Zu einigen Parallelen
und Differenzen im Denken von Günther Anders und Herbert Marcuse
In: Röpcke, Dirk/Bahr, Raimund (Hrsg.) (2002) Geheimagent der Masseneremiten – Günther Anders. Edition Art & Science. ISBN 3-902157-02-X. S. 113-127
Günther Anders lebte während seiner Emigration zeitweise in Marcuses Haus in Kalifornien, wie dieser bewarb er sich aus antifaschistischen Gründen im Office of War Information (OWI), aus dem er jedoch im Gegensatz zu Marcuse nach kurzer Zeit ausschied, da er den politischen Wind, der dort wehte, nicht mittragen wollte (Anders 1979: 309f). Nach 1945 war ein persönliches und philosophisches Verhältnis der beiden quasi nicht existent, obwohl es doch – wie wir zeigen möchten – einige Parallelen im Denken gab.
Anders verstand sich selbst als „Gelegenheitsphilosoph“ und „prognostischer Hermeneutiker“, auf akademische Anerkennung und wissenschaftlichen Diskurs legte er keinen Wert. In der Situation höchster Gefahr, sei die akademische Philosophie mit ihren „stereotypen philosophischen Schulausdrücken“ (Anders 1979: 316) nicht angebracht, es sei angesichts der Apokalypsegefahr gar unmoralisch, Texte, die nur Akademiker lesen, zu schreiben. „Wenn atomare Sprengköpfe lagern, kann man sich nicht damit aufhalten, die Nikomanische Ethik zu deuten“ (ebd. 319). Marcuse verstand sich hingegen als wissenschaftlicher Vertreter einer kritischen Philosophie. Eine kritische Philosophie könne durch Phantasie über das Vorhandene hinausgehen und Zukunft vorwegnehmen (MS 3: 245). Befreiung und Humanisierung benötige eine Einheit von Theorie und Praxis, kritische Theorie solle die Möglichkeiten der Veränderung verdeutlichen und dadurch Praxis anleiten (MS 9: 143ff). Dazu müsse sich die Sprache der kritischen Philosophie aber vom eindimensionalen Universum abheben (EM: 207), sie sei notwendig abstrakt, müsse gleichzeitig aber mit der Praxis vermittelt werden und an der Befreiung des Menschen orientiert sein, um kritisch zu agieren.
Trotz dieser Unterschiede ist Anders und Marcuse gemeinsam, dass beide ihr Schreiben als politisches verstanden, das in bestehende Kämpfe interveniert. Konsequent ist für beide daher auch das politische Engagement auf Grund einer Besorgnis um die Menschheit. Diese Praxisorientierung unterschied sich freilich. Marcuse betonte einerseits die Unterbindung sozialen Wandels, andererseits aber auch immer, „dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können“ (EM: 17). Die Protestbewegungen der 60er hätten das Thema der Befreiung wieder aktuell gemacht, „sie haben die Idee der Revolution dem Kontinuum der Unterdrückung entzogen und sie mit ihrer wahren Dimension verknüpft – der von Befreiung“ (MS 8: 243). Für Anders war Revolution hingegen kein aktuelles Thema, er ging schließlich sogar davon aus, dass durch die moderne Technik evtl. „die Möglichkeit politischer Revolutionen zum Verschwinden gebracht worden ist“ (Anders 1987). Seine Praxisorientierung war zunächst auf die Erhaltung der Welt ohne Illusionen und Hoffnungen orientiert. „Heute genügt es nicht, die Welt zu verändern, es kommt darauf an, sie erst einmal zu bewahren“ (Anders 1979: 320). Erst wenn diese Erhaltung sichergestellt sei, sei die Frage nach der Verbesserung der Welt relevant. Marcuse sah hingegen eine materielle Grundlage der Freiheit als bereits gegeben und hoffte auf deren Realisierung durch aktive Subjekte. Für Anders war ein solches Hoffen (wie vor allem auch bei Ernst Bloch) nicht angebracht, der Mensch sei gerade noch, die Zukunft habe angesichts der atomaren Drohung schon geendet (vgl. AM 2: 20, 277f, 412f, 452). Gemeinsam ist beiden die Sorge um die Menschheit, der Hinweis auf die Gefahren der Spätmoderne und das daraus resultierende Engagement für die Vermittlung von kritischem Denken und Praxis. Die eher optimistische bzw. pessimistische Grundhaltung resultieren z.T. in unterschiedlichen Auffassungen von Begriffen, wobei Anders vorwiegend an der immanenten Kritik und Marcuse zusätzlich an den Kapitalismus transzendierenden Kategorien orientiert war. Für Anders gibt es kein kritisches Außen, alles konformiere (AM 2: 102, 141), für Marcuse besteht immer die Möglichkeit von negierenden Kräften, die in Bewusstsein und Praxis außerhalb der bestehenden Totalität gegen diese wirken (MS 8: 196ff). Wichtig sei dabei auch die Phantasie, die als „Hinausgehen über das Vorhandene ... die Zukunft vorwegnehmen“ könne (MS 3: 245). Für Anders hingegen ist die Phantasie in der Spätmoderne bereits antiquiert.
