprozesses als immer mehr entfremdeten Prozeß gleichzeitig vorantreibt, sein kann. Die Verstärkung von Entfremdungswahrnehmungen als Wirkmöglichkeit kontrollgesellschaftlicher Mechanismen ist in letzterem Fall also anzunehmen.

Die Illusion, nicht mehr für den Vorgesetzten, sondern für sich selbst zu arbeiten, die scheinbare Individualisierung durch erweiterte Wahlfreiheit des/der Einzelnen im Betrieb, der Sinn des Betriebes als Eigensinn und die Transformation der betrieblichen zur persönlichen Sache ermöglichen das Begreifen des beruflichen Scheiterns und Mißerfolges als individuelle Schuld. Die Abstrahierung struktureller und ökonomischer Verhältnisse stilisiert das Individuum zum schuldigen Einzeltäter. Das Argument der Parasitierung der Gesellschaft durch Arbeitsunwillige ist dabei schnell zu Hand. Trotz aller "Partizipation" bleiben die wesentlichen Entscheidungen hinsichtlich Produktionsverhältnissen, Rahmenbedingungen und Profitaspekten Angelegenheit einer elitären Klasse. Der Herrschaftscharakter des Kapitalismus bleibt durch die neuen kontrollgesellschaftlichen Mechanismen unangetastet, die Verfügbarkeit über Zwangsmittel, um klassenspezifische Interessen durchzusetzen, bleibt erhalten, diese Mittel müssen unter gewissen Bedingungen jedoch immer weniger eingesetzt werden, Disziplinen werden zunehmend durch Kontrollen ersetzt. Die Selbstdisziplinierung der Arbeitenden unter dem Gefühl der verstärkten Mitbestimmung ist die beste Kontrolle, die sich die Arbeitgeber wünschen können. Ich sehe die neuen Arbeitsweisen also nicht als Chance und den Postkapitalismus antizipierende Keimform, sondern als Ohnmachtsstrategie des Kapitals, die die Arbeiterklasse spaltet.

Selbstverwaltete Betriebe und Tauschringe sind damit konfrontiert, daß sie innerhalb der kapitalistischen Logik agieren müssen. Eine politische Keimform muß meiner Ansicht nach selbstorganisiert sein und daher die Fremdorganisation vermeiden. Genauso kann eine ökonomische Keimform meiner Ansicht nach nur Keimform sein, wenn sie bürgerliche Prinzipien, also auch den Tauschwert, negiert. Denn in einer Gesellschaft, in der der Tauschwert nicht aufgehoben ist, bestehen auch weiterhin ungleiche Verteilungen. Tauschringe ersetzen das allgemeine Äquivalent des Geldes z.B durch Gutpunkte, dies ändert jedoch nichts an der Akkumulationsmöglichkeit. Ob Geld oder Gutpunkte oder sonstwas akkumuliert wird, ist völlig egal, denn all dies kann die Basis von Ungleichheit darstellen. Daher stelle ich in Frage, daß Tauschringe eine nachkapitalistische Gesellschaft antizipieren. Sie reproduzieren vielmehr die auf Tauschwert basierenden Strukturen und versuchen nicht, diese in kleineren Strukturen aufzuheben. Wer sie dennoch als Keimform ansieht, redet einer weiterhin auf Tauschwerten basierenden Gesellschaft das Wort.

Marx verurteilte Proudhons Ansatz der Tauschbank als kleinbürgerlich, da dieser Ansatz nicht über den Kapitalismus hinausweise. Er schlug aber genau dieses Modell für das "Reich der Notwendigkeit", also dem Kommunismus in seiner roher Form, der sich noch nicht vollständig von bürgerlichen Vorstellungen lösen kann, vor (siehe die Kritik des Gothaer Programms). Marx sprach sich jedoch im Unterschied zu Proudhon prinzipiell für die Aufhebung des Tauschwertes aus. Hier wird im Gegensatz zu Marx und Schlemm in Frage gestellt, daß eine Übergangsphase, die auf dem Tauschwert basiert, zum "Reich der Freiheit" führt und die Ansicht vertreten, daß Freiheit und Selbstorganisation unmittelbar realisiert werden können und müssen. In einem Reich der Notwendigkeit existieren Herrschaftsstrukturen. Und diese sterben nicht von selbst ab, sondern Herrschende wollen ihre Herrschaft prolongieren und ausweiten.

