Mail

Anmerkungen zu Produktivkraftentwicklung und Aufhebung

von Christian Fuchs

Der ursprüngliche Diskussionsbeitrag, auf den ich mich hier beziehe, findet sich hier. Der Artikel, von Stefan Meretz, auf den ich hier immer wieder zu sprechen komme, findet sich hier.

Ich kann vielem von dem, was Stefan Meretz in seinem Artikel über "Produktivkraftentwicklung und Aufhebung" (Meretz 2001) als Antwort auf Fuchs (2001a) formuliert hat, durchwegs zustimmen, möchte an dieser Stelle nochmals die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Argumentationslinien hervorheben und verdeutlichen.
Positiv erachte ich, dass S. Meretz versucht, den Produktivkraftbegriff nicht-reduktionistisch als Verhältnis zwischen Mensch, Mittel und Natur zu fassen. In der Tat wurde der Produktivkraftbegriff im Marxismus häufig verdinglichend auf rein technische Aspekte reduziert (so etwa bei Bucharin, Kautsky oder Plechanow). Ich verstehe unter Produktivkräften in Anlehnung an Marx ein System der lebendigen Arbeit und diese näher bestimmende subjektive, objektive und naturbedingte Faktoren begreifen. Diese Faktoren stellen nur in Kombination mit der lebendigen Arbeit Produktivkräfte dar. Der Produktivkraftbegriff ist also nicht reduzierbar auf einzelne Elemente des Systems der Produktivkräfte, er zeichnet sich durch emergente Eigenschaften aus. Das System der Produktivkräfte ist also mehr als die Summe seiner Teile. Unter subjektiven Produktivkräften (Marx 1857/58, S. 403) kann die Einheit von physischer Produktionsfähigkeit und geistigen Produktivkräften (ebd., S. 410) wie Qualifikation, Kenntnisse, Wissen, Erfahrung, Fähigkeiten und General Intellect (zu diesem Begriff vgl. Marx 1857/58, S. 602) verstanden werden. Objektive Produktivkräfte sind hingegen die nicht auf das Individuum bezogenen Faktoren des Arbeits- und Produktionsprozesses: z.B. Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstände, Wissenschaft, Technik, Arbeitsteilung, Kooperation, Vergesellschaftungsgrad der Arbeit. Im Kapital spricht Marx weiters von den naturbedingten Produktivkräften der Arbeit und betont immer wieder die zentrale Bedeutung der lebendigen Arbeit im System der Produktivkräfte.
Diese Faktoren stehen in einem sich historisch dynamisch wandelnden Verhältnis. So erleben wir im Kapitalismus durch den Widerspruch zwischen lebendiger und toter Arbeit etwa die massive Ersetzung von erster durch letzte, was wiederum einen Faktor der Krise des Werts darstellt. Der Mensch und sein Stoffwechsel mit der Natur sind m.E. in jeder Gesellschaftsformation der wesentliche Faktor des komplexen Systems der Produktivkräfte. Selbst in einem Reich der Freiheit wird es keine Vollautomatisierung und keine Weightless Economy geben, denn Gesellschaft benötigt immer das aktive Handeln der Hauptproduktivkraft Mensch sowie eine stoffliche Dimension der Produktion. Ich würde nun aber nicht sagen, dass in warenproduzierenden Gesellschaften die eigenlogische Entfaltung des Mittelaspektes - also die technische Dimension - die Produktivkraftentwicklung bestimmt. Vielmehr ist auch hier die menschliche Arbeit die ausschlaggebende Größe, während es hinsichtlich der Technik zu einer Zweck-Mittel-Verkehrung kommt, sie wird zum Selbstzweck, tritt dem Mensch als Mittel der Entfremdung, Ausbeutung und entpersonalisierenden Herrschaft entgegen, ist aber eine bewusst zur Mehrwertproduktion eingesetzte Kategorie, die nicht intendierte Folgen nach sich ziehen kann. Dass die lebendige Arbeit der wesentliche Bezugspunkt des Systems der Produktivkräfte ist, hebt auch Stefan Meretz (2000) immer wieder hervor, denn schließlich geht es tatsächlich um