Für Marcuse besteht das Wesen des Menschen im Streben nach Freiheit, dieses sei jedoch in der bürgerlichen Gesellschaftsformation entfremdet. Für Anders ist das Wesen des Menschen undefinierbar und unbeständig, er könne sich nur durch das, was er aus sich selbst macht, definieren. Das Wesen des Menschen sei, dass er kein Wesen habe, sein Leben sei notwendig „künstlich“, d.h. kulturell produktiv.
Während Anders’ Emigrationszeit in Kalifornien, fanden ab und zu Diskussionsveranstaltungen des Instituts für Sozialforschung statt, an denen neben ihm und den Institutsmitgliedern u.a. auch Bertolt Brecht und Hanns Eisler teilnahmen. Der Wortlaut eines derartigen Seminars, an dem Anders und Marcuse teilnahmen, über die „Theorie der Bedürfnisse“ vom Juli und August 1942 ist in den Horkheimer-Schriften (Band 12, S. 559-586; Adorno et al. 1942) abgedruckt. Anders vertrat dabei in seinem Referat „Thesen über Bedürfnis, Kultur, Kulturbedürfnis, Kulturwerte, Werte“ (25.8.1942, Adorno et al. 1942, S. 579ff) wiederum die Ansicht, dass Künstlichkeit die Natur des Menschen sei. Die Nachfrage des Menschen überschreite das Angebot der Welt, daher müsse der Mensch die bedürfnisstillende Welt produzieren und kultivieren. Von Kultur könne dann gesprochen werden, wenn die Wirtschaft Bedürfnisse im Menschen produziert, um Profit zu realisieren. Die Kultivierung nehme dabei also Herrschafts-, Wert- und Kapitalform an. Als Resultat würden Kulturwerte im Sinn des ökonomischen Tauschwerts entstehen. Kultur ist in diesem Zusammenhang für Anders eine Kategorie, die typisch für die kapitalistische Gesellschaftsformation ist. In der anschließenden Diskussion, an der neben Anders und Marcuse noch Adorno, Brecht, Eisler, Horkheimer, Ludwig Marcuse, Pollock, Reichenbach und Viertel teilnahmen, unterstützte Marcuse Anders’ Ansicht, dass es auf früheren Entwicklungsstufen wie der Antike keine Kunst gab. Vor allem Adorno und Horkheimer wendeten gegen Anders’ Kulturbegriff ein, dass in Kultur auch Ahnungen stecken von dem Zustand, in dem es keine Herrschaft gibt. Marcuses Kulturbegriff war an diese Vorstellungen angelehnt: So definierte er Kultur in „Über den affirmativen Charakter der Kultur“ (MS 3: 186-226) allgemein als Gesamtbereich der ideellen und materiellen Reproduktion (MS 3: 192), der im Kapitalismus antagonistisch und affirmativ werde und dadurch zur Herstellung falschen Bewusstseins beitrage. Vor allem die Kunst als Teil der Kultur könne aber heute bereits den Vorschein auf ein Leben in Freiheit und Glück transportieren. aber. Auch in „Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur“ (MS 8:115-135) besetzt Marcuse den Kulturbegriff positiv als eine transzendente Kategorie, die für geistige Arbeit, Feiertag, Muße, Reich der Freiheit, Geist und nichtoperationales Denken stehe. Dem stehe die Zivilisation gegenüber, die im Gegensatz dazu materielle Arbeit, Arbeitstag, Arbeit, Reich der Notwendigkeit, Natur und operationelles Denken bedeute.