An Konzepten der Arbeiterselbstverwaltung kann kritisiert werden, daß dabei oft davon ausgegangen wird, daß die Arbeiter einer Fabrik die hergestellten Produkte selbst besitzen sollen und sie gegen andere tauschen sollen. Auch dies geht über die bürgerliche Kategorie des Tauschwertes, der eine Basis von Ungerechtigkeit ist, nicht hinaus.

Problematisch erscheint auch die Orientierung Annette Schlemms an Frithjof Bergmanns New Work-Konzept. Dieser geht davon aus, daß es die Möglichkeit geben sollte, daß die Menschen für sich selbst arbeiten und das tun sollen, was sie "wirklich, wirklich wollen". "Doing what you love" lautet das Prinzip. New Work sei ein Konzept, mit Hilfe dessen, so Bergmann, eine win-win-Situation für Arbeitgeber und Arbeitnehmer hergestellt werden könne. Es geht ihm also nicht um die Aufhebung der auf Geld, Profit und Wert basierenden bürgerlichen Gesellschaft, und daher ist es auch kein Wunder, daß sich im Zeitalter der Kontrollgesellschaft immer mehr Kapitalisten für New Work interessieren. Identifikation der Arbeitenden mit dem Betrieb? Liebe zu ihrer Lohnarbeit? Dazu sagen Kapitalisten nicht nein, sondern ja zu einer neuen kontrollgesellschaftlichen Strategie, die den Ausgebeuteten die Mehrwertproduktion akzeptabel erscheinen läßt. Die meisten New Work-Versionen wollen aus den Menschen Kleinunternehmer machen, denen ihre Arbeit Spaß macht. Die kapitalistische Produktionsweise wird dabei selten in Frage gestellt. "Wirklich, wirklich" antikapitalistische, ökonomische Keimformen kann es nur durch die Infragestellung von Wert, Ware, Tausch, allgemeinem Äquivalent, Lohnarbeit, Profit und Mehrwert und den Versuch einer entsprechenden Realisierung innerhalb und gegen bestehende Strukturen geben. Jene Versuche, die Bergmanns Ansatz solidarisch-kritisch in Frage stellen und trotzdem an einer Keimform festhalten, sind daran zu messen, ob diese Projekte die bürgerlichen Kategorien tatsächlich in Frage stellen oder ob sie diese reproduzieren und auf ihr langsames Absterben hoffen.

Zusammenfassend kann zur Diskussion um ökonomische Keimformen des Postkapitalismus gesagt werden, daß es scheinbar zwei unterschiedliche Argumentationslinien gibt: Eine geht davon aus, daß es bereits Ansätze gibt, die in ihrem Innenverhältnis die kapitalistischen Verhältnisse transzendieren und daß diese trotz ihrer niemals innerhalb der bestehenden Verhältnisse erreichbaren Unabhängigkeit von der bürgerlichen Logik eine postkapitalistische Gesellschaftsformation antizipieren. VertreterInnen dieser Position nennen z.B. Projekte wie das Institut für Neue Arbeit INA e.V., "Arbeit für Wolfen", Verein Neue Arbeit e.V. der Stiftung Bauhaus Dessau, den "Förderkreis neue Arbeit", den Verein EigenArt aus Thüringen oder dem Tauschring "Saaletaler" als Keimformen postkapitalistischer Zustände.

Eine andere Position, die hier vertreten wird, geht davon aus, daß eine Antizipation postkapitalistischer Verhältnisse in Art und Weise einer Keimform nur erreicht werden kann, wenn die bürgerliche Logik dabei weitgehend transzendiert wird. Insbesonders wird dabei die Notwendigkeit der Aufhebung des Tauschwertes in solchen Projekten betont und die Ansicht vertreten, daß es sich bei angeblichen Keimformen, die in bürgerlichen Kategorien wie Tauschwert oder Herrschaft verharren, um leicht funktionalisierbare Vorhaben handelt, mit Hilfe derer neue Managementmethoden und kontrollgesellschaftliche Mechanismen (Identifikation, Mitbestimmung, Spaß an der Arbeit, usw. INNERHALB des Kapitalismus) durch die Kapitalistenklasse getestet werden, um neue Taktiken der Ohnmacht, Spaltung und der Konservierung bestehender Verhältnisse auszuprobieren und zu realisieren

Die erste Herangehensweise steht einer Position näher, die ein langsames Hinüberwachsen in eine neue Gesellschaft für möglich hält, wobei es möglicherweise eine Art "Übergangsphase" oder "Reich der Notwendigkeit" gibt. Die zweite vertritt eher die Position der Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen, um nachökonomische Projekte zu realisieren. Die Übergänge sind dabei aber unscharf.