die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit. Der Unterschied in den Argumentationslinien besteht darin, dass ich nicht davon ausgehe, dass die technischen Mittel zu einem bestimmenden Element in diesem System werden können, sondern dass Technik zu einem Selbstzweck werden kann. Das System selbst fasse ich in Kategorien der lebendigen Arbeit, subjektiver, objektiver und naturaler Faktoren, S. Meretz spricht von einem Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Mittel. Beide Ansätze haben insgesamt mehr Gemeinsames als Trennendes, auch dadurch, dass sie sich grundsätzlich gegen einen Technikreduktionismus wenden.
Das Verhältnis von Technik und Gesellschaft ist ein wechselseitiges und dialektisches. Technikentwicklung ist einerseits ein gesellschaftlicher Prozess, Technikanwendung beeinflusst und verändert andererseits wiederum gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse, wobei sie durchwegs auch nichtintendierte Folgen mit sich bringen kann. Wird dieser Prozess auf die Wirkung von Technik auf Gesellschaft reduziert oder wird gesellschaftliche Entwicklung als zumindest vorwiegend technisch induziert angesehen, so können wir von einem Technikdeterminismus sprechen. Dieser verkennt in der Regel, dass Technik nur eine gesellschaftliche Kategorie ist, eine zweckmäßig orientierte Einheit der Mittel, Verfahren, Fertigkeiten und Prozesse , die notwendig sind, um definierte Ziele zu erreichen; eine Einheit, der ökonomische, politische und kulturelle Kategorien vorgelagert sind, wobei diese Einheit aber wiederum auf diese Kategorien zurückwirkt. Karl Marx hat es, ähnlich wie später etwa Herbert Marcuse oder Ernst Bloch, auf wunderbare Weise verstanden, das Verhältnis von Technik und Gesellschaft dialektisch zu begreifen. Das 13. Kapitel des 1. Band des Kapitals legt Zeugnis davon ab. Nur ein Beispiel: "Die von der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen existieren nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachsen, sondern aus ihrer kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität steigert, [...]" (Marx 1867, S. 465).
Eine Gefahr, die ich in der Diskussion um "Freie" Software sehe, ist nun, wie ich beobachtet habe, dass von aktuellen technischen und organisatorischen Entwicklungen häufig auf einen Automatismus der emanzipatorischen gesellschaftlichen Veränderung geschlossen wird. Die Folge sind Technikdeterminismus, Geschichtsmetaphysik und eine monokausale und eindimensionale Auflösung des Verhältnisses von Technik und Gesellschaft. Ich behaupte damit nicht, dass Stefan Meretz grundsätzlich technikdeterministisch argumentiert, da er durchwegs um Differenzierung bemüht ist, sondern dass in der Diskussion um "Freie" Software ein zu starker Technikoptimismus vorherrscht, der verkennt, dass es eine Ambivalenz gibt, die darin besteht, dass moderne technische Entwicklungen positive Möglichkeiten realisieren helfen können, andererseits aber auch zur Unterbindung von Realisierungsmöglichkeiten beitragen können. Leider reduziert aber auch S. Meretz an einzelnen Stellen das komplexe Verhältnis von Technik und Gesellschaft auf rein technisch induzierte gesellschaftliche Veränderungen. Ein solcher Faux pas ist auch bereits Marx passiert: "Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" (Marx/Engels 1846/47, S. 130). Meretz/Schlemm (2001, S. 49) schließen sich nun einer Aktualisierung dieses Zitates für die Informationsgesellschaft an: "Die vernetzte Mühle, sie ergibt eine Gesellschaft mit Sozialisten" (Göhring 1999, S. 130). "Ergeben" impliziert dabei aber einen technisch induzierten und monokausal determinierten Veränderungsprozess, der in eine qualitativ andere Gesellschaft führt. Verkannt wird, dass jede Technik durchwegs ambivalente Wirkungsweisen, verschiedene Anwendungen und Folgen nach sich ziehen kann und dass Technik nicht die historische Entwicklung bestimmt.