Für Anders ist der Mensch der Spätmoderne antiquiert, für Marcuse eindimensional. Das Vorstellen des antiquierten Mensch bleibe hinter dem Machen zurück, es gebe eine Diskrepanz zwischen der wachsenden Zerstörungskapazität der Technik und dem menschlichen Unvermögen, sich die Gefahren und katastrophalen Folgen vorzustellen. Der eindimensionale Mensch (vgl. Fuchs 2001a) werde durch die sozialen Kontrollen in seinem Denken und seiner Sprache derart geprägt, dass „ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens“ entsteht, „worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden“ (EM: 32). Es kann gesagt werden, dass Antiquiertheit und Eindimensionalität wechselseitig vermittelt sind: Die Eindimensionalität ist der Antiquiertheit förderlich, die Herstellung letzterer bedient sich wiederum der Erzeugung eindimensionalen Denkens. Der Durchsetzung von beidem liegen spezifische Machtinteressen zugrunde. Die Apokalypseblindheit bedient sich der Eindimensionalität, die Eindimensionalität fördert diese wiederum.
Der Mensch, so Anders, sei heute verändert, wer von seinem Wesen spreche sei eine gestrige Figur, denn dieses Wesen sei endgültig und irrevokabel (AM 2: 9). Marcuse hält im Gegensatz dazu die Realisierung des heute entfremdeten menschlichen Wesens durch und nach gesellschaftlicher Revolution für möglich. Auch diese Befunde sind auf eine eher pessimistische bzw. optimistische Grundeinschätzung zurückzuführen.
Für Anders und Marcuse waren soziale Kontrollen und die Unterbindung sozialen Wandels mittels Waren und Techniken als typische Phänomene der Spätmoderne zentrale Themen. Anders ging davon aus, dass Bedürfnisse heute künstlich produziert (AM 2: 16) und dem Menschen aufgeprägt werden (AM 1: 171f): „Unsere Bedürfnisse sind nun nichts anderes mehr als die Abdrücke oder die Reproduktionen der Bedürfnisse der Waren selbst“ (AM 1: 178). Marcuse und Anders sprechen in diesem Zusammenhang beide von der Herstellung falschen Bewusstseins. „Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewusstsein, das gegen seine Falschheit immun ist“ (EM: 32). Resultat ist laut Marcuse auch das „Glückliche Bewusstsein“ (EM: 98, 103), dass das Bestehende als vernünftig anerkennt, da das System die Güter liefert. Analog dazu erwähnt Anders, dass dem Menschen das Produkt als wahr gelte, wenn es in der Verwendung funktioniert (AM 1: 189).
Die Seele, so Anders, werde derart bearbeitet, dass sich die Sinne weigern, Tatsachen wahrzunehmen (AM 2: 62f), die Lust zum Widerstand schwindet, ehe sie aufkeimt – der Widerstand der Welt werde unspürbar (AM 1: 194). Unterhaltung sei Terror und das subtile Mittel der Manipulation, diktatorische Systeme könnten damit nicht in Konkurrenz treten, seien bereits veraltet (AM 2: 136f). Gleichgeschaltet werden und sich gleichschalten würden immer einhergehen (AM 2: 146f), der Mensch entbehre aber bereits immer stärker jedem aktiven „sich-gleichschalten“ (AM 2: 193, 204).
Der Mensch im Spätkapitalismus ist für Anders kein Konformist mehr, sondern ein Kongruist, bei dem sich der Inhalt seines Seelenlebens mit den ihm zugedachten Inhalten deckt (AM 2: 149, 186, 193ff). Durch den Erwerb werde der Konsument „mit dem Erworbenen ... kongruent“ (AM 2: 171). Marcuse benutzt für dieses Phänomen den Begriff der Introjektion (EM: 30), die von der Gesellschaft ausgeübte Kontrolle werde im Bewusstsein der Menschen reproduziert. „Das Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimesis: eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem Ganzen“ (EM: 30). Das „glückliche Bewusstsein“ der Konsumenten, so Marcuse, bedeute einen „neuen Konformismus“ (EM: 103).