Zur Frage ob es sich bei Linux und der kooperativen Produktion im Internet um eine antizipatorische Keimform des Postkapitalismus handelt sei gesagt, daß sich dabei entstehende Produkte nicht der kapitalistischen Reproduktion entziehen können, da sie eine Basis weiterer Kapitalakkumulation sind. Netscape, Microsoft, die US-Army und Konsorten freuen sich über das gratis zur Verfügung gestellte Wissen und können dadurch ihren variablen Kapitalanteil senken sowie das Know-How kapitalisieren. Die informatischen Postkapitalisten werden damit zu den nützlichen Idioten der Ware und der postfordistischen Kapitalakkumulation. Ein häufiges Argument in diesem Zusammenhang ist auch, daß es besser ist, wenn kleinere Kapitalisten Marktanteile gewinnen und Microsoft & Co. geschwächt werden. Dies könne der Monopolisierung entgegenwirken und daher sei es vorzuziehen, jene Waren zu konsumieren, die von den "Guten" produziert werden. Das Objekt der Kritik ist hier dann das Monopolkapital und nicht der Kapitalismus im allgemeinen. Die Kritik entstellt sich damit der Kritik und wird zur kleinbürgerlichen Philosophie. Es wird dabei unterstellt, daß der Kapitalismus reformierbar sei und daß eine "gute" Akkumulation möglich ist, wenn sie nur nicht monopolförmig ist. Auf die art: little guys beating a monopoly. Früher war da das "gute" schaffende und das "böse" raffende Kapital. Und das "böse" wurde als jüdisch identifiziert und die Konsequenzen kennen wir. In genau diese ideologische Schiene gehen derartige Versuche, die "gute" und "schlechte" Aspekte des Kapitalismus identifizieren und diese gegeneinander ausspielen. Der "gute" keynesianistische Kapitalismus und der "böse" neoliberale Kapitalismus. Der "böse" Turbokapitalismus, Raubtierkapitalismus, Casinokapitalismus, mörderische Kapitalismus, usw. (denn das heißt auch: es gibt einen "guten" Kapitalismus, auf den diese Attributierungen nicht zutreffen). Das "gute" nationale kapital und das "böse" globale Spekulationskapital...usw.

Diese Spaltungen in bessere und schlechtere Formen des Kapitalismus und des Kapitals stellen eine ideologische Nische zur Verfügung, die nur mehr entsprechend besetzt werden muß, um entsprechende Attributierungen (jüdisch, ausländisch, usw.) vorzunehmen. Bei George Soros ist das z.B. oft der Fall in Form antisemitischer Angriffe.

Generell gilt: Jede Spielart des Kapitalismus ist ausbeuterisch, herrschafts-, wert-, waren-, profitförmig, menschenverachtend, ausgrenzend, ungleichheitenproduzierend. Moralische Differenzierungen sind hier fehl am Platz.

Eine Gegenposition zur hier vertretenen ist, daß es bei Linux und vergleichbarem einen sich verwertenden Bereich gibt, daß aber nichtsdestotrotz Projekte existieren, die sich der Verwertung entziehen und in denen eine Selbstentfaltung möglich ist, die postkapitalistische Zustände antizipiert. Hierbei sei insbesonders auf die Texte auf der Internet-Homepage http://www.kritische-informatik.de verwiesen.

Die hier aufgezeigte Gefahr ist keine, die auf die Argumentationsweise von Annette Schlemm zutrifft. Sie soll nur klar machen, warum ich äußerst vorsichtig bin bei einer positiven Bewertung von ökonomischen Strukturen, die sich innerhalb des Kapitalismus bewegen, aber den Postkapitalismus für sich beanspruchen. Ich sage dabei nicht, daß eine ökonomische Keimform unmöglich ist, sondern, daß es schwierig ist, sie zu realisieren und daß ich daher von einem Primat politischer Keimformen als emanzipatorische Strukturen ausgehe. Vorstellbar sind jedoch sehr wohl ökonomische Strukturen innerhalb des Kapitalismus, in der Tauschwert, Profit, Mehrwert, Geld, allgemeines Äquivalent, Lohnarbeit und das Leistungsprinzip der freien Güterproduktion und -verteilung weichen. Vereinzelt gibt es dafür Beispiele (z.B. Volksküchen).