Ähnliches Bauchweh befällt mich, wenn in der Diskussion von einer GPL-Gesellschaft oder der "Freien" Software als Entwicklungsmodell für eine andere Gesellschaft gesprochen wird. Diese Kritik ist aber nicht verallgemeinerbar, da ja S. Meretz etwa auch betont, dass sich eine "Keimform" (zum Keimformbegriff siehe unten) nicht automatisch durchsetzt und dass Produktivkraftentwicklung nicht auf Technik reduziert werden kann.
Ich muss sagen, dass ich hinsichtlich allgemein-philosophischer Sichtweisen und auch spezifisch hinsichtlich des Technikbegriffs und der Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung stark vom Werk Herbert Marcuses beeinflusst bin. Marcuse (1966a) kritisiert Dialektiken der gesellschaftlichen Entwicklung, die davon ausgehen, dass sich negierende Kräfte, die die für das System spezifischen Antagonismen sprengen und zu einer neuen Stufe führen, innerhalb dieses Systems entwickeln. Es stellt sich dabei die Frage, ob in der hochentwickelten technischen Basis der kapitalistischen Produktion die materielle Grundlage für die Entfaltung der sozialistischen Produktivität gegeben ist.
Marcuse kritisiert nun, dass bei solchen Annahmen allzu oft von einer historischen Notwendigkeit einer fortschrittlichen, befreienden Weise ausgegangen wird und verkannt wird, dass es auch gesellschaftliche Kräfte geben kann, "die stark und materiell genug sind, um für eine ganze Periode die Gegensätze zu neutralisieren, zu suspendieren oder sogar die negativen, sprengenden Kräfte in positive zu verwandeln, welche das Bestehende reproduzieren anstatt es zu sprengen" (Marcuse 1966a, S. 197). Marcuse weist immer wieder darauf hin, dass bestimmte technische Entwicklungen zwar durchwegs Basis für die historische Stufe der Menschheit sind, "auf der diese technisch imstande ist, eine Welt des Friedens zu schaffen - eine Welt ohne Ausbeutung, Elend und Angst" (Marcuse 1965, S. 123). Genauso sei aber auch möglich, dass technische Entwicklung zur Ausbildung einer Standardisierung des Denkens und des Handelns, einer technologischen Rationalität, einem eindimensionalen und falschen Bewusstsein sowie falschen Bedürfnissen beiträgt (vgl. dazu z.B. Marcuse 1941, 1966b, 1967). Marcuse betont immer wieder diese Ambivalenz der Wirkungsweisen moderner Technologien, dass nicht determiniert ist, welche Entwicklung dominiert und dass sich grundsätzlicher gesellschaftlicher Wandel nicht notwendigerweise durchsetzt. So meint er etwa: "Ich möchte nochmals hervorheben, dass ich diese [technische] Entwicklung (noch) nicht bewerte: sie kann fortschrittlich oder regressiv, humanisierend oder fortschrittlich sein" (1966b, S. 172). Oder: "Die Technik selbst kann Autoritarismus ebenso fördern wie Freiheit, den Mangel so gut wie den Überfluss, die Ausweitung von Schwerstarbeit wie deren Abschaffung" (Marcuse 1941, S. 286).
Auch in Bezug auf die modernen Medien zeigt sich die von Marcuse angesprochene Ambivalenz der Wirkungsweisen. Einerseits haben wir es mit einer massenmedial vermittelten Erzeugung und Simulation von Hyperrealität zu tun, die durch die Zusammensetzung entkontextualisierter Symbole und Bilder manipulativ neue Bedeutungen generiert, um öffentliche Meinungen in bestimmter Weise zu lenken (Bsp. CNN-Berichterstattung im Golfkrieg oder unlängst bei der Schürung von Rache und Kriegslust in Bezug auf "America's New War"). In diesem Zusammenhang ist die in der Kritischen Theorie von Marcuse, Adorno