Marcuse prägte den Begriff der repressiven Toleranz für das Phänomen, dass im Spätkapitalismus zwar alternative Gedanken ausgesprochen werden könnten, diese aber „nach dem massiven Maßstab der konservativen Mehrheit (außerhalb solcher Enklaven wie der Intelligenz) sofort ‚bewertet’ (das heißt: automatisch verstanden)“ werden „im Sinne der öffentlichen Sprache“ (MS 8: 146). Ähnlich erwähnt Anders, dass das Aussprechen von Wahrheiten sei sogar manches mal erlaubt sei, „da diese innerhalb des Rahmens der massiv falschen Welt kraftlos bleiben“ (AM 2: 190). Dies bringt die Überzeugung beider zum Ausdruck, dass die Spätmoderne ein totalitäres Ganzes darstelle, das sich den Menschen subtil einprägt. „Der Totalitarismus ist nämlich nicht nur eine terroristische politische Koordination der Gesellschaft, sondern auch eine nicht-terroristische wirtschaftlich-technische Koordination, die Bedürfnisse nach ökonomischen Interessen manipuliert und so die Entstehung einer wirksamen Opposition gegen das durch diese Interessen organisierte Ganze verhindert“ (Marcuse 1999: 57).
Der Spätkapitalismus, so Anders, benötige zur Herstellung falschen Bewusstseins kaum noch Ideologien, da die Menschen durch die modernen Technologien bereits umfassend angepasst seien. Daher könne durchwegs von der Entideologisierung (AM 2: 166), einer Antiquiertheit der Ideologien (AM 2: 188ff) und einer post-ideologischen Welt gesprochen werden (AM 1: 195). „Da das Ideologische in die Produkte- (namentlich in die Geräte-)Welt selbst eingegangen ist, stehen wir nun bereits in einem nach-ideologischen Zeitalter“ (AM 2: 190). Die manipulierenden Bilderwelten seien auch aus dem Grund keine Ideologien, da solche immer umfassende Systeme dargestellt hätten (AM 2: 261). Marcuse sieht ebenfalls das Phänomen, dass „heute die Ideologie im Produktionsprozess selbst steckt“ (EM 31), teilt jedoch nicht Anders’ Einschätzung, dass dies ein „Ende der Ideologie“ bedeute. Vielmehr sei gerade wegen dieser Tatsache die fortgeschrittene Industriegesellschaft ideologischer als ihre Vorgängerin. Ideologie bestehe vor allem auch in der Tatsache, dass diejenigen Begriffe aus der Sprache eliminiert werden, die fähig sind, zu verstehen, was geschieht (EM: 192). Während für Anders die Spätmoderne also postideologisch ist, gewinnen für Marcuse Ideologien neue, veränderte Bedeutung. Diese unterschiedlichen Einschätzungen zeigen sich auch bereits darin, dass Marcuse sein Hauptwerk mit „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ untertitelt.
Marcuse und Anders stimmen in der Einschätzung überein, dass die moderne Technik heute zerstörerische und entfremdende Wirkungen nach sich ziehe. Mit der Ansicht, Technologie sei „ein Mittel der Kontrolle und Herrschaft“ (MS 3: 286) beziehen sich beide auf Lewis Mumford.
Beim Leser des „Antiquierten Menschen“ mag auf den ersten Blick der Anschein entstehen, dass Anders häufiger fetischierend von einer Herrschaft der Technik, nicht von einer Beherrschung des Menschen durch den Menschen vermittels der Technik ausgeht. So spricht er etwa von einer Ding- und Apparatewelt, in der es auch Mitmenschen gebe (AM 2: 60), von der Herrschaft der Maschinen über den Menschen (AM 2: 69, 74), der Diktatur der Technik (AM 2: 107), dem Totalitarismus der Geräte (AM 2: 109) und der Technik als heutigem Subjekt der Geschichte (AM 2: 279f, 289f). Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Anders wie Marcuse von der sozialen Konstruktion der Technik als Herrschaftstechnik ausgeht. So etwa, wenn er verdeutlicht, dass der fundamentale Neutralisator wirtschaftlicher Natur sei und im Warencharakter aller Erscheinungen gegeben sei (AM 1: 121) oder dass die Person durch die faktische Behandlung des Menschen durch den Menschen zur Sache gemacht werde (AM 1: V).