Was Annette Schlemms Arbeit leistet, ist, daß sie das Selbstorganisationskonzept in einem Sinn emanzipatorisch nutzbar macht, der dem Mainstream der Theorien sozialer Selbstorganisation (Luhmann & Co., denen es vorwiegend um die Konservierung des Bestehenden geht und die Bereiche wie soziale Veränderung und soziale Probleme oftmals aus ihren wissenschaftlichen Kategorien entfernt haben) entgegensteht. An der Tagesordnung ist es nämlich innerhalb der Systemtheorie, daß die Selbstorganisationstheorie benutzt wird, um den Neoliberalismus zu legitimieren. Eine ökonomische Steuerung sei in selbstorganisierenden Systemen nicht möglich, da auf Grund des hohen Komplexitätsgrades der Gesellschaft kleine Ursachen große Wirkungen haben könnten. Die einzig akzeptable Lösung sei daher die Selbststeuerung der Ökonomie ohne staatliche Eingriffe. Daß der Kapitalismus und der Neoliberalismus verheerende soziale Auswirkungen mit sich bringen spielt für diese Apologeten des freien Marktes keine Rolle, eine Infragestellung kapitalistischer Strukturen als Ursache gesellschaftlicher Probleme sowieso nicht. Umso wichtiger ist es, daß Arbeiten wie jene von Annette Schlemm auf die Probleme und Ungleichheiten, die durch den Kapitalismus produziert werden, hinweisen und versuchen, dem Konzept sozialer Selbstorganisation einen emanzipatorischen Charakter zu geben. Dies ist in einer Zeit, in der der Kapitalismus als der historische Sieger im Systemvergleich und als quasi einzig "funktionierendes" und akzeptables Gesellschaftssystem gilt, umso wichtiger. Daß dieses System nämlich tatsächlich nicht funktioniert, zeigt die permanente Verschärfung der globalen Probleme (Armut, ökologische Krise, imperialistische Kriege, ungleiche Ressourcenverteilungen, Dequalifizierung, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, usw.).

Das vorliegende Buch bietet eine Analyse der heutigen Veränderungen des Kapitalismus sowie der damit einhergehenden Probleme und ist ein Manifest für die basisdemokratische Selbstorganisation der Menschen als Basis einer herrschaftsfreien, selbstorganisierten, föderal-vernetzten postkapitalistischen Gesellschaft, in der Wert, Ware, Profit und Lohnarbeit aufgehoben sind und der "Wohlstand für alle" (Kropotkin) realisiert werden kann. Methodologisch gesehen wird die Selbstorganisationstheorie dialektisch gefaßt und mit marxistischer Gesellschaftstheorie in Verbindung gebracht. Inhaltlich wird ein breites Spektrum von wichtigen Aspekten gesellschaftlicher Entwicklung erfaßt: der Fetischcharakter des Kapitalismus, das Verhältnis von Technik und Gesellschaft im Kapitalismus und in nachökonomischen Gesellschaften, allgemeine Evolutionsprinzipien, die Evolution der Gesellschaft, das Verhältnis Mensch - Natur - Gesellschaft, eine wert- und regulationstheoretische Analyse des Kapitalismus, die Pflicht zur Faulheit, ökonomische Krisen, die globalen Probleme, Globalisierung, soziale Polarisierungen, die Aktualität und Notwendigkeit marxistischer Gesellschaftsanalyse, Fordismus, Postfordismus, Toyotismus, nachökonomische Gesellschaftsformen, nachhaltige Entwicklung, Cyberspace, die Rolle des Staates in der globalisierten Ökonomie, Wege der Gesellschaftsveränderung, das Verhältnis von Reform und Revolution und soziale Bewegungen sind nur einige davon. Diese Aspekte erwecken keinen fragmentarischen Eindruck, sondern werden zu einer umfassenden Kapitalismuskritik und zu einer emanzipatorischen Perspektiven integriert.

Die hier vorgebrachte Kritik an den "Keimformen für andere Wirtschaftsweisen" sollte als eine solidarisch-kritische verstanden werden, die die Notwendigkeit emanzipatorischer Herangehensweisen im Bereich der Selbstorganisationsforschung betont und ihre Realisierung begrüßt. All jenen, die Interesse an visionärer und kritischer Gesellschaftsanalyse haben, sei dieses Buch wärmstens empfohlen.

Annette Schlemm
Daß nichts bleibt, wie es ist...: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung, Band II: Möglichkeiten menschlicher Zukünfte (Selbstorganisation sozialer Prozesse)
224 S., Münster, LIT-Verlag, 1999

Back to Main

Mail