und Horkheimer formulierte Kulturindustriethese richtig, die besagt, dass die Kulturindustrie falsches Bewusstsein, ein eindimensionales Massenbewusstsein (Marcuse 1967) und eine instrumentelle Vernunft (Horkheimer 1946) erzeugt. Die neuen Technologien werden genau in diesem Sinn funktional eingesetzt. Andererseits bietet sich gerade für Protestbewegung die Möglichkeit, die neuen vernetzenden Medien für ihre Selbstorganisation unterstützend einzusetzen (vgl. Fuchs 2001b). Die neuen Technologien widerspiegeln gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, nichtsdestotrotz ist eine produktive Aneignung durch Protestbewegungen möglich.
S. Meretz (2001) schlägt mit Bezug auf Klaus Holzkamp ein 5-Stufen-Modell für dialektische Entwicklungsprozesse vor. Für den gesellschaftlichen Prozess sollten meiner Ansicht nach die Erkenntnisse Marcuses stärker hervorgehoben werden: Dass nämlich die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins, emanzipatorischer Bedürfnisse, von Fähigkeiten und Kräften, die über die Lebensbedingungen der bestehenden Gesellschaft hinausweisen, von Autonomie und einer auf all dem ansetzenden Praxis wesentliche und notwendige Bedingung für die Realisierung einer Umwälzung historisch herangereifter Entwicklungen darstellt, das also der Mensch in Form der "revolutionären Klasse selbst" die größte Produktivkraft ist (MEW 4, S. 181) und es auf die "geschichtliche Selbsttätigkeit" (MEW 4, S. 490), also die Selbstorganisation der Menschen als umwälzender Praxis ankommt. Des weitern würde ich auch nachhaltig betonen, dass die gesellschaftliche Entwicklung ein offener Prozess ist, der viele Richtungen annehmen kann und dass "Keimformen" auch so gestaltet werden können, dass es zu keiner alternativen Entwicklung kommt, sondern dass das falsche Bewusstsein der Menschen und die bestehenden Verhältnisse stabilisiert werden.
Ich kann mir vorstellen, dass evtl. auch Stefan Meretz diesen Gedanken zustimmt, da ich vieles davon auch bei ihm in anderer Form formuliert finde. Der wesentliche Unterschied betrifft nun die Frage nach der Bewertung der "Freien" Software und nach dem Verhältnis von Innen und Außen. S. Meretz ist durchwegs zuversichtlich, dass diese ein Modell für eine neue Gesellschaft darstellen könnte. Ich stimme voll mit Aussagen überein, die betonen, dass eine andere Gesellschaft auf individueller Selbstentfaltung und sozialer Selbstorganisation basiert, solche Fragen sind auch für mich grundlegendes Thema meiner Arbeit (vgl. z.B. Fuchs 2001b). Auch S. Meretz' Aussage, dass Selbstentfaltung "nur denkbar und praktisch möglich in herrschaftsfreien gesellschaftlichen Vermittlungsformen" ist, unterschreibe ich voll und ganz, denn sie verdeutlicht den Zusammenhang von Selbstverwirklichung, -bestimmung, -organisation und herrschaftsfreiem Sozialismus, beides bedingt sich m.E. nach wechselseitig, eines ist nicht ohne dem anderen zu haben, kann aber auch nicht auf das jeweilige Andere reduziert werden.
Ich würde nun aber eher sagen - und eben in diesem Punkt wird mir S. Meretz nicht zustimmen -, dass die "Freie" Software im Sinn von Marcuse vorwiegend systemstabilisierend wirkt. Ich denke, dass die neuen Arbeitsformen großteils nicht die Selbst-Bestimmung des Menschen fördern, sondern neue ideologische Einbindungen ins System darstellen, die die Selbst-Entfremdung als objektiven Prozess weiter vorantreiben. Denn wer sich selbst bestimmen will, muss sich selbst sein und das Universum falscher Bedürfnisse und introjizierter Denkweisen transzendieren. Eben dies stelle ich aber in Bezug auf neue Arbeitsweisen und "Freie" Software nur in Randbereichen fest (interessant dazu