Anders erkannte die Tendenz zur Vernetzung der Technologien und die Gefahren der Großtechnologien. Es gebe eine Tendenz dazu, dass Maschinen zu einer einzigen Maschine werden (AM 2 120). Auch hier wird Anders Anlehnung und Mumford und dessen Konzept der „Megamaschine Technik“ deutlich. Mit der Vernetzung wachse auch die Gefahr der Katastrophe. Ausgehend von der selben Erkenntnis beschrieb Charles Perrow (1987) Hochrisikotechnologien als eng gekoppelte Systeme mit komplexen Interaktionen der Systemelemente. Nach einer Reihe moderner Katastrophen wie Tschernobyl und der damit einhergehende Erosion des Vertrauens in Expertensysteme, wird heute immer häufiger die Ansicht vertreten, technische Systeme müssten partizipativ und dezentral gestaltet werden. Freilich fehlt es dieser Forderung bisher an gesellschaftlichem Unterbau.
Der Unterschied zwischen der vorwiegend immanenten Beschreibung von Begriffen als repressiv durch Anders und der Suche nach transzendenten Inhalten bestimmter Kategorien durch Marcuse wird auch in Hinsicht auf den Technikbegriff deutlich. Anders möchte im Gegensatz zu Marcuse nicht über eine andere Technik in einer freien Gesellschaft nachdenken, da Technik heute die drohende Katastrophe bedeute. An manchen Stellen betont Anders, dass es eine Illusion sei, die Technik für humane oder soziale Zwecke einzusetzen (AM 1: 99), an anderen deutet er äußerst vorsichtig an, dass es unter bestimmten Umständen auch ein Ja zu bestimmten Techniken geben sollte (AM 2: 126f). Die Dialektik der Technik besteht für Anders darin, dass sie in die gesellschaftlichen Antagonismen eingebunden ist und daher potentielle Gefahren nach sich zieht (AM 2: 126). Marcuse sieht auch eine Dialektik im Technikbegriff selbst gegeben, womit er meint, dass Technik und Gesellschaft in einem wechselseitigen Verhältnis stehen und Technik nicht von ihrem Gebrauch abgelöst werden könne (vgl. Fuchs 2002b). Wie Marx (vgl. 1867: 465) wendet er sich gegen Maschinensturm und Technikfetisch, denn die „Feinde der Technik arbeiten bereitwillig der terroristischen Technokratie in die Hände. Die Philosophie des einfachen Lebens, der Kampf gegen die Großstädte und deren Kultur dient gegenwärtig dazu, den Menschen Misstrauen den möglichen Instrumenten ihrer Befreiung gegenüber einzuflößen“ (MS 3: 315f).
Marcuse geht also davon aus, dass bestimmte Technologien (wie die Automationstechnik) qualitativ verändert unter transformierten gesellschaftlichen Bedingungen befreiend wirken könnten. Technisierung könne also grundsätzlich auch zur „Freiheit von harter Arbeit“ (EM: 145), einem Reich der Freiheit, „zur Befriedung des Kampfes ums Dasein“ (238f), einem „befriedeten Dasein“ (245f) und der „Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, ... Umwandlung der Freizeit in freie Zeit“ (263f) führen.
Anders und Marcuse teilen die Ansicht, dass Technik heute repressiv wirke, Marcuse ist im Unterschied zu Anders bestrebt, konkrete Utopien einer freien Gesellschaft und emanzipatorischen Technikeinsatz und -umgestaltung als reale Möglichkeit bereits heute in Betracht zu ziehen (vgl. Fuchs 2001b). Für Anders wäre dies erst nach Abwendung der bestehenden Gefahren denkbar, es sei „bloßes Gewäsch“ heute von einer möglichen „Aufhebung der Entfremdung“ zu sprechen (AM 2: 93).
Für A führt Automation zur Antiquiertheit der Arbeit, eine Existenz ohne Arbeit sieht er nicht wie Marcuse als Aussicht auf ein Reich der Freiheit, sondern als Perspektive eines „höllischen Daseins“ (AM 2: 27), da dadurch die Arbeit teloslos, anspruchslos und zu einem wartenden Kontrollieren der Maschine würde; und vor allem da dem Menschen die Nichtarbeit und ständige Freizeitunterhaltung unerträglich sein würden (AM 2: 98). „Schon heute sehe ich unsere Urenkel vor mir: Automationshirten und Arbeitslose, die sich nach der Fließband-Arbeit [...] zurücksehnen werden, weil diese Arbeit doch noch ein Minimum an Tun, also etwas vergleichsweise Humanes, dargestellt und sie der Mühe, die Zeit selbst totschlagen zu müssen, enthoben hatte“ (AM 2: 102).