sind etwa die wissenschaftlichen Studien zur "neuen", flexiblen Produktionsweise; eine gute Einführung gibt z.B. Parker/Slaughter 1993). Die Entwicklung ist auch hier nicht determiniert, aber meine Einschätzung lautet nichtsdestotrotz, dass eher Stabilisierung, denn Transzendierung stattfindet. Auch S. Meretz weist darauf hin, dass das Bewusstsein über ihr Tun in der FSW-Bewegung sehr gering ausgebildet ist. Gewiss werden Tätigkeiten in einer anderen Gesellschaft gewisse Elemente umfassen, die sich in mancher Hinsicht in heutiger Arbeit irgendwie andeuten. Wesentlich erscheint mir aber, dass kein linearer, deterministischer Übergang stattfindet und dass eine andere Gesellschaft eine Emergenz einer Unmenge an neuen Qualitäten von Arbeit und Technik mit sich bringen wird.
Wesentlich ist in Bezug auf grundlegenden gesellschaftlichen Wandel auch die Frage nach dem Unterschied und der Grenze zwischen Innen und Außen. Die Frage zielt darauf ab, ob eine bestehende Gesellschaft negierende Kräfte diese von innen oder von außen aufheben können und was unter diesen beiden Kategorien überhaupt zu verstehen ist. Marcuse (1966a) diskutierte diese Frage bereits und ich folge seiner Einschätzung. Er geht davon aus, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft negierende Kräfte gibt, die außerhalb des Systems auf dessen Aufhebung hin- und gegen dieses arbeiten. Außen versteht er "im Sinne von gesellschaftlichen Kräften, die Bedürfnisse und Ziele repräsentieren, welche in dem bestehenden antagonistischen Ganzen unterdrückt sind und in ihm nicht zur Entfaltung kommen können" (1966a, S. 198). Damit meint er also die potentielle revolutionäre Hauptproduktivkraft Mensch, die ihr Bewusstsein und ihre Praxis außerhalb des Systems stellen kann, dieses überschreiten und auf die Aufhebung des alten Ganzen hinarbeiten kann. Die "Keimform" umfasst also auch für Marcuse nicht gesellschaftliche Strukturen, sondern emanzipatorisches menschliches Bewusstsein, das aber in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zunehmend in das System-Innere absorbiert werde. Wie Marcuse gehe ich davon aus, dass die materielle Basis der Gesellschaft eine bestimmte Entwicklung erreicht haben muss, damit ein derartiges emanzipatorisches Außen grundsätzlich ins Reich der Freiheit führen kann. Den Unterschied zu S. Meretz sehe ich nun darin, dass dieser vorwiegend von einem materiellen und ökonomischen Außen ausgeht, während ich meine, dass ökonomische Prozesse sich im Kapitalismus vorwiegend Innen abspielen und politisch selbstorganisierte, auf Basisdemokratie und eine neue Gesellschaft abstellende Bewegungen am ehesten geneigt sind, sich selbst nach Außen zu wenden. "Freie Software" wird von Meretz als ein Organisationsprinzip begriffen, dass außerhalb der Verwertung steht, während ich eher zur Ansicht neige, dass es nur ein außerhalb der Verwertung in Form politischer Selbstorganisationsbewegungen gibt. Worin wir uns einig sein dürften, ist, dass die negierenden äußeren Kräfte nicht mechanistisch in eine andere Gesellschaft führen.
In Kritiken zu meinem Aufsatz in den Streifzügen (Fuchs 2001a) war immer wieder zu hören, dass es idealistisch sei, kritisches Bewusstsein außen anzusiedeln. Tatsächlich ist Subjektivität aber ein entscheidender Faktor der Marxschen und der Marcuseschen Subjekt-Objekt-Dialektik (vgl. Marcuse 1966c). Die inneren Widersprüche der Gesellschaft und die Entwicklung der Produktivkräfte vollziehen sich objektiv, es erfolgt aber nicht automatisch eine Entwicklung in Richtung eines sozial und ökologisch nachhaltigen Reichs der Freiheit. Dazu bedarf es emanzipatorischer Subjekte, die ein Klassenbewusstsein