Der Unterschied besteht nun darin, dass Marcuse zwar wie Anders die negativen Wirkungen der heutigen Technik in der Produktion eines „Millionenhaufen[s] von Arbeitslosen“ (AM: 2 94)[1] und in „Antreiberei, technologischer Arbeitslosigkeit, Stärkung der Position der Betriebsführung, zunehmende Ohnmacht und Resignation auf Seiten der Arbeiter“ (EM: 50) sieht, aber davon ausgeht, dass die Dialektik der Technik heute darin besteht, dass materielle Bedingungen einer freien Gesellschaft geschaffen werden, die unter kapitalistischen Bedingungen jedoch nicht realisiert werden könnten. Resultat davon sei die Zunahme gesellschaftlicher Probleme. Eine freie Gesellschaft müsste eine „neue Technik entwickeln“ (EM: 238), um ihr Wesen eines „Daseins in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse“ (EM: 242) zu ermöglichen. Für Marcuse gehen Begriffe wie Muße, Sieg über den Mangel, freie Zeit, geistige Arbeit, Feiertag, Reich der Freiheit, Geist und nichtoperationelles Denken über die bestehende Gesellschaftsformation hinaus. Er geht davon aus, dass sich in einer freien Gesellschaft auch die Triebstruktur des Menschen verändert, wodurch an Stelle des repressiven ein freies Realitätsprinzip trete und die heute auf Basis entfremdender Strukturen freigesetzten aggressiven und zerstörerischen Triebenergien in Energie der Lebenstriebe verwandelt werden könnte. Erst ein derart veränderter Mensch könne den Zuwachs an Freiheit sinnstiftend und zum Fortschritt aller nutzen.
Anders mag diese Vorstellungen durchwegs auch als wünschenswerte gesehen haben, ihm galt ein Nachdenken darüber aber nicht an der Tagesordnung. Daraus resultiert etwa auch der Unterschied, dass Marcuse Muße als transzendierende Kategorie des Noch-Nicht[2], Anders als repressive Kategorie bestimmte. Freizeit, so Anders, gelte dem Mensch heute als Nichtstun, dieses als Nichtkonsum und dieser wiederum als Not (AM 2: 140). Die Arbeit habe den Menschen „so endgültig daran gewöhnt, beschäftigt zu werden ..., dass er im Momnet, in dem die Arbeit beendet ist, der Aufgabe, sich selbst zu beschäftigen, nicht gewachsen ist ... Jede Muße hat heute heimliche Familienähnlichkeit mit Arbeitslosigkeit“ (AM 2: 139). An einer Stelle deutet Anders jedoch an, dass Muße dem Menschen einen „Raum der Freiheit“ bieten könne.
Anders hat seine zeitweise vertretene Ansicht, dass Technik
nur repressiv wirke, z.T. revidiert. Er sprach davon, dass die vom Fernsehen
erzeugte Welt gleichzeitig Phantom und Matrize sei: Sie sei weder die Realität,
noch ein Abbild davon, weder an- noch abwesend (Phantom, AM 1: 105, 111, 131)
und das Pseudo-Abbild werde zu einer neuen Wirklichkeit, in der sich das originale
Ereignis nach seiner Reproduktion zu richten habe (Matrize, AM 1: 111). Die
von den Medien präsentierte Wirklichkeit liege zwischen Sein und Schein, die
der Mensch verwechsle (AM 1: 141ff). Im Vorwort zur 5. Auflage des 1. Bandes
des Antiquierten Menschen zeigte sich Anders unzufrieden mit diesen Bestimmungen,
denn die Fernsehbilder über den Vietnamkrieg hätten viele zu Protest ermutigt.