ausbilden und dieses in reale gesellschaftliche Kämpfe einbringen. Es ist nicht gewiss, ob sich dieses Bewusstsein überhaupt bilden kann und wie darauf aufbauende Kämpfe ausgehen. "die in den Widersprüchen verfangenen (materiellen und intellektuellen) Produktivkräfte werden frei zum Übergang in die ‚höhere' geschichtliche Form gesellschaftlichen Seins im bewussten Kampf mit den bestehenden Gewalten und den von ihnen bestimmten Interessen und Institutionen. Der Ausgang hängt von den Bedingungen der Möglichkeit dieses Kampfes und des sich in ihm entwickelnden Bewusstseins ab. Dazu gehört, dass seine Träger ihre Sklaverei und deren Gründe begriffen haben, dass sie ihre Befreiung wollen und die Wege dazu gesehen haben" (Marcuse 1966c). Diese Vorstellung schließt für Marcuse immer mit ein - und darin folge ich ihm -, dass bestehende Techniken nicht einfach in die neue Gesellschaft übernommen werden können, sondern dass sich eine Unzahl an neuen Qualitäten ergeben muss, um das Reich der Freiheit zu realisieren: "Die technische Transformation ist zugleich eine politische, aber die politische Änderung würde nur in dem Maße in eine qualitative gesellschaftliche Änderung übergehen, wie sie die Richtung des technischen Fortschritts ändern - das heißt eine neue Technik entwickeln würde. Denn die bestehende Technik ist zu einem Instrument destruktiver Politik geworden" (Marcuse 1967, S. 238).
Die biologische "Keimform"-Metapher finde ich nicht sonderlich angebracht, da dies eine relativ lineare und determinierte Entwicklung vom Keim zum Spross und schließlich zur fertigen Pflanze nahe legt. Besser gefällt mir die etwas anders gemeinte Kategorie des Rhizoms bei Gilles Deleuze und Félix Guattari (1977), die auf gesellschaftliche Selbstorganisationsnetzwerke hinweist, die durchwegs auch ein Außen konstituieren können, das einen emanzipatorischen Übergang einleitet (vgl. Fuchs 2001b, S. 153ff).
Verdeutlichen möchte ich noch, was ich unter "richtig" und "falsch" verstehe. Dass wir alle das System mittragen, da wir innerhalb dessen überleben müssen und daher gezwungen sind, zu arbeiten und zu konsumieren, ist eine simple Feststellung. Es ist aber ein qualitativer Unterschied zwischen notwendigen Systemzwängen (Konsum, Lohnarbeit usw.), und der Affirmation des Systems in jenen Theorien und Gedanken, die behaupten, es zu kritisieren und zu transzendieren. Wir alle müssen konsumieren und stabilisieren, müssen dies aber nicht als gut betrachten. Dies ist der wesentliche Unterschied. Vor allem postmodernistische politische Strategien begreifen ein reines Innen als Außen und formulieren politische Praxen, die auf Identität und Differenz basieren, die als dem System äußerlich begriffen werden, es aber tatsächlich von innen her affirmieren. Eine Weigerung in Gedanken ist immer möglich, reicht aber nicht aus, es muss sich immer auch emanzipatorisches Handeln anschließen. Obwohl wir uns innerhalb befinden, können wir gleichzeitig politisch außerhalb gegen das Innen für ein neues Ganzes agieren. Wir sind zwar alle IdiotInnen des Kapitals, gemeint war diese Kategorie aber anders: Nämlich in Bezug auf Strategien, die meinen, sich außerhalb zu stellen, die aber vorwiegend innerhalb stabilisierend wirken (können). Und dass sich in der FSW-Bewegung kaum kritisches Bewusstsein gebildet hat, steht außer Frage. Zum Begriff der "Wahrheit" meint Marcuse, dass ein alternativer Gesellschaftsentwurf dann wahr ist, wenn er mit den realen Möglichkeiten übereinstimmt, die die bestehende Gesellschaft als Basis bietet und wenn er die bestehende Totalität als falsch erweisen kann, indem er die Aussicht bietet, die Errungenschaften der Zivilisation zu erhalten und zu verbessern, das Wesen der bestehenden Gesellschaft erfasst und der Verwirklichung einer Befriedung des Daseins größere Chancen bietet (Marcuse 1967, S. 232). Marcuse bezeichnet diesen Wahrheitsbegriff auch als "historische Rationalität". Bewusstsein kann nur dann wahr sein, wenn ein Denken und eine sich daran anschließende Praxis historisch rational sind.
Abschließend möchte ich noch kurz etwas sagen zu einem von Annette Schlemm (2001) formulierten Einwand auf meine Feststellung, dass der Begriff "Freie Software" zynisch sei, da der Großteil der Weltbevölkerung so arm ist, dass er von Softwareproduktion noch nie etwas gehört hat oder andere Sorgen hat, die sich auf das unmittelbare Überleben beziehen: "Brauchen arme Menschen etwa keine Freiheit? Klar brauchen die Hungernden keine Software zum Sattwerden. Aber dies war auch nie mit "Freier Gesellschaft" gemeint" (Schlemm 2001). Hier fand eine Missinterpretation statt, denn kritisiert wurde von mir eine immanente und nicht eine transzendierende Verwendung des Freiheitsbegriffs. Ich stelle in Frage, dass es Freiheit in einer unfreien Welt geben kann. Aber natürlich tritt in einer freien Gesellschaft Muße an Stelle der Arbeit, geistige noch stärker an Stelle von materieller Arbeit, Feiertag an Stelle des Arbeitstages, nichtoperationelles Denken an Stelle der instrumentellen Vernunft, Solidarität an Stelle des Konkurrenzkampfes, Sinnlichkeit anstelle von Repression, sie umfasst des weiteren Elemente wie den Frieden als Dauerzustand, das Ende von materiellem und psychischem Mangel. Dies bedeutet auch die Entwicklung der Menschen zu allseitigen Individuen (vgl. Marx/Engels 1845/46, S. 424) in einer Gesellschaft, in der "Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." (Marx/Engels 1845/46, S. 33). Und das heißt natürlich auch: Luxus und Software für alle.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Diskussion um die Keimformhypothese zeigt, dass es umstritten ist, entlang welcher Linien sich das Innen und das Außen der Gesellschaft konstituieren. Erfreulich ist, dass es große Übereinstimmungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer auf Selbstorganisation und Selbstentfaltung basierenden Gesellschaft zu geben scheint. Auch darüber, dass sich das Außen durch Prozesse der Selbstorganisation konstituiert, scheint es noch einigermaßen ähnliche Ansichten zu geben. Was genau nun aber Selbstorganisation bedeutet und ob sich diese ökonomisch, politisch, kulturell oder technologisch bzw. in kombinatorischen Ensembles konstituiert, dazu gibt es verschiedenste Argumentationen, die zur Vertiefung der Einsichten in die Funktionsweise der gesellschaftlichen Entwicklung der Produktivkräfte, der materialistischen Dialektik und von Aufhebungsbewegungen beitragen können. Die Diskussion spielt sich des weiteren im Spannungsfeld der ambivalenten Wirkungen moderner Technologien ab, wobei es um die Frage geht, ob diese vorwiegend ein Moment der Einpassung der Individuen ins System darstellen, das dazu beiträgt, dass die Gesellschaft dazu tendiert, totalitär zu werden, oder ob sie eine neue Gesellschaft mitproduzieren helfen können oder diese gar antizipieren. Dieses Spannungsfeld stellt sich derart dar, dass die "Änderung der etablierten Richtung des Fortschritts einen grundlegenden sozialen Wandel bedeuten" würde, "aber sozialer Wandel setzt voraus, dass ein vitales Bedürfnis nach ihm besteht sowie die Erfahrung unerträglicher Verhältnisse und ihrer Alternativen - und eben dieses Bedürfnis und diese Erfahrung werden in der etablierten Kultur daran gehindert, sich zu entwickeln" (Marcuse 1965, S. 125).