Dies zeige, dass bestimmte Techniken in gewissen Situationen „zu geschichtlich
wichtigen Schritten motivieren können“ (AM 1: VIII). Die Wahrheit der dialektischen
Wirkungsweise moderner Technologien zeigt sich gerade heute an Hand der neuen
I&K-Systeme, die vielfach progressiv durch Protestbewegungen genutzt werden.
Anders und Marcuse waren beide Schüler Heideggers und eine gewisse Zeit lang
von ihm beeinflusst. Anders beeindruckte der „Durchbruch zur Ontologie“, der
Heidegger gelang (Anders 1979: 290), Marcuse sah in „Sein und Zeit“ eine „wirklich
konkrete Philosophie“ (Marcuse u.a. 1978: 10), durch ihren Aufgriff versprach
er sich eine Aufweichung der damals gegenwärtigen Tendenzen des Marxismus,
das Subjekt unter abstrakte Kollektivitäten unterzuordnen, und des Positivismus
und der verdinglichenden Theorie und Praxis der 2. Internationale. So begriff
er etwa den Strukturalismus Kautskys als Fetischierung der Wissenschaftlichkeit
des Marxismus. Heideggers Denken war in den 1920ern für viele gegen die leere
Abstraktheit der herrschenden Philosophie gerichtet und vermittelte den Anschein
einer nichtakademischen und einer auf das, was die Subjekte angeht, orientierten
Philosophie. Charakteristisch für den Einfluss Heideggers auf Marcuses Denken
sind etwa die Arbeiten zur „Phänomenologie des Historischen Materialismus
(MS 1: 347ff) und „Über konkrete Philosophie“ (MS 1: 385ff). Durch den Begriff
der Geschichtlichkeit habe Heidegger die Idee einer konkreten Philosophie
an die Tagesordnung gesetzt, „nach langen Abirrungen wird wieder gesehen,
dass Sinn und Wesen des Menschen in seinem konkreten Dasein beschlossen sind“
(MS 1: 362). Marxismus und HISTOMAT seien phänomenologisch zu begründen, um
den Menschen als geschichtliches Wesen zu verstehen, das zur „radikalen Tat“
(MS 1: 352) drängt. Heideggers Engagement für den NS brachte schließlich die
philosophische und persönliche Enttäuschung, Marcuse distanzierte sich immer
weiter. Während er in seiner Habilitation (MS 2) Heideggers Denken ausdrücklich
dankte und schon deren Titel den Einfluss nahe legte („Hegels Ontologie und
die Theorie der Geschichtlichkeit“), kommt der Name Heidegger in Marcuses
erstem englischen Buch „Reason and Revolution“ (1941) nicht mehr vor. Vor
allem auch die Veröffentlichung der Marxschen Pariser Frühschriften verdeutlichten
Marcuse, dass Marx Werk selbst eine konkrete Philosophie fundieren kann. Resultat
dieses Eindrucks war die Arbeit „Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen
Materialismus“ (MS 1: 509ff): Entäußerte und entfremdete Arbeit bedeute auch
eine Entfremdung des Menschen von seinem Wesen als geschichtliches, gegenständliches,
sinnliches, universelles, gesellschaftliches und durch freie Tätigkeit das
Gegebene potentiell aufhebende Wesen. Wesen und Existenz würden im Kapitalismus
auseinandertreten. Marx hatte also bereits in seinen Frühschriften die Grundlagen
für eine am Subjekt orientierte Philosophie geschaffen. In zwei Briefen an
Heidegger, warf Marcuse diesem 1948 seine Unterstützung der Nazis vor und
fragte ihn: „Sie, der Philosoph, haben die Liquidierung des abendländischen
Daseins mit seiner Erneuerung verwechselt? War nicht diese Liquidierung schon
in jedem Worte der „Führer“, in jeder Geste und Tat der SA lange vor 1933
offenbar?“ (Martin 1989: 157).