Literatur:

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977b) Rhizom. Berlin. Merve

Fuchs, Christian (2001a) Die IdiotInnen des Kapitals. In: Streifzüge. Nr. 1/2001. S. 13-18


Fuchs, Christian (2001b) Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Wien/Norderstedt. Libri BOD

Göhring, Wolf (1999) Mittels Informations- und Kommunikationstechnik die Warenproduktion dialektisch aufheben? In: Becker, Jörg/Göhring, Wolf (Hrsg.) (1999) Kommunikation statt Markt. GMD Report 61. S. 129-140

Horkheimer, Max (1946) Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt/Main. Fischer.

Marcuse, Herbert (1941) Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologien. In: Herbert Marcuse Schriften Band 3: Aufsätze aus der "Zeitschrift für Sozialforschung". 1979. Frankfurt am Main. Suhrkamp. S. 286-319

Marcuse, Herbert (1965) Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur. In: Ders. Schriften, Band 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 115-135

Marcuse, Herbert (1966a) Zum Begriff der Negation in der Dialektik. In: Ders. Schriften, Band 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 194-199

Marcuse, Herbert (1966b) Das Individuum in der Great Society. In: Marcuse Schriften 8. S. 167-193

Marcuse, Herbert (1966c) Zur Geschichte der Dialektik. In: Ders. Schriften, Band 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 200-226

Marcuse, Herbert (1967) Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München. dtv. Neuauflage 1994

Marx, Karl (1857/58) Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin. Dietz. MEW, Band 42

Marx, Karl (1867) Das Kapital. Band 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Berlin. Dietz. MEW, Band 23

Marx, Karl/Engels, Friedruch (1845/46) Die deutsche Ideologie. Berlin. Dietz. MEW 3. S. 5-530

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1846/47) Das Elend der Philosophie. Berlin. Dietz. MEW, Band 4. S. 63-182

Meretz, Stefan (2000) LINUX&CO. Freie Software - Ideen für eine andere Gesellschaft. AG Spak

Meretz, Stefan (2001) Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. In: Streifzüge, 2/2001. S. 27-30

Meretz, Stefan/Schlemm, Annette (2001) Die freie Gesellschaft als Selbstentfaltungs-Netzwerk. In: Marxistische Blätter, 2/2001. S. 46-53

Parker, Mike/Slaughter, Jane (1993) Management-by-Stress: Die dunkle Seite des Teamkonzepts. In: Lüthje, Boy/Scherrer, Christoph (Hrsg.) (1993) Jenseits des Sozialpakts. Neue Unternehmensstrategien, Gewerkschaften und Arbeitskämpfe in den USA. Münster. Westfälisches Dampfboot. S. 50-64

Schlemm, Annette (2001) Hoch die internationale Selbstentfaltung! http://www.opentheory.org/internationale/v0001.phtml

 

Back to Main