Anders schrieb 1948 über die „Schein-Konkretheit von Heideggers Philosophie“ , dass dessen Werk schon am Anfang der Konkretheit stecken bliebe. So seien etwa die Beispiele für das Zeug (Geräte) nicht moderne Technologien, sondern ländliche. Er nenne „die vom Menschen gemachten ‚Sorge-Instrumente’ von heute, die Wirtschaftssysteme, die Industrie, die Maschinen“ (Anders 1948: 83) nicht beim Namen und jene Mächte, „die im Laufe des wirklichen Lebens das ‚Dasein’ in seiner Freiheit berauben: die realen Machtverhältnisse“, seien ihm nicht der Rede wert (ebd.: 93). Heideggers Geschichtsbegriff unterschlage, dass der Großteil der Geschichte „Geschichte der Unfreien“ (ebd.: 101) ist, er ontologisiere die heutige Unfreiheit. Ähnlich hatte auch Marcuse sehr früh gegen Heidegger eingewandt, dass dessen Denken am „materialen Bestand des geschichtlichen Daseins“ (MS 1: 369) vorbeigeht. Zur Schein-Konkretheit hielt auch Marcuse fest, dass Heidegger so konkrete Begriffe wie Sorge und Existenz zu schlecht abstrakten Begriffen verflüchtigt habe (Marcuse u.a. 1977: 10).
Wir haben in dieser Arbeit verdeutlicht, dass es etliche Parallelen im Denken von Günther Anders und Herbert Marcuse gab, ohne die Differenzen zu verschweigen. Dies verdeutlicht auch die Tragik dessen, dass Anders’ Werk zeitlebens akademisch ignoriert oder belächelt wurde. Anders war Geheimagent der Masseneremiten, für die er geschrieben hat, ohne die gebührende Anerkennung für diese wichtige Agententätigkeit zu bekommen.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1942) Diskussion aus einem Seminar über die Theorie der Bedürfnisse. In: Horkheimer Gesammelte Schriften, Band 12. München. Fischer. S. 559-586
Anders, Günther (1948) Die Schein-Konkretheit von Heideggers Philosophie. In: Anders (2001). S. 72-115
Anders, Günther (1956/1980) Der antiquierte Mensch. Band 1+2. München. Beck (AM)
Anders, Günther (1979) „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?“. Ein Gespräch mit Günther Anders. In: Das Günther Anders Lesebuch. Zürich. Diogenes. S. 287-328
Anders, Günther (1987) Reicht der gewaltlose Protest. In: TAZ, 9.5.1987
Anders, Günther (2001) Über Heidegger. München. Beck.
Fuchs, Christian (2002a) One Dimensional-Man 2000. Zur Aktualität des Denkens Herbert Marcuses. In: Ders. Krise und Kritik in der Informationsgesellschaft. Arbeiten über Herbert Marcuse, kapitalistische Entwicklung und Selbstorganisation. Wien/Norderstedt. Libri Books on Demand. S. 68-77
Fuchs, Christian (2002b) Zur Aktualität ausgewählter Aspekte des Werks Herbert Marcuses. In: Ders. Krise und Kritik in der Informationsgesellschaft. Arbeiten über Herbert Marcuse, kapitalistische Entwicklung und Selbstorganisation. Wien/Norderstedt. Libri Books on Demand. S. 20-67
Marcuse, Herbert (1967) Der eindimensionale Mensch. München. dtv (EM)
Marcuse, Herbert u.a. (1978) Gespräche mit Herbert Marcuse. Frankfurt/Main. Suhrkamp
Marcuse, Herbert (1978ff) Schriften. Frankfurt/Main. Suhrkamp (MS)
Marcuse, Herbert
(1999) Marcuse Nachgelassene
Schriften 1. Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie (hg. v. P.-E. Jansen). Lüneburg. Zu Klampen.
Martin, Bernd (Hrsg.)
(1989) Martin Heidegger und das
‚Dritte Reich’. Darmstadt. Wiss.
Buchges.
Marx, Karl (1867)
Das Kapital. Band 1. Berlin. Dietz. MEW 23
Perrow, Charles (1987) Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt/Main. Campus
Autor:
Christian Fuchs, geb. 1976, Dr. Dipl.-Ing.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Wien, Veröffentlichungen: zuletzt „Krise und Kritik in der Informationsgesellschaft“ (2002, Libri BOD), „Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus“ (2001, Libri BOD)
[1] Diese Einschätzung aus dem Jahr 1980 bewahrheitet sich gerade auch im heutigen Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit
[2] Marcuse unterscheidet auch zwischen (repressiver) Freizeit als fortgesetzter Entfremdung und freier Zeit als Kategorie der „Autonomie gegenüber dem Produktions- und Distributionsapparat“ (1999: 56) in einer freien Gesellschaft.